Frohe Botschaft aus der Psychiatrie

Martin Walsers Roman „Muttersohn“

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Vor zwanzig Jahren hätte ich so ein Buch überhaupt nicht schreiben wollen und auch nicht schreiben können“, bekannte Martin Walser kürzlich in einem Interview mit der „Rheinischen Post“. Tatsächlich ragt der neue Roman „Muttersohn“ nicht nur wegen seiner Opulenz aus dem Walser-Œuvre heraus. Es ist ein Buch, das von einer bisher nicht gekannten Altersmilde geprägt ist, durch und durch versöhnlich im Grundtenor und dabei ganz stark religiös-philosophisch untermalt. Das klingt staubtrocken und gedankenschwer. Ist es aber ganz und gar nicht. Trotz vieler tiefsinniger aphoristischer Gedankensplitter erleben wir einen sprudelnden Erzählfluss mit vielen Nebenfiguren, Handlungsschlenkern und Anekdoten.

„Du bist geleitet. Du bist ein Engel ohne Flügel“, redet Josefine (genannt Fini) Schlugen ihrem Sohn Anton Percy ein und erklärt ihm früh, dass zu seiner Zeugung kein Mann nötig gewesen sei, dass er mithin ein besonderes Wesen ist, ein Auserwählter und vor allem ein „Muttersohn“. Percy (Jahrgang 1977), der von einem Pfarrer am Weihnachtsabend nach einem Autounfall vor dem Tod gerettet wurde, wird Krankenpfleger im psychiatrischen Landeskrankenhaus Scherblingen und entwickelt dort außergewöhnliche, von den Ärzten geschätzte Fähigkeiten. „Zwei Empfindungen waren Percy fremd: Furcht und Ungeduld.“ Seine Ausdauer als „schweigender“ Therapeut und sein später erwachendes rhetorisches Talent bringen ihm rasch eine respektable Berühmtheit ein. Irgendwie ist Percy immer bestrebt, das durch die Vaterlosigkeit entstandene Loch in seiner Biografie aufzufüllen. Vor laufenden TV-Kameras wird er mit der Frage konfrontiert: „Dass Sie mit Nazareth konkurrieren ist Ihnen bewusst?“

Seine Mutter Fini, die zweite Hauptfigur des Romans, hatte viel Pech im Leben. Als Säugling wollte ihre Mutter sie sterben lassen, sie musste sich später stets allein als Schneiderin durchbeißen und erlebte mit den Männern stets Schiffbruch. Dem angebeteten einstigen 68er Aktivisten Ewald Kainz, dem sie auf einer Demo einmal die Manuskriptblätter hielt, schrieb sie eine Menge Briefe. Abgeschickt hatte sie keinen, nur dem Sohn Percy hat sie später daraus vorgelesen. Wie biografische Vermächtnisse, wie einen abgeschlagenen Ast des Familienbaums behandelt Fini die gehorteten Briefe an Ewald. Auch ihren späteren Lebensgefährten Hugo Schwillk hatte Fini über einen regen Briefwechsel kennen gelernt. Dieser Schwillk, der sich in einer Mischung aus Verehrung und Wahn nach dem Dichter Arno Schmidt benennt, entpuppt sich als alkoholsüchtiger Prügler, der in seinen hellen Momenten Arno Schmidts Werk rauf- und runter zitiert – ähnlich wie in Uwe Timms letzter Erzählung „Freitisch“. An der Seite von Mutter und Sohn Schlugen tummelt sich ein buntes Figurenensemble: schillernde und schräge Charaktere wie der intrigante Dr. Bruderhofer, der tugendhafte Pfarrer Studer, die Therapeutin Frau Dr. Breit oder der dem männlichen Geschlecht zugeneigte Schneider Tonino Konetzni. Die wichtigste Rolle neben den Schlugens spielt jedoch Professor Augustin Feinlein (Protagonist der jüngst erschienenen schmalen Walser-Novelle „Mein Jenseits“), der feingeistige, leicht esoterische Leiter des Landeskrankenhauses, passionierter Reliquienforscher und Percys Mentor.

Hinter den Kulissen der psychiatrischen Klinik tobt ein von Walser mit viel Liebe zum Detail („Ist das ein Unterschied, ob sie Stimmen hört oder so tut, als höre sie welche?“) geschilderter erbarmungsloser Machtkampf zwischen Dr. Bruderhofer und Professor Feinlein um die Krankenhausleitung.

Und Percy betätigt sich in seiner Rolle als Therapeut sogar gleichzeitig noch als biografischer Spurensucher. Er soll einen hoffnungslosen Fall übernehmen, einen Suizid-Patienten, der sich allen Therapieversuchen widersetzt: Ewald Kainz, der einstige Angebetete seiner Mutter, die sich ihrerseits als Ahnenforscherin in eigener Sache betätigt und am Ende ihrem Sohn voller Stolz („Adel ist eine Wesenserweiterung.“) berichtet, dass die Familie seit 1488 adelig sei.

In der Psychiatrie werden ganz eigene Wahrheitsebenen entdeckt, die geistige Entindividualisierung und mannigfaltige Formen der Selbstauflösung gehören zum Klinikalltag. Zwischen Wahn und Wirklichkeit, zwischen klinischer Psychiatrie und Religion entwickelt sich eine Art geistige Parallelwelt, ein Leben im Konjunktiv. Immer wieder streut Walser brillante aphoristische Splitter in die Handlung ein, die man sich gedanklich einzeln auf der Zunge zergehen lassen muss: „Der unterdrückte Teil in uns ist erst das, was uns zu Menschen macht“, „Ich schaue weg, wenn das Leben an mir vorbei geht“, „Glauben heißt, die Welt so schön machen, wie sie nicht ist.“

Am Ende lässt es Walser dann über Gebühr krachen. Der introvertierte Feinlein muss die Klinikleitung an Dr. Bruderhofer abgeben, weil er sich des Reliquiendiebstahls schuldig gemacht hat. Schlussendlich landet er als Patient in der Klinik, die er jahrzehntelang leitete. Eine aberwitzige Wendung! Aber auch der tugendhafte Percy, eine Art Jesus des frühen 21. Jahrhunderts, gerät auf Abwege. Er lässt sich von einem nationalkonservativen Internet-Zirkel (mit dem Stinkefinger als Wappen) vereinnahmen, und es fallen Schüsse. Mehr soll an dieser Stelle nicht verraten werden.

Martin Walser hat mit „Muttersohn“ noch einmal völlig neues thematisches Terrain betreten. Abseits von den ausgetretenen Leidenspfaden seiner bekannten Mittelstandsprotagonisten hat er eine leicht hagiografische, manchmal gespenstisch-rätselhafte Handlungsatmosphäre inszeniert. Auf die Frage, ob er seinen Roman als literarisches Evangelium betrachte, hatte Walser jüngst geantwortet: „Frohe Botschaft, das ist es für mich wirklich geworden.“ Also – eine frohe Botschaft aus der Psychiatrie, eine erzählerische Versöhnung von Realität und Wahn, von Alltag und Religion, von Träumen und Neurosen.

Titelbild

Martin Walser: Muttersohn. Roman.
Rowohlt Verlag, Reinbek 2011.
505 Seiten, 24,95 EUR.
ISBN-13: 9783498073787

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