Hänschen klein

Vom Weggehen und Wiederkommen, vom Bleiben und vom Hin-und-Her

Von Dirk KaeslerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dirk Kaesler

Hänschen klein
Ging allein
In die weite Welt hinein.
Stock und Hut
Steht im gut,
Ist gar wohlgemut.

Liebe Leserin, Lieber Leser, bis hierhin kennen Sie es wohl alle!

In der weitverbreiteten Sammlung „Das große Liederbuch“, mit der Anne Diekmann und Willi Gohl „die schönsten deutschen Volks- und Kinderlieder“ zusammengestellt haben, sieht man dazu ein schönes Bild von Tomi Ungerer, jenem großartigen Illustratoren, Grafiker und Schriftsteller aus dem Elsass: Das kleine Hänschen trägt einen grünen Dreispitz mit einer kecken Vogelfeder auf dem Kopf, seine blonden Haare schauen darunter vor, seine graue Hose mit einem aufgenähten roten Hosenboden wird von Hosenträgern gehalten, in seiner rechten Hand hält Hänschen seinen Wanderstab, der größer ist als er selbst. In der linken Hand trägt er einen Beutel, vermutlich gefüllt mit Essbarem, sonst würde die große weiße Gans sicher nicht mit solchem Interesse daran knabbern. Auch wenn er keine Strümpfe anhat, schreitet er flotten Schrittes mit seinen etwas klobigen Schuhen munter voran, ein fernes Wäldchen lockt.

Erinnern Sie sich noch, wie es nun weitergeht, mit dem kleinen Hänschen, das da so wohlgemut in die weite Welt hineingeht? Am liebsten wäre es mir, Sie würden kurz den Blick vom Bildschirm lösen und die erste Strophe vor sich hin singen, so wie Sie sie momentan erinnern. Denn nach der Lektüre dieses Textes werden Sie das Lied nie mehr unbefangen singen können. Wie also geht es weiter?

Hänschen klein
Ging allein
In die weite Welt hinein.
Stock und Hut
Steht im gut,
Ist gar wohlgemut.

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Eine Emanzipationsgeschichte

Was auch immer Sie nun gesungen haben, der Dresdner Lehrer Franz Wiedemann (1821-1882), von dem dieser Text angeblich zuerst stammt, ließ es jedenfalls so weitergehen:

Hänschen klein
Geht allein
In die weite Welt hinein.
Stock und Hut
Steht im gut,
Ist gar wohlgemut.
Aber Mama weinet sehr,
Hat ja nun kein Hänschen mehr!
„Wünsch dir Glück!“
Sagt ihr Blick,
„Kehr’ nur bald zurück!“

Sieben Jahr
Trüb und klar
Hänschen in der Fremde war.
Da besinnt
Sich das Kind,
Eilt nach Haus geschwind.
Doch nun ist’s kein Hänschen mehr.
Nein, ein großer Hans ist er.
Braun gebrannt
Stirn und Hand.
Wird er wohl erkannt?

Eins, zwei, drei
Geh’n vorbei,
Wissen nicht, wer das wohl sei.
Schwester spricht:
„Welch Gesicht?“
Kennt den Bruder nicht.
Kommt daher die Mutter sein,
Schaut ihm kaum ins Aug hinein,
Ruft sie schon:
„Hans, mein Sohn!
Grüß dich Gott, mein Sohn!“

Franz Wiedemann orientierte sich bei seiner Fassung möglicherweise an einem älteren Gedicht, „Das Erkennen“, das von Johann Nepomuk Vogl (1802-1866) stammt, in dem es nicht um ein Bübchen, sondern um einen Wanderburschen geht, der ebenfalls zu seiner Mutter zurückkehrt:

Ein Wanderbursch, mit dem Stab in der Hand,
Kommt wieder heim aus dem fremden Land.
Sein Haar ist bestäubt, sein Antlitz verbrannt,
Von wem wird der Bursch’ wohl zuerst erkannt?

So tritt er ins Städtchen durchs alte Tor,
Am Schlagbaum lehnt just der Zöllner davor.
Der Zöllner, der war ihm ein lieber Freund,
Oft hatte der Becher die Beiden vereint.

Doch sieh – Freund Zollmann erkennt ihn nicht,
Zu sehr hat die Sonn’ ihm verbrannt das Gesicht;
Und weiter wandert nach kurzem Gruß
Der Bursche, und schüttelt den Staub vom Fuß.

Da schaut aus dem Fenster sein Schätzel fromm,
„Du blühende Jungfrau, viel schönen Willkomm!“
Doch sieh’ – auch das Mägdlein erkennt ihn nicht,
Die Sonn’ hat zu sehr ihm verbrannt das Gesicht.

Und weiter geht er die Straße entlang,
Ein Tränlein hängt ihm an der braunen Wang’.
Da wankt von dem Kirchsteig sein Mütterchen her,
„Gott grüß euch!“ so spricht er, und sonst nicht mehr.

Doch sieh’! das Mütterchen schluchzet voll Lust:
„Mein Sohn!“ und sinkt an des Burschen Brust.
Wie sehr auch die Sonne sein Antlitz verbrannt,
Das Mutteraug’ hat ihn gleich erkannt.

Jedes Kind versteht, worum es hier geht: Es beginnt mit Abschiednehmen, mit dem Schmerz der Trennung; den guten Wünschen folgt das mutige Hinausgehen und das Bestehen von Abenteuern unter ferner Sonne, die einem das Gesicht bräunt. Und dann geht es ums Heimkommen, das Fremdsein und das Wiederfinden, auf jeden Fall der Mutter. Mögen auch Schwester, Freund und „Schätzel“ einen nicht mehr wiedererkennen – und das nach nur sieben Jahren! – das Mutterauge irrt sich nicht, sie erkennt auch im Großen Hans ihr kleines Hänschen, ihren Sohn, den Hans, der er nun geworden ist.

Man muss es nicht unbedingt mit einer angeblich biedermeierlichen Präferenz der heimischen Geborgenheit in Verbindung bringen, es steht ja auch nicht im Text, dass der große Hans nun für immer bei der Mutter und in der Heimat bleiben wird. Es geht allein um die schmerzliche, aber zugleich wagemutige Ablösung von der Mutter und der vertrauten Umgebung zugleich und um die Wiederkehr als erwachsener Mann. Es geht um die Liebe, die diesen notwendigen Ablösungsprozess zwar als leidvoll erfährt – sonst würde die Mutter ja wohl nicht so „sehr“ weinen, von Hänschens Tränen liest man übrigens nichts – aber eben doch mit Glückwünschen begleitet, und der Bitte um eine baldige Rückkehr. Nur so kann Hänschen zum Hans werden, vom Jungen zum Mann. Denn, was Hänschen nicht gelernt hat, dürfte für Hans recht schwer werden. Wenn er es überhaupt hinbekommt.

Eine Regressionsgeschichte

Was ritt Herrn Otto Frömmel, diesen Text,  in seiner Sammlung „Kinder-Reime“ in zwei Heften von 1899 und 1900 erschienen, aufzunehmen und dabei in seiner Aussage gewissermaßen auf den Kopf zu stellen? In ihrer beeindruckenden Dokumentation von Kinderliederbüchern im Zeitraum 1770 bis 2000 hat Barbara Boock nur wenig über diesen eifrigen Sammler mitgeteilt.

Demnach schildert Frömmel in seinem Vorwort zum ersten Heft, wie ihn die Erinnerung an die eigene Kinderzeit zur Sammlung von Kinderreimen in Berlin veranlasst habe, und er erwähnt die von Berliner Kindern gehörten lautmalerischen Glockenverse. Insgesamt wollte er mit seiner anscheinend sehr erfolgreichen Sammlung, die sich mehr an die Erwachsenen als an deren Kinder richtete, das „Verständnis für Volkskunde“ wecken.

Was das allerdings damit zu tun hat, dass er aus dem emanzipatorischen Text von Franz Wiedemann einen Text des repressiven Schlechtes-Gewissen-Machens und des Festhaltens machte, ist nicht so ohne weiteres nachzuvollziehen. Aber durch ihn und seitdem wird in vielen Kinderzimmern und Kindergärten diese zweite Strophe gesungen:

Hänschen klein
Geht allein
In die weite Welt hinein;
Stock und Hut
Steht im gut,
Ist gar wohlgemut.

Aber Mama weinet sehr,
Hat ja nun kein Hänschen mehr!
Da besinnt
Sich das Kind,
Kehrt nach Haus geschwind.

Wie soll nun aus Hänschen ein Hans werden? Und was denkt sich die Mama dabei? Ob sie das Hänschen vielleicht doch noch hineinschickt, in die weite Welt?

Es ist zu lesen, dass dieses Lied in dieser späten Fassung das erste Lied sein soll, das deutschen Kindern überhaupt beigebracht wird, vor allem wegen seiner Beliebtheit bei Müttern.

Wer erst einmal anfängt, sich mit diesen ganzen Geschichten auseinanderzusetzen, erlebt so mancherlei Überraschungen: Zu Beginn dieser Schreibarbeit fanden sich bei Google unter „Hänschen klein“ – mit Anführungsstrichen! – 5.070.000 Einträge. Die Melodie bleibt immer die gleiche, aber die Texte variieren vielfältig zwischen der Wiedemann- und der Frömmel-Version. Die schrillste Verschärfung der Frömmel-Philosophie war im „Volkslieder-Songarchiv“ zu finden.

Hänschen klein, ging allein, in die weite Welt hinein.
Stock und Hut, stehn ihm gut, ist auch wohlgemut.
Aber Mutter weinet sehr, hat ja nun kein Hänschen mehr.
Da besinnt sich das Kind. Läuft nach Haus geschwind.

Lieb Mama, ich bin da, ich dein Hänschen hoppsassa.
Glaube mir, ich bleib hier. Geh nicht fort von Dir.
Da freut sich die Mutter sehr und das Hänschen noch viel mehr.
Denn es ist, wie ihr wißt, gar so schön bei ihr.

An solchen Steigerungen des wechselseitigen Festklammerns kann Otto Frömmel nicht allein Schuld haben, denn er selbst scheint ja dann doch ein ganz humorvoller Menschen gewesen zu sein. So verdanken wir ihm aus dem zweiten Heft seiner Sammlung von 1900 ein anderes, auch einigermaßen bekanntes Gedicht, das er vermutlich aus der Sammlung von Oskar Dähnhardt von 1898 übernommen hatte:

Fünf Minuten vor Erschaffung der Welt, als das Wasser der Elbe an der Ostsee brannte, zog man einen Toten lebendig heraus, der war stumm und sprach:

Finster war’s, der Mond schien helle,
Schnee lag auf der grünen Flur,
Als die Post mit Blitzesschnelle
Langsam um die Ecke fuhr.

Drinnen saßen stehend Leute
Schweigend ins Gespräch vertieft,
Als ein totgeschoss’ner Hase
Übern Sandberg Schlittschuh lief.

Und ein blondgelockter Jüngling
Mit kohlrabenschwarzem Haar
Saß auf einer grünen Banke,
Die rot angestrichen war;

Neben ihm ’ne alte Schachtel,
Die kaum zählte sieb’zehn Jahr’,
In der Hand ’ne Butterstulle,
Die mit Schmalz bestrichen war.

Holder Engel, süßer Bengel,
Vielgeliebtes Trampeltier,
Augen hast du wie Sardellen,
Alle Ochsen gleichen dir.

Mein Herz schlägt wie ein Pferdefuß
In meine linke Wade,
Nun sei gerührt wie Apfelmus,
Und flüssig wie Pomade.

Eine unentschiedene Geschichte

Im oben bereits angeführten „Großen Liederbuch“ mit den bunten Bildern von Tomi Ungerer wird deutlich, zu welchem bizarren Unsinn man gelangt, wenn man sich nicht entscheiden kann, ob man mit Wiedemann den kleinen Hans gehen lässt oder ihn mit Frömmel schuldbewusst geschwind zurücklaufen lässt. Es beginnt schon mit der erstaunlichen Überschrift „Hänschen klein / Alles neu macht der Mai“, was zu folgendem Text führt:

Hänschen klein
geht allein
in die weite Welt hinein.
Stock und Hut, stehn ihm gut,
ist gar wohlgemut.
Aber Mutter weinet sehr,
hat ja nun kein Hänschen mehr.
Hänschen klein
geht allein
in die Welt hinein.

Ist es Hänschen nun egal geworden, ob die Mutter sehr weinet, und er geht einfach so los, auch wenn die Welt in der zweiten Runde nicht mehr „weit“ ist? Die zweite Strophe lässt die Verwirrung jedenfalls nicht kleiner werden, denn sie lautet überraschenderweise:

Alles neu, macht der Mai,
macht die Seele frisch und frei.
Laßt das Haus, kommt hinaus,
windet einen Strauß!
Rings erglänzet Sonnenschein,
duftend pranget Flur und Hain,
Vogelsang, Hörnerklang
tönt den Wald entlang.

Was nun diese erste Strophe des famosen Gedichts des Lehrers Hermann Adam von Kamp (1796-1867) aus dem Jahr 1818 mit unserem guten Hänschen zu tun hat, werden wohl nur allein Anne Diekmann und der Diogenes Verlag wissen, der Mitsammler Willi Gohl ist im vergangenen Jahr gestorben. Für den November diesen Jahres ist eine Sonderausgabe zum 80. Geburtstag von Tomi Ungerer angekündigt, samt einem neuen Anhang mit Auszügen aus seinem Skizzenbuch und einem neuen Nachwort dazu: Ob Ungerer sich darin wohl zu den Alternativen zwischen Wiedemann und Frömmel äußern wird? Sein Hänschen auf dem Bild jedenfalls dreht sich nicht nach der Mutter um.

Variationen im Berliner Turnverein und im Weltall

Bei diesem vermeintlich trivialen Thema stößt man auf Verzweigungen, die einen das Staunen lehren. Von zwei solcher Entdeckungen sei abschließend berichtet.

In seiner Sammlung von Berliner Gassenhauern hat Lukas Richter eine angeblich in Berlin unter Kindern sehr verbreitete Parodie des Hänschen-Liedes aufgenommen:

Hänschen klein
ging allein
in’n Berliner Turnverein.
Turnt am Reck,
fällt in’n Dreck,
ist die Nase weg.

Kommt der Doktor Hampelmann,
klebt die Nas’ mit Spucke an.
Hänschen klein
freut sich sehr,
hat nun eine Nase mehr.

Als es um die deutsche Synchronisation des epochalen Films von Stanley Kubrick „2001: A Space Odyssey im Weltraum“ aus dem Jahr 1968 ging, gab es ein Problem bei der Übertragung der letzten Episode. An Bord des Raumschiffs Discovery steuert der Supercomputer „HAL 9000“, der mit einer synthetischen Persönlichkeit programmiert ist, nicht nur sämtliche Funktionen des Raumschiffs, sondern er ist auch der einzige, der von der wahren Bestimmung der Mission weiß, nämlich der Suche nach Spuren im Zusammenhang mit einem Monolithen auf dem Mond. Allein der Astronaut Dave Bowman erkennt, dass der angeblich perfekte Computer ein unberechenbares Eigenleben entwickelt hat und ihn und seine Mitastronauten nacheinander töten möchte, was ihm auch bei allen anderen gelingt. Bei Dave Bowmans verzweifeltem Versuch, die Funktionen von HAL vollkommen abzuschalten, beginnt der Computer mit dem roten Auge von seiner „Kindheit“ zu erzählen und versucht auf diese Weise, Emotionen bei Bowman zu wecken, wie etwa durch die Aussage „Ich habe Angst“. HAL bietet an, ein Lied für ihn zu singen. Dave stimmt zu, während er fortfährt, die Schaltungen des Supercomputers zu lösen. Im amerikanischen Original stimmt HAL das Lied „Daisy Bell“ an, in der deutschen Fassung ertönt „Hänschen klein“. Des Computers Stimme wird während des Singens immer langsamer und tiefer – er „stirbt“, ohne das Lied zu beenden.

Geht man der Frage nach, wieso ausgerechnet dieses Lied gewählt wurde, begegnet man einer erstaunlichen Geschichte, die mit dem deutschen Computerpionier Konrad Zuse (1910-1995) zusammenhängt und dessen legendärer Rechenmaschine „Z22“. Hier die Einladung zur Aufklärung der Frage, warum der Supercomputer „HAL“ mit seiner deutschen Stimme „Hänschen klein“ singt.

Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag gehört zu Dirk Kaeslers monatlich erscheinenden „Abstimmungen mit der Welt“.