Literatur und Realität

Die Festschrift für Wilhelm Kühlmann widmet sich der Literatur in ihren konkreten historischen Kontexten

Von Lukas WernerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lukas Werner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Verhältnis von Literatur und Leben ist nie ein einfaches. Die aristotelische Unterscheidung zwischen dem potentiell Möglichen der Literatur und dem tatsächlich Geschehenen der Geschichtsschreibung umreißt eine Denkfigur, die ebenso Poetiken wie die moderne Fiktionalitätstheorie beeinflusst hat. Obgleich der fiktionale Text reale und fiktive Motive kombiniert, bleiben die Aussagen des Erzählers Behauptungen über die erzählte Welt; sie sind keine Aussagen über die Welt (an sich). Das kategorial Andere literarischer Weltentwürfe, welches durch das häufig vorgebrachte Postulat einer ästhetischen Autonomie nochmals an argumentativer Schlagkraft gewinnt, lässt die Welt zurücktreten.

Dabei hat Literatur, so muss man einwenden, ihren eigenen ‚Sitz im Leben‘. Literarische Texte sind eingespannt in eine genuin pragmatische Grundkonstellation: Sie stellen eine raum-zeitlich versetzte Kommunikation zwischen Autor und Rezipient dar; sie entstehen in einem historisch spezifischen Kontext und sie werden in einem je anderen Kontext rezipiert. Ihre Bedeutungen gehen aus dem Spannungsfeld von Text und Kontexten hervor, ohne dass sich Literatur und Leben dabei auf eine binäre Opposition oder eine hierarchisierende Relation reduzieren ließen, wie Wolfgang Braungart in der Festschrift für Wilhelm Kühlmann betont: „‚Lebenswelt‘ ist jedenfalls nicht einfach der ‚Hintergrund‘ zum ‚Vordergrund‘ des konkreten literarischen Werkes.“ Den (vermeintlichen) Hiatus zwischen Leben und Literatur überwindet Braungart, indem er argumentiert, „[l]ebensweltliche Praxis“ sei immer auch „ästhetische Praxis“, und das, worum es gehe und was beide Bereiche zusammenbringe, sei die konkrete „Praxis“.

Die „konkreten historischen Kontexte“ – oder im Sinne Braungarts formuliert: die sozialen Praktiken – stellt die unter dem Titel „Realität als Herausforderung“ erschienene und von Ralf Bogner, Ralf Georg Czapla, Robert Seidel und Christian von Zimmermann herausgegebene Festschrift für Wilhelm Kühlmann ins Zentrum. Der Band vereint zweiunddreißig Beiträge renommierter Literatur- und Kulturwissenschaftler und sein thematisches Spektrum reicht von Fritz Peter Knapps Auseinandersetzung mit dem „Nibelungenlied“ über Robert Seidels Beschäftigung mit Martin Opitz’ (panegyrischen) Schriften auf Angehörige des polnischen Königshauses bis hin zu Helmuth Kiesels Rekonstruktion der Schriftstellerkorrespondenz im „Dritten Reich“.

Trotz der Themenvielfalt, die teils Wilhelm Kühlmanns eigene Arbeitsschwerpunkte wie die Literatur der Frühen Neuzeit (so etwa die Beiträge von Lutz Danneberg, Klaus Garber und Robert Seidel), Gottlieb Konrad Pfeffel (unter anderem der Beitrag von Achim Aurnhammer) und die Bedeutung des Katholizismus (so der Beitrag von Thomas Pittrof) abbildet, kristallisiert sich immer wieder die kontextorientierte Perspektive heraus. Wie fruchtbar eine Kontextualisierung sein kann, die den literarischen Text nicht als isoliertes, sondern als stets auf Welt (sei es nun in Form von Texten, Ereignissen oder Personen) reagierendes und sein Potential in ihr entfaltendes Phänomen versteht, führen die Beiträge dieses Bandes vor.

Sie zeigen, dass das weite Feld der konkreten historischen Kontexte eine ganze Reihe traditioneller und neuerer Arbeitsfelder der Forschung aufgreift. Dazu gehören die rezeptionslenkende Funktion von Paratexten, Bedeutungsgenerierung durch intertextuelle Verweise, die Relevanz des medialen Rahmens sowie Aspekte der Rezeption von literarischen Texten und die Praktiken der Akteure innerhalb des literarischen Feldes. Zweierlei wird dadurch eindringlich aufgezeigt: Literatur ist, erstens, historisch eingebettet; sie ist, zweitens, sowohl in einem synchronen als auch diachronen Sinne Teil gesellschaftlicher Interaktion.

Ganz im Sinne der ersten Position liest Dieter Breuer Kleists Novelle „Die heilige Cäcilie oder die Gewalt der Musik“ in ihrem real-historischen sowie medial-diskursiven Kontext. Als real-historische Folie der im ausgehenden 16. Jahrhundert spielenden Handlung fungiert für Breuer die Napoleonische Fremdherrschaft. Den Bogen zwischen dem 16. und dem beginnenden 19. Jahrhundert schlägt unter anderen die vom Kleist’schen Erzähler benutzte Wendung „die gute Stadt Aachen“, die eine Übersetzung des der Stadt von Napoleon verliehenen Ehrentitels „La bonne ville d’Aix-la-Chapelle“ ist. Vor dem Hintergrund dieser Anspielung wird die Stellung der Erzählung in den „Berliner Abendblättern“ interessant, denn dort erscheint sie im Verbund mit Texten, die die politisch-ökonomische Situation im napoleonischen Imperium kritisch beleuchten. Kleists Novelle stehe im Dialog mit den Texten des Staatstheoretikers und Nationalökonoms Adam Müller, dessen Tochter Cäcilie Kleist seine Erzählung „Zum Taufgebinde“ widmete: Breuer erkennt eine Korrespondenz in der kritischen Stoßrichtung von Müllers und Kleists Texten.

Hanspeter Marti, Achim Aurnhammer und Dieter Martin nehmen sich der sozialen Praktiken an, in die Literatur eingesponnen ist. Marti beleuchtet mit dem Gelegenheitsschrifttum nicht nur einen Texttypus, der ein wichtiges Element des gesellschaftlichen Umgangs in der Frühen Neuzeit war, sondern auch an der Schwelle zwischen Leben und Literatur steht, denn einerseits bezieht sich Kasualliteratur auf das Leben und andererseits überhöht sie dieses durch literarische Verfahren. Die Widmungsepistel Conrad Ritterhausens für die 1611 eingereichte Dissertation Andreas Paulls liest Marti zusammen mit einer vier Jahre älteren Elegie Ritterhausens als poetologische „Gattungskritik“: Vor dem Hintergrund der von Ritterhausen favorisierten Furorlehre wertet er in beiden Texten das Gelegenheitsschrifttum von nicht professionellen Schriftstellern als Anmaßung ab und vertritt damit eine kritische Position, wie sie erst um 1700 Verbreitung findet.

Ein ebenso dialogisches Verhältnis zwischen Texten rekonstruiert Achim Aurnhammer, indem er Gottlieb Konrad Pfeffels Gedicht „Meine Muse“ im Zusammenspiel mit der in der Tradition des Gelegenheitsschrifttums stehenden und 1804 erschienenen Festschrift zu „Herrn Pfeffel’s fünfzigjähriger Dichter-Periode“ interpretiert. Die Festschrift dokumentiert die soziale Rezeption Pfeffels und wird für den Schriftsteller selbst zum Impuls, auf seine Wahrnehmung zu reagieren: In Pfeffels Rollengedicht distanziert sich der Sprecher von der Ehre, die ihm zugesprochen wird, und verweist auf die Muse, die aber nicht als junge und hübsche Allegorie, sondern als – so der Gedichttext – „gutes Mütterchen“ erscheint.

Dieter Martin nimmt Georg Lukács’ provokante These, aus Stefan Georges Gedichten könnten auch noch Volkslieder“ werden, zum Anlass, um eine „textzentriert[e] Rezeptionsgeschichte“ zu verfolgen: Dabei zeigt sich, dass Georges Lyrik in gesellschaftlichen Sphären Verbreitung gefunden hat, von denen sich der Dichter selbst „habituell entschieden distanziert[e]“. Anhand der Einzelfallanalyse von Georges Spruchgedicht „Wer je die flamme umschritt“ illustriert Martin, wie das Gedicht noch in den 1910er-Jahren als Motto Eingang findet in zionistische Artikel und in den 1930er- und 1940er-Jahren dann einen Platz in nationalsozialistischen Anthologien hat. Das Fazit fällt entsprechend aus: Obgleich George nach 1933 als Person in den öffentlichen Diskussionen diskreditiert war, blieb die Rezeption seines Gedichtes (als Lied) davon unberührt. Oder – mit Blick auf den gesamten Band – allgemeiner formuliert: Literatur führt zwar ein Eigenleben, aber es ist kein Eigenleben im Sinne einer ästhetischen Autonomie, sondern eines der sozialen Aneignung.

Auch wenn in diesem Band die Frage nach den konkreten historischen Kontexten nicht theoretisch formuliert und en détail entwickelt wird, vermitteln die durch philologische und historische Akribie überzeugenden und erhellenden Einzelanalysen doch einen guten Eindruck von der Komplexität der Spannung zwischen Literatur und Realität, oder anders gewendet: jener zwischen der immer wieder beschworenen Autonomie der Literatur und den Kontexten, in die sie eingebunden ist. Von diesen Ergebnissen ausgehend drängt sich die Frage nach einer umfassenden pragmatischen Theorie literarischer Kommunikation auf, die die konkreten Kontexte der historischen Ausgangssituation (wie sie im Rahmen der Festschrift vornehmlich fokussiert werden) ebenso in den Blick nehmen würde wie die Möglichkeitsbedingungen des (wissenschaftlichen) Verstehens aus der Retrospektive. Doch dieses allgemeine Forschungsdesiderat der Festschrift vorzuwerfen, ginge an ihrem Sitz im Leben vorbei.

Denn der Band führt nicht allein vor, dass Literatur in spezifischen Kontexten entsteht und sich ihre Bedeutung mit dem Kontext wandelt: Die ‚Festschrift‘ ist jenes Format, das wie kein anderes das Anekdotische mit dem Wissenschaftlichen verbindet, Zeugnis ablegt von der Kontinuität einer respublica litteraria und von der Tatsache, dass auch wissenschaftliche Forschung ihren Sitz im Leben hat. Gemeint sind damit nicht die geläufigen Hinweise darauf, dass die eigene Forschung von jemandem angestoßen wurde, dass man Ideen gemeinsam diskutiert hat oder dass man Kollegen für nützliche Hinweise dankt. Gemeint ist, dass man, wie Klaus Garber, teils in Fußnoten versteckt kleine Geschichten über die konkreten historischen Kontexte wissenschaftlichen Arbeitens erzählt: Anekdoten über intellektuelle Gespräche bei einem „guten Jever-Pils“.

Titelbild

Robert Seidel / Ralf Bogner / Ralf Georg Czapla / Christian Zimmermann (Hg.): Realität als Herausforderung. Literatur in ihren konkreten historischen Kontexten.
De Gruyter, Berlin 2011.
600 Seiten, 129,95 EUR.
ISBN-13: 9783110253931

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