Vereisung der Seele

Literarisches Debüt: Stefanie Sourliers Erzählungen „Das weiße Meer“

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was bringt ein elfjähriges Mädchen dazu, sich beharrlich das Leben nehmen zu wollen? Und warum ausgerechnet durch die Einnahme von Kupfersulfat? Die blauen Kristalle stammen aus dem Chemiekasten ihres Bruders Paul – vielleicht hängt es damit zusammen. Ein Jahrzehnt später jedenfalls verbindet die Geschwister eine rätselhafte, von Sprachlosigkeit geprägte Nichtbeziehung.

„Paul sitzt mir gegenüber und starrt an mir vorbei in das Blau des Schwimmbeckens. Er ist ganz blass, seine Haut sieht aus wie durchsichtiges Papier und wahrscheinlich fühlt sie sich auch so an, glatt und kühl. Aber das weiß ich nicht, ich habe meinen Bruder nie berührt, seit Jahren habe ich ihn weder umarmt noch geküsst oder auch nur seine kalte trockene Hand gehalten. Ich weiß nicht einmal, ob seine Hand kalt und trocken ist, ich kann es mir nur vorstellen.“ Minuten später wird der Bruder bewusstlos aus dem Wasser gezogen. Während der Bademeister um Pauls Leben kämpft, steht seine Schwester wie erstarrt im Hintergrund. Wie betäubt hört sie unter den Badegästen die Frage laut werden, ob jemand den jungen Mann kennt, und verliert sich in Erinnerungen an Kindheitstage, in denen sich die Geschwister deutlich näher standen als in der Gegenwart.

„Kupfersulfatblau“ ist die erste von neun Erzählungen der Schweizer Autorin Stefanie Sourlier. Ihre Texte wirken selbst ein wenig, als stammten sie aus einem Chemiekasten: Als würde jemand eine überschaubare Zahl an Motiven und Elementen immer neu kombinieren, darunter die narzisstisch-regressive Sehnsucht nach dem Einssein mit einem Bruder. Alle diese Ich-Erzählerinnen sind von einer eigentümlichen Gefühlserstarrung befallen, einer Vereisung der Seele. Es sind junge Frauen um die Zwanzig, die einander ähneln, ohne deshalb zwingend identisch zu sein. Die eine studiert in Manchester, eine andere ist Mutter von zwei Kindern, eine dritte wurde gerade von ihrer Freundin verlassen – sie alle aber leben wie unter Wasser. Mit aufgerissenen Augen lassen sie sich langsam dorthin treiben, wohin rätselhafte Lebensströme sie tragen wollen.

Unerhörte Ereignisse wie der Tod oder das Ende einer Liebe dringen nur gedämpft zu ihnen durch. Es gibt eine Stille innen, heißt es einmal, die mit keinem Frequenzzähler messbar ist. Sourliers feingewebte Prosastücke entstammen nicht nur diesem einsamen Ort voller verborgener Ängste und Abgründe – sie wollen ihre Leser auch eben dorthin führen. 2006 nahm die heute 22-jährige Schweizerin an der Autorenwerkstatt des Literarischen Colloquiums Berlin teil, einer Talentschmiede, aus der einst auch Judith Hermann hervorging. Heute studiert sie in Zürich Germanistik und Filmwissenschaften, ein erster Roman soll gerade in Arbeit sein.

Sourliers Figuren schweben beständig zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Ein ästhetisches Verfahren, das den Leser nötig, Stück für Stück Lebensgeschichten zu rekonstruieren, das allerdings auf Dauer ein wenig eintönig wirkt. Gelungen ist das feine Netz an motivischen Ähnlichkeiten, mit dem die Autorin ihre Geschichten verknüpft. In einer Geschichte wird die Katze der Erzählerin überfahren, in der nächsten beobachtet eine andere Frau eine Katze, die regungslos auf dem Gehsteig liegt. Ist es dasselbe Tier? Ist es ebenfalls tot oder noch lebendig? „Es gibt nur die Entscheidung zwischen Tod oder Nichtwissen“, heißt es einmal.

Von einem Kind wird gesagt, es sei leicht autistisch: Das scheint auch auf Sourliers Erzählerinnen zuzutreffen. Ihre jeweiligen Gesprächspartner erfahren viel, aber selten das Entscheidende. Wie in „Kupfersulfatblau“: Aus Langeweile spielt man „Einander-schlimme-Dinge-Erzählen“ und überbietet sich gegenseitig mit realen oder ausgedachten Horrorgeschichten. Das Schlimmste behält die Erzählerin jedoch für sich. Vielleicht ist es jene Begebenheit, von der die letzte Geschichte, „Unter Wasser“, berichtet: Zwei Kinder, Bruder und Schwester, haben sich eine eigene Sprache, Rosam, geschaffen und glauben, dem nahen Mondsee zu entstammen. Eines Tages gehen die beiden mit ihrem Geschwisterchen, das als Nachzügler der Familie ihre symbiotische Einheit stört, zum See, offenbar, um es zu ertränken. Sourliers poetische Sprache ist wie eine Hand aus dem Dunkel: Sie packt den Leser behutsam, aber unnachgiebig, um ihn dann hinab zu ziehen in die stillen Untiefen der Seele. Das beeindruckt und fasziniert, lässt einen am Ende aber auch ein wenig ratlos zurück.

Titelbild

Stefanie Sourlier: Das weiße Meer. Erzählungen.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2011.
169 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783627001735

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