Natürlich Kleist

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Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es war einmal ein Mann, der sich in einem unbedingten Volkskrieg gegen eine drohende Kolonisierung seines Landes und seiner Kultur wähnte. Nach reiflicher Überlegung verfiel er auf die Konsequenz, dass ihm nun jedes Mittel recht sein müsse, um die fremden Usurpatoren aus seinem Gebiet zu vertreiben und einen totalen Krieg gegen sie zu provozieren. Selbst die Ermordung eigener Landsleute, die seinen Kampf durch ihre Liberalität und Weltoffenheit zu vereiteln drohten, zählte er dazu.

Sie haben erraten, von wem hier die Rede ist? Falsch: Gemeint ist in diesem Editorial zur Abwechslung einmal nicht der norwegische Attentäter Anders Behring Breivik. Zugegeben: Auch Breivik sah sich im Juli 2011 als Avantgardist eines beginnenden, 60-jährigen Krieges gegen eine islamische Unterwerfung ‘seiner’ Kultur, als er ein verworrenes, über 1500-seitiges rassistisches Pamphlet mit dem überheblichen Titel „2083: A Declaration of European Independance“ ins Netz stellte und 76 Menschen durch einen Bombenanschlag im norwegischen Regierungsviertel sowie einen Amoklauf in einem sozialdemokratischen Jugend-Camp auf der kleinen norwegischen Insel Utøya ermordete.

Die Rede ist hier stattdessen, natürlich, von Heinrich von Kleist – jenem radikalen Schriftsteller und Dramatiker des 19. Jahrhunderts, dessen 200. Todestag am 21. November 2011 gedacht wird. Richtig ist es allerdings, dass der norwegische Attentäter Breivik zumindest einiges mit Kleist und vor allem mit dessen germanischer Führer- und Role-Model-Figur Herrmann aus dem Drama „Die Herrmannsschlacht“ (1808) gemein hat: Kleists totaler Krieger Herrmann ist schließlich ebenso bereit, zu Propaganda-Zwecken beziehungsweise als aufrüttelndes ‚Fanal‘ Germaninnen und Germanen dafür zu opfern und umzubringen, dass die Römer, die das ‚germanische‘ Territorium kolonisieren, in einem unbedingten Guerilla-Krieg vertrieben und vernichtet werden können. Kleist selbst wollte sein Drama noch dazu und ganz konkret als Propagandastück verstanden und aufgeführt wissen. Es sollte einen deutschen ‚Volkskrieg‘ gegen den französischen Besatzer Napoleon ‚entfachen‘ helfen. Das gelang seinerzeit nur deshalb nicht, weil man Kleist zu Lebzeiten schlicht für einen ‚Psychopathen‘ und sein Drama für unpublizierbar hielt. Die Option, seinen Text ganz einfach ins Internet zu stellen, hatte Kleist zu seiner Zeit bekanntlich noch nicht.

Mit der „Herrmannsschlacht“, die den Nationalsozialisten im 20. Jahrhundert ausnehmend gut gefiel, hatten die Germanisten nach 1945 ihre liebe Not. Der renommierte Literaturwissenschaftler Walter Müller-Seidel schlug sogar einmal vor, dass Drama besser gleich ganz aus Kleists Werk auszusortieren. Noch im Kleist-Jahrbuch 2008/2009 stellt Hans-Jürgen Schings fest, wahre Kleist-Verehrer würden die „Herrmannsschlacht“ am liebsten „unter Quarantäne stellen, im Giftschrank sekretieren“.

Allerdings ist das Stück, was das Thema der Grausamkeit betrifft, in Kleists Werk keineswegs ein Einzelfall. Da die meisten Texte des Autors sogar wahre ‚Splatter-Film‘-Qualitäten haben, kann man im Grunde jede neuere Publikation über den Autor aufschlagen – und findet mit Sicherheit irgendwelche Beiträge zu den verschiedenen Formen und Aspekten dieser Drastik. Auf einer zu Inspirationszwecken für das vorliegende Editorial zufällig aufgeschlagenen Seite in dem von Ortrud Gutjahr herausgegebenen und soeben in der Redaktion eingetroffenen Band über „Das Käthchen von Heilbronn“ und „Penthesilea“ etwa assoziiert Sonja Dürung angesichts des letzten Akts des letzteren Kleist-Dramas das „Finale eines Gewaltpornos“ – und Heinz-Peter Preußer vergleicht das Stück um jene wackere Amazone, die ihren geliebten Achill am Ende mit den eigenen Zähnen zerreißt, im gleichen Band mit dem radikalen weiblichen Empowerment in Filmen wie Quentin Tarantinos „Kill Bill“.

Sie müssen jetzt also tapfer sein: Auch literaturkritik.de nimmt das Kleist-Jahr mit seinen unzähligen Kleist-Tagungen, Kleist-Sammelbänden, Kleist-Monografien und neuen Kleist-Biografien zum Anlass, um diesem seltsamen Schriftsteller und Dramatiker einen Themenschwerpunkt zu widmen. Kleists moderne Texte vermögen die Leser bis heute nachhaltig zu verstören und zu verwirren, weil sie selbstverständlich am Ende doch viel komplexer funktionieren als bloße ‚Kriegspropaganda‘: Im Unterschied zu Anders Behring Breivik konnte Kleist wenigstens schreiben.

Neben einer Reihe von Essays finden Sie in unserer Ausgabe auch eine Reportage zu aktuellen Kleist-Ausstellungen in Berlin und Frankfurt an der Oder sowie Rezensionen zu einigen der wichtigsten Kleist-Biografien und -Publikationen des Jahres 2011: Den Beiträgerinnen und Beiträgern sei für Ihre schnelle und verlässliche Kooperation inmitten jener Saison, in der alle anderen ‚Urlaub‘ machen, an dieser Stelle noch einmal ganz herzlich gedankt.

Mit besten Grüßen,
Ihr
Jan Süselbeck

Titelbild

Günter Blamberger / Ingo Breuer / Sabine Doering / Klaus Müller-Salget (Hg.): Kleist-Jahrbuch 2008.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2008.
394 Seiten, 39,95 EUR.
ISBN-13: 9783476022806

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Ortrud Gutjahr (Hg.): Das Käthchen von Heilbronn und Penthesilea von Heinrich von Kleist.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2011.
340 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-13: 9783826046537

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