Ein wirklich extremistischer Ultra-Linker

Die „Ausgewählten Briefe 1957-1994“ zeigen den Situationisten Guy Debord als ätzenden Unsympath, disziplinierten Revolutionär und kulturpessimistischen Eigenbrötler

Von Stefan SchoppengerdRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Schoppengerd

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Die Autoren von Champ Libre“, formulierte Guy Debord 1979 für den Katalog seines Verlegers, „stellen mit Verwunderung fest, dass von Zeit zu Zeit ein Journalist auftaucht, der immer noch meint, eines ihrer Bücher ‚rezensieren‘ zu können, oder, noch schlimmer, der es wagt, dem Buch eigenmächtig eine Art Beifall zu spenden, um sich im Ruhm einer vermeintlichen Zugehörigkeit zu sonnen. Dabei kann er das doch allenfalls auf Basis einer Pseudo-Lektüre notdürftig vortäuschen. Die Autoren von Champ Libre erachten die ‚intellektuellen Arbeiter‘ der heutigen Presse natürlich ausnahmslos für bar jeder Intelligenz und jedes Anspruchs auf Wahrhaftigkeit, welche notwendig wären, um ein Urteil über ihre Schriften fällen zu können.“

Im Unterschied zu Zweifeln und Kompromissen waren Beleidigungen dieser Art Teil von Debords politischem Methodenrepertoire – sie kamen vornehmlich dann zum Einsatz, wenn Leute auf Abstand gehalten werden sollten, deren Selbsteinschätzung als Nahestehende, Verbündete oder Geistesverwandte nicht auf Gegenseitigkeit beruhte. Mit der größten Verachtung wurden jene bedacht, die Debord dem „pro-situ-Milieu“ zuordnete – dem Kreis der bloß passiven Bewunderer der Situationistischen Internationale (SI).

Den kleinen Zusammenschluss radikaler Intellektueller hatte Debord 1957 mit ins Leben gerufen (und, darauf pflegte er offenbar einen noch größeren Stolz, 1972 mit beerdigt). Einem Brief vom November 1989 lässt sich ein Beispiel für die Arbeitsweise der Gruppe entnehmen. Danach gefragt, was es mit den „Hamburger Thesen“ auf sich habe, auf die die SI in ihren Veröffentlichungen mehrfach verweist, schreibt Debord: „Im Grunde handelt es sich um bewusst geheim gehaltene Schlussfolgerungen einer theoretischen und strategischen Diskussion, die das gesamte Vorgehen der SI berührte. Diese Diskussion fand während zwei oder drei Tagen Anfang September 1961, in einer Reihe zufällig ausgewählter Hamburger Bars statt. Wir kamen überein, dass die einfachste Zusammenfassung dieser reichhaltigen und komplexen Schlussfolgerungen sich auf einen einzigen Satz zurückführen lässt: ‚Die SI muss, jetzt, die Philosophie verwirklichen.‘ Selbst dieser Satz wurde nicht niedergeschrieben.“ Mit anderen Worten: Eine Handvoll linker Bohèmiens geht auf Sauftour, denkt sich eine Anspielung auf den jungen Karl Marx aus und erklärt es aus Gründen des formalen Radikalismus für geboten, nichts schriftlich festzuhalten.

Alles nur ein großer Spaß, um Bürger und „Stalinisten“ zu foppen? Mitnichten. Die Briefsammlung zeigt noch eine andere, diszipliniertere Seite von Debords politischer und theoretischer Arbeit. Ein guter Teil der Texte ist Einschätzungen der politischen Lage in Algerien, Frankreich, Spanien und  Portugal gewidmet: Lohnt sich ein Eingreifen in die stattfindenden Bewegungen? Mit welchen Parolen und Forderungen? In welcher Form? Über die SI hat Debord andernorts gesagt: „Was wir gemacht haben war, Öl dorthin zu bringen, wo Feuer war.“ In vielen der Briefe lässt sich detailliert nachvollziehen, wie diese Versuche, Unruhe anzuheizen, geplant und durchgeführt wurden.

Die raren und flüchtigen Momente, in denen dieses Unterfangen glückte, kommentiert Debord enthusiastisch. Als am 1. Mai 1974 der gleichnamige Film zu seinem Buch „Die Gesellschaft des Spektakels“ in Paris uraufgeführt worden war, berichtet er am nächsten Tag an einen Freund, die Veranstaltung sei „triumphal“ verlaufen. Während weder die „Stalinisten“ – Debords Sammelbegriff für größere linke Organisationen – noch andere linke Grüppchen irgendetwas nennenswertes zum Tag der Arbeit auf die Beine gestellt hätten, sei das Kino überfüllt gewesen: „Der Film wurde an diesem Tag also zur wichtigsten Demonstration der wirklich extremistischen Ultra-Linken.“ Auf der Strasse vor dem Kino legte sich das Publikum, welches vorwiegend in den Pariser banlieues zuhause war, mit der Polizei an, und die Kinobetreiber hätten sich nicht entscheiden können zwischen der Freude über den großen Umsatz und dem Erschrecken vor ihrem Publikum: „Es versteht sich von selbst, dass sie in all den Jahren, in denen sie ihre ‚qualitativ hochwertigen‘ modernistischen Filmemacher zeigen, niemals ein so zahlreiches Publikum gesehen haben; aber auch niemals eines mit so grauenvollen Visagen. Ich bin also sehr zufrieden.“

Unter den zahlreichen historischen und ideengeschichtlichen Vergleichen, die er anstellt, und unter den Literaten und Theoretikern, auf die Debord sich bezieht, fällt einer auf, der besonders bleibenden Eindruck hinterlassen haben muss: Carl von Clausewitz, der preußische Militärtheoretiker. Dieser wird nicht nur häufig zitiert und Freunden zur Lektüre empfohlen – offenbar bewog er Debord auch, sich neben Buch und Film an einem weiteren Medium zu versuchen, als er ein komplexes Brettspiel entwickelte, das er in aller Schlichtheit „Kriegsspiel“ taufte. Obwohl es Gegenstand mehrerer Briefe an seinen Verleger ist, kam das Projekt jedoch nie zur Veröffentlichung.

Je jünger die Briefe, desto geringer werden die Spuren revolutionärer Hoffnung. Stattdessen greift eine pessimistische Kulturkritik Raum. In einer Kritik der „Immigrantenfrage“ und der Rede von „kulturellen Verschiedenheiten“ schreibt er 1985: „Welche Kulturen? Es gibt keine mehr. Sprecht nicht über Abwesende. Es gibt, wenn man einen Moment lang der Wahrheit und Offenkundigkeit ins Auge sieht, nur noch den global-spektakulären (amerikanischen) Verfall aller Kultur überhaupt.“ Als Phänomen dieses Verfalls sieht er nicht zuletzt die Industrialisierung der Lebensmittelproduktion. In einem längeren Text hierzu erklärt er die endgültige Durchsetzung warenwirtschaftlicher Logik in diesem Sektor gar zur Ursache weiterer Verfallserscheinungen: Verschlechterung von Lebensmitteln durch industrielle Herstellung gehe einher mit dem Verfall von Sinnlichkeit und der Vernebelung des Geistes.

Zu diesem Zeitpunkt hatte er längst begonnen, seinen früheren Lebensmittelpunkt Paris so gut es ging zu meiden. Zu sehr war ihm die nie gewollte Rolle als prominenter 68er-Veteran zuwider; auch konnte er die Veränderungen in der Metropole im Rahmen seiner Spektakeltheorie wohl nur als extremen Ausdruck allgemeiner Verdummung und Abstumpfung wahrnehmen. „Ich weiß nicht, ob ich den Mut haben werde, eines Tages dorthin zurückzukehren; ehrlich gesagt, alles was mich noch dorthin lockt, ist die Gegenwart meines Therapeuten in dieser Ex-Stadt.“ Kurze Zeit später nahm er sich, schwer krank, das Leben.

Titelbild

Guy Debord: Ausgewählte Briefe. 1957-1994.
Übersetzt aus dem Französischen von Bernadette Grubner, Roman Kuhn, Birgit Lulay, Christoph Plutte.
edition TIAMAT, Berlin 2011.
334 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783893201525

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