„Sturz in die Moderne“ oder „Im Wettkampf mit Kleist“

Über Wilhelm Amanns informative Kleist-Einführung

Von Anton Philipp KnittelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anton Philipp Knittel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Spätestens seit 1977, als sich Heinrich von Kleists Geburtstag zum 200. Mal jährte, boomt die Literatur über den „armen Kauz aus Frankfurt (Oder)“, so der Untertitel der 2010 als Heft 78 erschienenen – historisch überaus informativen – Schrift „Die Mark Brandenburg. Zeitschrift für die Mark und das Land Brandenburg.“ Seit mehr als einem Jahrzehnt scheint sich die Forschung zu Kleist und seinem Werk in einem geradezu atemberaubenden Tempo zu beschleunigen, wenn nicht gar in einem unglaublich produktiven Wettstreit zu befinden. Wegweisende Werke wie László F. Földényis „Heinrich von Kleist. Im Netz der Wörter“ (1999), Klaus Müller-Salgets Reclam-Band (2002), Jochen Schmidts in Teilen polemische Studie (2003) gegen dekonstruktivistische Ansätze in der Kleist-Forschung seien hier ebenso beispielhaft genannt wie etwa die aus dem Jahre 2007 datierenden Monografien von Jens Bisky, Gerhard Schulz und Herbert Kraft. Überschrieb Wilhelm Amann seine Besprechung der Bisky’schen Studie im Kleist-Jahrbuch 2010 angesichts dieser Sachlage zu Recht mit „Im Wettkampf mit Kleist“, so gilt dieser Befund derzeit mehr denn je.

Denn rechtzeitig zum diesjährigen Kleist-Jahr, das aus Anlass seines 200. Todestages vor allem in seiner Geburtsstadt Frankfurt (Oder) und am Todesort Berlin – aber nicht nur dort, sondern auch beispielsweise in Krakau, Thun und einigen weiteren Städten, wie die zentrale Homepage www.heinrich-von-kleist.org informiert – mit Ausstellungen und Symposien begangen wird, liegen einige weitere wichtige Kleist-Monografien vor. So unter anderem von Amann selbst, dessen „Heinrich von Kleist“ Band 49 der Suhrkamp BasisBiographie-Reihe ist. Und um es gleich vorweg zu sagen, Amann liefert auf knapp 160 Seiten – anschaulich, verständlich und schnörkellos geschrieben – konzise und verlässliche Information zu „Leben, Werk, Wirkung“ des „mehrmals von neuem und in unterschiedlichen Rollen auf der Bühne des literarischen Lebens“ erschienenen Dichters, wie Hans Joachim Kreutzer, der frühere Präsident der Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft, in seiner ebenfalls 2011 in der C. H. Beck’schen Reihe „Wissen“ erschienenen knappen Einführung einleitend schreibt.

Amann, einige Jahre wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Brandenburger Kleist-Ausgabe, skizziert unter der Überschrift „Sturz in die Moderne“ einleitend „Kleists Modernitätspotential“, das „in den Variationen einer Identitätskrise greifbar“ sei, „die Leben und Werk zu einer paradoxen Einheit zusammenzwängt“. Hierin trifft sich Amann beispielsweise mit der genannten Studie von Herbert Kraft, der das Thema Selbstbestimmung in seine in 52 kleine Kapitel untergliederte Untersuchung in den Mittelpunkt stellt.

Nach diesem Konsens der Forschung mit Kleist als visionärem Vorläufer der Moderne und „eigentlichem Blutsverwandten“ von Franz Kafka widmet sich Amann, dem Anspruch der Suhrkamp-Reihe folgend, in drei unterschiedlich langen Kapiteln „Leben“, „Werk“ und der „Wirkung“. Zahlreiche schwarz-weiß-Abbildungen sowie kommentierende und zusammenfassende Randglossen nebst hervorgehobenen Zitaten aus Briefen und Hinweisen von Zeitgenossen kommen dieser klaren Gliederung zugute und erleichtern zusätzlich die Orientierung.

Historisch chronologisch folgt Amann den Lebensspuren Kleists, unterteilt in sechs Abschnitte, während beispielsweise Bisky sieben Lebensphasen ausmacht, was Amann in der eingangs erwähnten Besprechung als inkonsequent kritisiert, da sie weniger der ‚inneren Biografie‘ als den äußeren Daten geschuldet seien.

Den ersten Abschnitt widmet Amann der „Kindheit und Jugend in Preußen“ mit den Unterkapiteln „Adel verpflichtet“ – „Als Soldat im Dienst der preußischen Armee“ – „Jahre verloren, Freunde gewonnen“. Der zweite Abschnitt gilt dem „Lebensplan (1799-1801)“ mit der Studentenzeit in Frankfurt, der Verlobung mit Wilhelmine von Zenge, der Skizze der Halbschwester Ulrike und der Ratgeberin Marie von Kleist, der geheimnisumwitterten Würzburger Reise und der „Kant-Krise“, die ob nun Kant- oder Fichte-Krise jedenfalls eine Sprachkrise ist und für Amann zum Ausgangspunkt der Kleist’schen Modernität wird: „Modern ist Kleists Werk, weil es kein unbeschwertes oder – in seiner Diktion – unschuldiges Verhältnis zur Sprache mehr besitzt. Wo die Sprachnot übermächtig erscheint, wird Sprache selbst, auch in ihrer Materialität als Schrift, zum Thema seiner Dichtung. Diese produktiven Dimensionen der Kant-Krise erschließen sich natürlich erst rückblickend. Die kantischen Motive dienten Kleist zur Objektivierung eines bis dahin nur unzureichend erfassten Zustands des Selbstzweifels. Ganz praktisch entzog er sich durch die Berufung auf seine philosophische Entdeckung aber auch allerlei Verpflichtungen“, umreißt Amann die Probleme knapp.

Kapitel drei in der Skizze des Kleist’schen Lebens gilt den „Aufbrüche(n) und Abbrüche(n) (1801-1804)“, der „nomadische(n) Existenz eines besitzlosen Adligen“, der das Reisen als Daseinsform pflegt und mit seinem „Guiskard“ scheitert.

Den vierten Lebensabschnitt Kleists überschreibt Amann mit „Staatsdiener, Dichter, Deportierter (1804-1807)“ mit einem Kleist, der sich nach dem „persönlichen Zusammenbruch“ zunächst „um Anschluss an eine in geordneten Bahnen verlaufende, bürgerliche Existenz bemüht“. Kleist wird demnach bereits in Königsberg politisiert, zu einer Zeit, in der er „enorm produktiv gewesen sein muss“, lassen sich in dieser Phase doch Spuren zum „Krug“, zum „Amphitryon“, zur „Penthesilea“, zum „Erdbeben in Chili“ und nicht zuletzt zum „Michael Kohlhaas“ finden. Nach der Gefangenschaft in Frankreich, der Entlassung und der Ansiedlung in Dresden folgt der fünfte Lebensabschnitt, von Amann mit „Kunst und Krieg (1807-1809)“ überschrieben, stark geprägt vom „Phöbus“-Projekt, der „Herrmannsschlacht“, der politischen Lyrik und einem Kleist (mit Dahlmann) als Kriegstourist auf dem Schlachtfeld von Aspern.

Der sechste und letzte Lebensabschnitt gilt den „Berliner Lektionen (1810-1811)“, in deren Zentrum die „Berliner Abendblätter“, die von Kleist redigierte „erste Tageszeitung Berlins“ und natürlich der Tod am Wannsee stehen.

Im zweiten Teil beleuchtet Amann nach einer literarturhistorischen Einordnung des Werks als quer zu den Epochen stehend mit einer „Vielzahl sich überlagernder und durchkreuzender Diskursschichten“ chronologisch zunächst die Dramen. Bereits die Ende 1802 anonym erschienene „Familie Schroffenstein“ dominiert die „Unmöglichkeit sprachlicher Verständigung“, das Drama erscheint als „,frühe Form einer Genre-Dekonstruktion‘“ mit biblischen Anspielungen, „die als kulturkonstitutives Metanarrativ in nahezu allen Texten präsent“ sind.

Am „Krug“ würdigt Amann unter anderem Kleists literaturhistorisches Verdienst der „Rehabilitierung einer von Aufklärung und Klassik gleichermaßen vernachlässigten Tradition situativer Komik und subversiven Lachens“, während die „Herrmannsschlacht“ nicht als „reines Propagandastück“, sondern als „Lehrstück‚ über die Ausübung von Propaganda und über einen geschliffenen und überzeugten Propagandisten‘“ und „Prinz Friedrich von Homburg“ als das „umstrittenste“ Stück Kleists erscheinen, da sich die „im Stück angelegten Sinnschichten […] offenkundig gegenseitig relativieren“. „Als letztes dramatisches Werk legt das Stück schließlich eine Deutungsperspektive nahe, in der Homburg als eine Reflexionsfigur Kleists selbst erscheint.“

Michael Kohlhaas diskutiert Amann als deutsche Symbolfigur ähnlich Faust, während er im „Findling“ die Kehrseite der Aufklärungsideale von „Familie, Ehe, Kindheit, Mitleid, Aufrichtigkeit, Physiognomik und Erziehung“ in Szene gesetzt sieht oder in den Essays „Umrisse einer kulturellen Anthropologie“ erkennt.

Ein knapper Blick auf die Wirkungsgeschichte mit der Fokussierung auf die „nationale und nationalsozialistische Rezeption“ und der Aufnahme Kleists in den „Avantgardebewegungen zwischen ca. 1880 und 1920“ als „den Dichter der Umbruchzeit“, dem Verweis auf Friedrich Nietzsche und Franz Kafka sowie markanten Stationen einiger „Kleist-Revisionen. Literatur, Bühne und Film“ folgen ein allzu knapper Blick auf „Hörspiel und Musik“ und die „Forschung“.

Eine Zeittafel im Anhang, eine die wichtigste Literatur verzeichnende Bibliografie mit Hinweisen zu zentralen Internetseiten, auf die auch im Text immer wieder verwiesen wird, runden diese jedem Studierenden zur Einführung ans Herz zu legende Monografie ab. Wilhelm Amann ist also eine rundum flüssig und unprätentiös geschriebene Kleist-Einführung gelungen.

Nachtrag: Nach wie vor halte ich Amanns Kleist-Biografie für durchaus „flüssig und unprätentiös“ geschrieben, allerdings finden sich – und insoweit korrigiere ich hiermit meine Empfehlung, sie „jedem Studierenden zur Einführung ans Herz“ zu legen – doch einige Flüchtigkeiten und Fehler, auf die mich Professor Dr. Klaus Müller-Salget zu Recht hingewiesen hat. So kommt Colino im „Findling“ nicht bei seiner Rettungstat ums Leben (vgl. S. 113) , sondern erst nach einem „dreijährigen höchst schmerzhaften Krankenlager“, wie es bei Kleist heißt. Richter Adam hat sich seinen Klumpfuß auch nicht „beim nächtlichen Fenstersturz zugezogen“ (S. 67) und im „Erdbeben in Chili“ werden auch nicht „beide zum Tode verurteilt“ (S. 103). „Die Familie Schroffenstein“ ist nicht in der Schweiz (S. 62) uraufgeführt worden, wie auch die zweimal aufgestellte Behauptung „erst ab Ende der 1960er Jahre“ habe es in der Bundesrepublik „ein spürbar neues Interesse an Kleists Werk“ gegeben (S.126, 133), unzutreffend ist. Sie liegt um 10 Jahre daneben. Wenngleich Amanns Einführung ansprechend aufgemacht ist, sollten Fehler und Flüchtigkeiten, wie die beschriebenen, bei einer neuen Auflage korrigiert werden, wie auch das eine oder andere Kleist-Zitat zu überprüfen ist.

Titelbild

Wilhelm Amann: Heinrich von Kleist. Leben Werk Wirkung.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2011.
160 Seiten, 8,90 EUR.
ISBN-13: 9783518182499

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