Korruption als Kultur

Wladimir Makanin erzählt in seinem Roman „Der Benzinkönig“ vom Geschäft mit dem Krieg im Kaukasus

Von Daniel HenselerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Henseler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In seiner Erzählung „Der kaukasische Gefangene“ (1994) schildert Wladimir Makanin eine Begebenheit während eines kriegerischen Konflikts im Nordkaukasus. Ein russischer Oberst und sein „Gast“, ein Vertreter einheimischer Rebellen, die gegen die russische Zentralmacht kämpfen, sitzen fast schon freundschaftlich beim Tee und führen Verhandlungen. Der Russe erhofft sich vom kaukasischen Ältesten Lebensmittel für seine Soldaten; dieser verlangt als Bezahlung Waffen aus den Beständen der russischen Armee. Nach einigem Wortgeplänkel werden sich die beiden handelseinig. Diese Schlüsselszene wirft ein Licht auf den Krieg im Kaukasus und legt dessen Absurdität bloß: Es ist offensichtlich, dass die Rebellen die eingehandelten Waffen später gegen die Russen einsetzen werden.

Das Geschäft mit dem Krieg: Davon handelt auch Makanins (geboren 1937) neuester Roman „Der Benzinkönig“. Der Autor scheint von der Konfliktregion Kaukasus nicht ablassen zu können. Das ist ihm hoch anzurechnen, denn es gibt in Russland genügend Menschen – einfache Bürger ebenso wie Politiker und Journalisten – , die vor der Wirklichkeit die Augen verschließen. Manche würden den Kaukasus lieber weiterhin wie in guten alten (sowjetischen) Zeiten mit dem Schönen und Angenehmen verbinden, mit majestätischen Bergen und georgischem Wein, mit erholsamen Ferien am Strand und südlicher Lebensfreude. Doch davon berichtet Makanin nicht. Sein Interesse gilt immer wieder der jahrhundertealten Verstrickung Russlands mit dem Kaukasus, wobei er gerade die schwierigen Momente der gemeinsamen Geschichte nicht ausblendet. Makanin zeigt auf, wie Russland in vielerlei Hinsicht ein Gefangener des Kaukasus ist, genauso wie der oben erwähnte Offizier, dessen Soldaten letztlich vom Wohlwollen des kaukasischen Abgeordneten abhängen.

Im Zentrum des Romans steht ein russischer Offizier in Tschetschenien, der sich im Krieg eingerichtet hat. Im früheren, zivilen Leben Baumeister, fungiert der nunmehr über 40-jährige Major Alexander Schilin in einem Vorort von Grosny als Lagerverwalter bei der russischen Armee. Gemeinsam mit zwei Mitstreitern hat er ein System entwickelt, das ihn zum unbestrittenen „Benzinkönig“ des Kriegs gemacht hat: Statt die Treibstoffvorräte zu bewachen, verkauft er sie nämlich an die Kriegsparteien, wobei die russischen föderalen Verbände ebenso zum Zug kommen wie deren Feind, die tschetschenischen Rebellen. Bei den Transaktionen macht Schilin Gewinn – jedes zehnte Fass verbucht er für sich selbst. Den Erlös kann er bestens gebrauchen, denn daheim, irgendwo an einem mittelrussischen Fluss, lässt er gerade ein neues Haus für sich und seine kleine Familie bauen. Hier, aber wirklich fast nur in diesem Vorhaben, ist noch die Spur einer Hoffnung übrig geblieben, es könnte irgendwann wieder ein Leben nach dem Krieg geben.

Schilin kann sein Geschäft rechtfertigen. Er ist überzeugt, dass er dazu beiträgt, das Chaos im Kaukasus zu vermindern. Der Korruption gewinnt er folgerichtig auch Gutes ab: „Korruption bedeutet bereits ein gewisses Niveau. Ist schon eine gewisse Kultur – wie einer der Stabsgeneräle einmal vor aller Ohren sagte.“ Und Schilin ist sich seiner zentralen Stellung im labilen Gefüge des Kriegs durchaus bewusst: „Ich bin ein Halbgott. Und der Diesel ist mein Ambrosia.“ Er weiß aber auch um seine Grenzen: Vom Waffenhandel lässt er lieber die Finger, da er diesen für zu gefährlich hält. Gleichzeitig alimentiert Schilin aber den Krieg immer weiter, wenn er allen Seiten stets das liefert, was sie gerade brauchen. Schilin schafft und unterhält ein Gleichgewicht, das allen zupass kommt. Am steten Weiterschwelen des Kriegs haben die meisten Beteiligten ein vitales Interesse.

Das kaukasische Thema hat in der russischen Literatur eine lange Tradition, und Makanin stellt seinen Roman ganz gezielt in diese Ahnenreihe. Schilin hieß bereits eine der beiden Hauptgestalten in Lev Tolstojs „Der kaukasische Gefangene“ (1872). Makanins Schilin heißt mit Vor- und Vatersnamen sodann Alexander Sergejewitsch, was wiederum der Vor- beziehungsweise Vatername Puschkins ist, der den Kaukasus als Thema der russischen Literatur im 19. Jahrhundert wirkungsmächtig etabliert hat. Diese und andere Anspielungen auf die literarische Vergangenheit dürften die Funktion haben, den Roman immer wieder in der Tradition zu verorten. Dadurch werden bestimmte „klassische“ Motive der russischen Kaukasusliteratur in Makanins Roman noch akzentuiert. Besonders das Gefangensein, die unauflösbare Verstrickung Russlands mit dem Kaukasus, wird weiter hervorgehoben.

Einige russische Literaturkritiker haben Makanin vorgeworfen, in seinem Roman würden die Figuren ständig Mobiltelefone benutzen; dabei gebe es Hinweise darauf, dass die Handlung im ersten Tschetschenienkrieg in den 1990er-Jahren spiele, als diese Technologie noch kaum verbreitet war. Hier wollte man also einen Konstruktionsfehler des Romans ausgemacht haben. Doch lässt sich dieser Widerspruch auflösen, wenn man Zeit und Ort des Geschehens allegorisch auffasst: Makanin schildert in seinem Roman eine Art zeitlosen, „ewigen“ Tschetschenienkrieg. Gerade dieses Überzeitliche ermöglicht es, den Roman auch grundsätzlich zu lesen: als eine mehrfache Parabel nämlich, auf den Krieg, auf die Kommunikation, aber auch auf Russland selbst. Makanin gibt eine Reihe von Fragen zu bedenken: Was ist der Krieg im Kaukasus? Wie kommt es, dass er ständig am Leben erhalten wird? Wer sind die Profiteure dieser Lage? Wieso kommunizieren alle die ganze Zeit miteinander, ohne das sich die Kriegsparteien wirklich näher kommen? – Die Korruption, die den von Makanin geschilderten Krieg kennzeichnet, kann in einer solchen allegorischen Lesart auch auf Russland selbst bezogen werden. Dann wäre Makanins Roman auch ein Kommentar zu der russischen Gesellschaft, Wirtschaft und Politik insgesamt.

Makanins Roman ist vielleicht ein wenig lang ausgefallen, manches wiederholt sich und die geschilderten Szenen aus dem Krieg gleichen sich. Doch unterstreichen die Langatmigkeit sowie das Repetitive des Romans andererseits auch wieder die Ausweglosigkeit des Kriegs. Wichtig erscheint an diesem Roman aber vor allem das Fazit: Wladimir Makanin verschließt nicht nur nicht die Augen vor der unangenehmen Realität im Kaukasus, sondern er suggeriert auch, dass der Konflikt in Tschetschenien möglicherweise sehr viel über den Zustand Russlands selbst aussagt.

Titelbild

Wladimir Makanin: Benzinkönig. Roman.
Aus dem Russischen übersetzt von Annelore Nitschke.
Luchterhand Literaturverlag, München 2011.
480 Seiten, 22,99 EUR.
ISBN-13: 9783630873183

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