„Jux meiner Synapsen“

Nina Jäckles Roman „Zielinski“ erzählt vom Verlust des Ich

Von Anton Philipp KnittelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anton Philipp Knittel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Zu jeder außerordentlichen Befindlichkeit gibt es das passende Krankheitsbild mit passender Medikamentierung, man würde schnell wissen, was nicht stimmt, welches Rezept zu verschreiben wäre. Ich muss Ruhe bewahren“, notiert der Ich-Erzähler Schoch in Nina Jäckles neuem Roman „Zielinski“.

So einfach stellt sich die Geschichte für den Protagonisten allerdings denn doch nicht dar. Gleichsam aus heiterem Himmel zieht eines Tages ein neuer Untermieter bei ihm ein, nachdem er sich zunächst brieflich mit der Bitte „Kümmern Sie sich um nichts“ ankündigt hatte. Der ungebetene Gast namens Zielinski macht sich in einer mit königsblauem Samt ausgeschlagenen Holzkiste im größten Zimmer von Schochs Wohnung breit – ähnlich wie der Feuerwehrmann in „Die Herrenausstatterin“ von Mariana Leky. Dabei ist Schochs Welt schon Tage vor der Begegnung mit seinem ‚geliebhassten‘ Antagonisten aus den geordneten Bahnen geworfen, weshalb er sich selbst zur „Vermeidung von Wut“ anhalten muss: „Wut über die Nachbarin und über all die anderen Nachbarn und Nachbarinnen. Wut darüber, dass einem so schnell die Gründe für das eigene Tun und das Tun der anderen ausgehen“.

Vor dem drohenden Ich-Verlust versucht Jäckles Held sich anfangs noch zu beruhigen, immer wieder die Temperatur messend, um festzustellen, dass er kein Fieber hat und auch nicht traurig ist: „Es gibt erschreckend viele Krankeitsbilder. Um genau zu sein, gibt es wohl zu fast jedem Seinszustand ein passendes Krankheitsbild, ein unendliches Repertoire an deutbaren Symptomen steht jedem von uns zur Verfügung. Man sollte sich nicht schlau machen, man sollte nicht zu gut Bescheid wissen über die mannigfaltige Auswahl an Defekten.“

Während Schoch sich immer mehr abhanden kommt, sich im „Chaos der nicht gesprochenen Worte“ einer „nicht mehr sortierbaren Masse“ einrichtet, scheint der elegante und stets wie aus dem Ei gepellt auftretende Zielinski, der trotz seiner Vornehmheit ab und zu rabiat mit einem Stock zuschlägt, sich in seiner königsblauen Kiste allmählich sogar „vergrößern“ zu wollen.

Gleichwohl versucht Schoch sich gegen seinen Untermieter, den „Jux meiner Synapsen“, zu wehren, wenn er Ordnung, Halt gewinnen möchte, indem er sich an seine Schwester, die „sehr gut organisiert ist“, zu erinnern bemüht und sich sogar ermahnt: „Ich sollte nicht vergessen, dass der Keim vom Wirt abhängt. Je mehr Raum ich Zielinski überlasse, desto mehr hängt Zielinski von mir ab. Erkläre ich mich bereit, ihm zur Verfügung zu stehen, bin ich es, der Zielinski Macht gewährt. Das sollte ich nicht vergessen, das zu wissen verändert meinen Tonfall gegenüber mir selbst.“

Doch mit der Revolte und der Idee, Zielinski müsse „beiseite geschafft werden“, ist es nicht weit her. Bestimmt doch Zielinski sein Denken komplett: „Du denkst über blaue Kleidung nach, es ist noch ein wenig Samt übrig, du hast Samtreste in Zielinskis Kiste liegen sehen. Du denkst über Wimpel nach. Samtwimpel in Zielinskikönigsblau.“

Auch eine Flucht ans Meer scheitert, reist doch Zielinski in Schochs Gedanken mit: „Du weißt plötzlich, dass du keine Möglichkeit hast, dich zu wehren, dass du vermutlich niemals mehr ohne Zielinski sein wirst.“ In knappen, eindringlichen Abschnitten skizziert Jäckle in intensiven Bildern das Mosaik eines Ichzerfalls, eine Reise in den Wahn. Dessen „Plausibilität“ wird nicht durch das Wissen „entstellt“, dass „ich mir alles plausibel machen kann“, wie Schoch mutmaßt. Im Gegenteil, dieses unterstreicht die Plausibilität und verstärkt die Beklemmung, das Gefühl des Eingeengtwerdens und des unaufhaltsamen Ich-Verlusts. So ist „Zielinski“ zwar ein schmaler, aber gleichwohl lesenswerter, weil poetischer Roman (in königsblauem Einband) einer phantastischen und faszinierenden „Welt ganz eigener Logik“.

Titelbild

Nina Jäckle: Zielinski. Roman.
Klöpfer, Narr Verlag, Tübingen 2011.
186 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-13: 9783863510022

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