Pioniere der Globalisierung

In „Die großen Seefahrer und Entdecker“ stellt Jules Verne die Verwestlichung der Welt in Form von Abenteuergeschichten dar

Von Behrang SamsamiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Behrang Samsami

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Entdecken und kartografieren, in Besitz nehmen und exploitieren – so könnte in Kürze die Entwicklung der westlichen Kolonialisierung der Welt im Laufe der Frühen Neuzeit und Moderne beschrieben werden. Insbesondere die beiden, miteinander konkurrierenden Großmächte Frankreich und Großbritannien schickten im 18. und 19. Jahrhundert eine große Zahl an Schiffen auf die Weltmeere, um die verbliebenen dunklen Flecken auf dem Globus zu erkunden und die Ergebnisse der meist mehrjährigen Unternehmungen für sich nutzbar zu machen: Es wurden geo- und hydrografische, ethnologische und soziologische, botanische und zoologische Studien betrieben wie zugleich Kontakt zu den „Eingeborenen“ gesucht, reger Handel mit ihnen getrieben und auf politischer Ebene Frieden mit den (lokalen) Machthabern geschlossen.

Die Expeditionen, beispielsweise eines James Cook (1728-1779), die wissenschaftlich wie ökonomisch auf Dauer große Erfolge darstellten, wurden nach der Rückkehr der Seefahrer und Forscher meist in Form von Reiseberichten einem größeren Publikum nahe gebracht. Dessen Neugierde für das Exotische und eigene Abenteuerlust, aber auch ein positivistisch wie materialistisch geprägter Forschrittsglaube in Zeiten der Industriellen Revolution führte dazu, dass sich dieses Genre im 18. und 19. Jahrhundert seinerseits großer Beliebtheit erfreute. Sicherlich auch, weil die Teilnehmer der Expeditionen nicht selten als Leitbilder galten. Sie wurden als Pioniere, als willensstarke und opferbereite Helden verehrt, die den Ruhm der eigenen Nation vergrößert hätten.

„Die großen Seefahrer und Entdecker“ von Jules Verne (1828-1905) ist für eine solche Einstellung ein gutes Beispiel. Das neu aufgelegte Buch des berühmten französischen Schriftstellers, das eine Auswahl aus seinen 1879 und 1880 erschienenen Werken „Les grands navigateurs du XVIIIe siècle“ und „Les voyageurs du XIXe siècle“ darstellt, ist ein Loblied auf die wissenschaftliche Entdeckung und wirtschaftliche Eroberung des Globus durch die westlichen Seemächte. Die Lektüre verdeutlicht, wie stark der Glaube zu Vernes Zeit daran war, durch die Taten der Seefahrer und Forscher die Basis für eine prosperierende Zukunft aller – unter der Ägide der Europäer – geschaffen zu haben.

Vernes große Kompilation ist dabei anschaulich geschrieben. Um keine reine Nacherzählung zu liefern, zitiert er oft aus den Reiseberichten der Abenteurer. Und so werden dem Leser die Fahrten und Kulturkontakte mit den Fremden Schritt für Schritt nahe gebracht und ihm die bis dahin unbekannten Regionen auch erzählerisch erschlossen: In „Die großen Seefahrer des 18. Jahrhunderts“, dem ersten Teil des Bandes, stehen neben Cooks Reisen die französischer Seeleute wie Jean François de La Pérouse (1741-1788) und Etienne Marchand (1755-1793) im Fokus. Danach wird die Erforschung des Inneren von China sowie Nord- und Südamerikas thematisiert. Letztere durchgeführt von Alexander von Humboldt (1769-1859), den der französische Schriftsteller für seine umfassenden Studien lobt und in dem er den „ausgebildete[n] Typus des gelehrten Reisenden“ verkörpert sieht.

Der zweite Teil „Die großen Entdecker des 19. Jahrhunderts“ behandelt die Reisen und Geheimmissionen von Europäern in Vorderasien sowie Indien. Denn diese erforschten dort (oft auch als muslimische Pilger oder Kaufleute verkleidet) nicht nur schwer zugängliche Regionen, sondern spionierten zugleich auch die Völker und Herrscher aus, um ihr Wissen der britischen Regierung zur Verfügung zu stellen. Nach Asien wendet sich der Blick dann auf die „Erforschung und Kolonisierung Afrikas“, worin wieder die Briten die Vorreiter bildeten. Drittens sind es die ebenfalls meist mehrjährigen Polar-Expeditionen, die von den Teilnehmern physisch und psychisch viel abverlangten, mit denen Jules Vernes Sammlung von Abenteurergeschichten komplettiert wird.

Durch die hohe Anzahl und Ähnlichkeit der Reisen bleibt es nicht aus, dass die Kompilation Wiederholungen aufweist. Dies wird jedoch durch die lebendige Schilderung der abenteuerlichen Ereignisse durch den Erzähler wettgemacht – vor allem aber dadurch, dass Verne präzise vorstellt, wie sich die von ihm gerühmten Pioniere der Globalisierung benahmen. Die Auszüge aus den Reiseberichten geben hierbei einen spannenden Einblick in ihre Denk- und Verhaltensweise. Der Leser geht mit auf Fahrt, lernt die Fremde aus der Perspektive der Westler kennen und beobachtet die Behandlung der Ureinwohner, genauso wie er auch von der Aufnahme der Weißen durch die „Natives“ erfährt.

Die Kehrseite dieser Erfolgsgeschichte ist – das macht der Erzähler allerdings auch deutlich – vielfach Scheitern: Schiffe kommen in Not, müssen ihre Fahrten ergebnislos abbrechen und heimkehren oder geraten in einen Sturm und gehen unter. Erreichen die Seefahrer und Forscher aber ihr Ziel, führen nicht selten Missverständnisse zu Konflikten, die Misstrauen schaffen und denen auf beiden Seiten Menschen zum Opfer fallen. Die meisten Begegnungen sind jedoch friedlicher Natur. Neugierde und Faszination sind stärker und das Bedürfnis, eigene Waren abzusetzen und exotische Produkte zu erwerben. Genauso groß ist auch der Wunsch, Ruhm zu erlangen, sich neues Wissen anzueignen und fremde Länder in Besitz zu nehmen.

Jules Verne ist in seiner Darstellung dieser Ereignisse ein Kind seiner Zeit. Er lobt die Taten der Abenteurer als Pionierleistungen auf dem Weg zu der von ihm rein positiv gedeuteten Rationalisierung, Kommerzialisierung und Globalisierung der Welt: „An uns ist es, die von unseren Vätern um den Preis so unendlicher Mühen und Gefahren eroberte Erdkugel nun auszunützen, ihr erst den vollen Wert zu geben. Die Erbschaft ist zu verlockend, um nicht mit frohen Händen zuzugreifen! An uns ist es, mit allen durch die vorgeschrittenen Wissenschaften gebotenen Hilfsmitteln zu studieren, urbar zu machen und auszubeuten! Jetzt darf es keine brachliegenden Gebiete, keine undurchdringlichen Wüsten, keine unbenützten Flüsse, keine unergründlichen Meere, keine unersteigbaren Höhen mehr geben!“

Charakteristisch für das Zeitalter des Imperialismus, wird die Inbesitznahme, Bewirtschaftung und Ausbeutung der fremden Territorien durch die Europäer in den von Verne zitierten Reiseberichten nicht selten mit einer geringen Arbeitsleistung infolge eines fehlenden Bewusstseins dafür, aber auch mit einer gewissen geistigen Unterlegenheit und also Hilfsbedürftigkeit der „Eingeborenen“ begründet. Der Autor von „Die großen Seefahrer und Entdecker“ widerspricht dieser Ansicht nicht grundsätzlich. Und wie seine Zeitgenossen teilt er auch den großen Technikkult, in dem viele im 19. Jahrhundert den Schlüssel zur Überwindung der Probleme der Welt gefunden zu haben glaubten. Die negativen Auswirkungen der Verwestlichung und Modernisierung für die Kolonisierten zu sehen, waren sie dagegen allerdings oft nicht willens oder imstande.

Betrachtet man Jules Vernes Kompilation schließlich aber noch auf andere Weise, im Zusammenhang mit seinen berühmten Werken, treten erstaunliche Parallelen zutage. Der französische Autor, der als einer der „Väter der Science-Fiction“ gilt, war zugleich ein guter Kenner der englischen und französischen Reiseliteratur und ein aufmerksamer Beobachter der technischen Entwicklungen im 18. und 19. Jahrhundert. Und es ist ihre Verknüpfung, von dem Schriftsteller literarisch gekonnt hergestellt, die einen Großteil seines Erfolgs zuerst in Europa und dann später auf der ganzen Welt ausgemacht hat.

Da aber zu seinen Lebzeiten fast alle dunklen Flecken auf dem Globus bereits entdeckt waren, verlegte Verne die Settings seiner Romane daher immer wieder in bis dahin noch immer wenig erforschte, exotische Regionen der Erde (wie etwa in „Reise um die Welt in achtzig Tagen“ und „Der Kurier des Zaren“), dann in die Erde („Reise zum Mittelpunkt der Erde“), ins Wasser („20 000 Meilen unter dem Meer“) und auch außerhalb des Planeten („Reise von der Erde zum Mond“ und „Reise um den Mond“). So gesehen, kann die vorliegende, nichtfiktionale Sammlung von Abenteuern westlicher Seefahrer und Entdecker auch als eine „Fingerübung“ für Jules Verne bezeichnet werden. Sie ermöglichte ihm ein weiteres Mal, die exotistischen Erwartungen seiner Leser zu befriedigen, zugleich aber auch sie in der problematischen Auffassung zu bestätigen, dass die Verwestlichung der Welt scheinbar Hand in Hand gehe mit der „Vervollkommnung“ der Menschheit, kurz gesagt, für alle nützlich und also gerechtfertigt sei.

Titelbild

Jules Verne: Die großen Seefahrer und Entdecker. Eine Geschichte der Entdeckung der Erde im 18. und 19. Jahrhundert.
Übersetzt aus dem Französischen von Claudia Schmölders.
Diogenes Verlag, Zürich 2011.
500 Seiten, 12,90 EUR.
ISBN-13: 9783257214017

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