Raumgewordene Vergangenheit in grellem Licht und düsteren Winkeln

Isabel Kranz entfaltet Walter Benjamins „Poetologie der Geschichte“

Von Katja HachenbergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Katja Hachenberg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Benjamins Zeitform ist nicht das Perfekt, sondern das Futurum der Vergangenheit in seiner ganzen Paradoxie: Zukunft und doch Vergangenheit zu sein.“

(Peter Szondi, Hoffnung im Vergangenen: Über Walter Benjamin.)

Die Beobachtung Theodor W. Adornos, dass Benjamins philosophische Arbeiten nicht als System, nicht als freischwebende Entwürfe auftreten, sondern sich als Kommentare und Kritik von Texten formten, bildet den Ausgangspunkt der 285 Seiten starken, im Wilhelm Fink Verlag erschienenen und von der DFG, dem DAAD sowie der Universität Erfurt geförderten Dissertation Isabel Kranz‘. Kranz‘ Erkenntnisinteresse gilt den Zusammenhängen von Benjamins Lektüren von Texten und Materialien und der Herausbildung seiner Geschichtsphilosophie. Korpus der Betrachtung ist der Werkkomplex der Pariser Passagen.

Kranz‘ Lektüre der Benjamin’schen Passagenarbeit ist durch eine Betrachtungsweise strukturiert, die nach Joseph Vogl „die Herstellung von Wissensobjekten und Aussagen“ unmittelbar mit der Frage nach deren Inszenierung und Darstellbarkeit verknüpft. Lege man eine Poetologie der Geschichte, also des historischen Wissens, bei Benjamin zugrunde, so bedeute das, die Sinnproduktion des Schreibens und Lesens mit der Produktion von Geschichte zu parallelisieren, wie dies in Benjamins Aufzeichnungen nicht nur thematisiert, sondern zugleich vorgeführt werde. Geschichte als sprachliche Darstellung des Gewesenen zeigt sich damit immer schon poetischen Verfahren verpflichtet: In und durch Sprache wird das Gewesene zu Geschichte und zur Wissenschaft eben dieser Geschichte. Das Benjamin’sche Textkorpus zu den Passagen in einer solchen geschichtspoetologischen Dimension zu verstehen bedeutet laut Kranz, Benjamins Texte zur Geschichte auf ihre poetische Struktur hin zu untersuchen und so den Verfahren auf die Spur zu kommen, die ein Phänomen zu einem historischen Gegenstand machen.

Kranz‘ Studie praktiziert eine Methode des „close reading“, um sich dem Textbestand interpretatorisch anzunähern: Ihr Blick gilt der Benjamin’schen „Begriffsarbeit“, der Genese und Entfaltung bestimmter Begriffe und Denkfiguren. Benjamins Aufzeichnungen werden dabei als poetische und poetologische, als literarische und theoretische Texte zugleich aufgefasst. Erst im Durchgang durch die Zitate und Bilder, die Benjamin für seine „Urgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts“ zusammenstellte, könne seine Version einer „materialistischen Geschichtsschreibung“ nachvollzogen werden.

Benjamins Geschichtsverständnis zeigt sich eng an ein Paradigma des Räumlichen gebunden: Zeit schreibt sich durch verschiedene Spurensysteme in den Raum ein, dieser wiederum, konstatiert Kranz, „stellt sich einer der Physiognomie verpflichteten Lektüre“ als Objekt dar, an dem Vergangenheit ablesbar wird. Mit der Wahl eines vielseitig ausdeutbaren architektonischen Raums – den Pariser Passagen – als Dreh- und Angelpunkt seiner Auseinandersetzung mit der Moderne knüpfe Benjamin die Verbindung zwischen Raum und Geschichte.

Anhand der Passagen, der Stadt Paris und des bürgerlichen Interieurs als Geschichts-Räumen entfaltet Kranz Benjamins Poetologie der Geschichte. Nach einem kurzen Überblick über die Genese der Benjamin’schen Passagenarbeit folgt eine Untersuchung der Textgestalt sowie der „Schreib- und Ordnungspraktiken“ Benjamins. Im Zentrum der sich anschließenden Kapitel steht die Frage nach der Verknüpfung von Geschichtsproduktion und Geschichtsschreibung in den Passagenaufzeichnungen, wobei Text- und Stadtraum als ineinander gewobene Konzepte gedacht werden. Kranz‘ leitende Arbeitshypothese ist, dass Geschichtlichkeit bei Benjamin sich durch das Zusammenspiel von Textraum und architektonischem Raum gekennzeichnet sehe. Außerdem wird die Benjamin’sche Poetologie der Geschichte genauer hinsichtlich ihrer zeitlichen Dimension konturiert. Ausgehend von drei verschiedenen Zukunftsentwürfen, die Paris und die Passagen in den Benjamin’schen Aufzeichnungen exemplifizieren – der ökonomischen, der utopischen sowie der vergangenen Zukunft – wird die enge Verbundenheit von Geschichtlichkeit und Raum nachvollzogen.

Die Passagen erweisen sich, so Kranz, als Räume, an denen sich zentrale Probleme und Themen ihrer Zeit kristallisieren. In ihnen lagern überkommene Waren, sie beinhalten „raumgewordene Vergangenheit“, die wiederum in Form von Zeitschichten lesbar werde: „Sie sind Hohlräume, eingebunden in ein komplexes Zusammenspiel von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“. Darüber hinaus verräumlichen sie, jenseits des physischen Raums, bestimmte Erkenntnismodi – und werden damit zu einer epistemologischen Grundlage des Benjamin’schen Denkens.

Eine Lektüre der Benjamin’schen Aufzeichnungen als Poetologie der Geschichte, bemerkt Kranz, könne keine eindeutige Definition dessen vorlegen, was Benjamin unter dem Begriff der Geschichte verstehe. Für seine Geschichtsbetrachtung halte Benjamin vielmehr unterschiedliche Metaphern und Denkfiguren bereit, die „begriffsartig“ verwendet würden. Geschichtsphilosophie sei bei Benjamin nicht in Form von philosophischen Thesen zu haben: Nur anhand des Materials, das Benjamin für seine Auseinandersetzung mit dem 19. Jahrhundert herangezogen habe, könne seine Geschichtsauffassung nachvollzogen werden. Die heterogene Materialbasis seines Projekts – literarische und historiografische Texte, populäre Zeitschriften, Reiseführer und so weiter – bilde keine Vorstufe zu einer wie auch immer gearteten ‚reinen‘ Geschichtsphilosophie Benjamins, sondern sei untrennbar mit seiner Theorie verbunden. In der methodologischen Ankündigung, „den Abfall, die Lumpen verwenden“ zu wollen, bringe Benjamin sein geschichtsphilosophisches Programm auf eine Formel, die zugleich ihre Verstrickung ins Material reflektiere. So sei  Benjamins Verwertung des Abfalls des 19. Jahrhunderts dreifach zu verstehen: als kollektive Psychoanalyse, als surrealistisch inspirierte Lumpensammlerei und als Auseinandersetzung mit dem eigenen bürgerlichen Selbst. Die Geschichtsphilosophie Benjamins sehe sich als in einem stetigen Prozess der Erkenntnisgewinnung begriffen, den der Leser mit durchlaufen dürfe. Immer aber gehe es dabei auch darum, einen eigenen Zugang zu Benjamins Denken zu finden.

Kranz‘ Studie überzeugt durch ihren klaren, stringenten Aufbau sowie durch ihre hoch reflektierte, souverän gehandhabte Begrifflichkeit. Die Arbeit hält für eine interessierte Leserschaft eine Fülle von Aspekten bereit. Keinesfalls aber ist sie leicht zu lesen: Man hat sich auf ein dicht gewebtes, terminologisch wie gedanklich hoch aufgeladenes Textgewebe einzulassen – eine Lektüre mithin, die Zeit und Intensität einfordert. Und die sich selbst gleichsam räumlich vollzieht: Man hat die Kapitel – lesend – als Räume zu durchschreiten.

Eine Kritik hat diese von Bettine Menke und Winfried Menninghaus betreute Arbeit also zunächst grundlegend und umfassend zu würdigen. Das heuristische Konzept einer engen Verzahnung von Text, Raum und Geschichte, einer doppelten Kodierung der Passagen als architektonische Form und als Textstelle ist gelungen, konsequent und überzeugt.

Es sind nur einige wenige Aspekte kritisch anzumerken: Kranz geht in ihrer Arbeit hermeneutisch-exegetisch vor, sie „befragt“ die vorhandenen Materialien, „ordnet“ sie „ein“, „deutet“ sie „aus“. Es fragt sich, ob dieses sinn-konstituierende Vorgehen den fragmentarisch-dekonstruktiven, montagehaften Verfahrensweisen Benjamins angemessen ist.

Auch: Wie hat eine wissenschaftliche Arbeit auf die poetisch-bildhafte Dimension der Benjamin’schen Texte zu reagieren? Ist dieser wichtigen Dimension rein diskursiv-logizistisch beizukommen? Wünschenswert wäre zudem eine Reflexion auf „Sprachmagie“ und „Sprachmystik“ (Menninghaus) bei Benjamin sowie auf das Genre beziehungsweise die Erkenntnisform des „Denkbilds“ gewesen. Auch eine Diskussion von Metapherntheorien im Zusammenhang mit der Raummetaphorik hätte die Arbeit noch bereichern können. Weiter: Es erscheint problematisch, Benjamins Aufzeichnungen als literarische und theoretische Texte zugleich auszulegen – ohne Reflexion des nicht nur graduellen Unterschieds beider Textformen und -welten. Letztlich: Wie sieht es mit der Vermischung imaginativ-fiktionaler und ‚realer‘ Elemente im Hinblick auf eine Schreibung – das heißt sprachliche Inszenierung – von Geschichte aus? Was macht die besondere Qualität einer geschriebenen, das heißt auch: erzählten, poetisierten Geschichte aus? Liegt im Geschichteten des Geschichtlichen bereits das zu Erzählende beschlossen? Allgemein: In welchem Verhältnis zueinander stehen Poetizität und Historizität?

Titelbild

Isabel Kranz: Raumgewordene Vergangenheit. Walter Benjamins Poetologie der Geschichte.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2011.
285 Seiten, 34,90 EUR.
ISBN-13: 9783770551088

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