Zwischen Wiege und Collegium Josephinum

Stefan Andres autobiografischer Roman „Der Knabe im Brunnen“ erscheint in einer Neuausgabe

Von Anton Philipp KnittelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anton Philipp Knittel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Hanns-Josef Ortheil machte jüngst in seinen autobiografischen Erinnerungen „Die Moselreise“ auf einen Roman aufmerksam, der 1953 erstmals erschienen ist: „Der Knabe im Brunnen“ von Stefan Andres. Der kleine Ortheil notiert während der Moselreise mit seinem Vater in sein Tagebuch: „Das Buch ist keine richtige Geschichte, sondern eine Lebensbeschreibung. Es gibt in dem Buch also sehr wenig, was richtig spannend ist, dafür aber sehr viel, an das sich der Junge, von dem die Geschichte handelt, erinnert. Der Junge erinnert sich nämlich einfach an alles: Wie er in seinem kleinen Bett gelegen hat, was er seine Geschwister und seinen Vater alles gefragt hat, wo er gewohnt hat. Der Junge hat in einer richtigen Mühle gewohnt, und sein Vater hat ihm erklärt, wie die Mühle arbeitet. Ich glaube, der Junge hat seinen Vater sehr gemocht, denn er erzählt sehr viel von seinem Vater. Der Vater des Jungen war auch ein guter Erklärer (so wie Papa).“

In der Tat, der Ich-Erzähler, der kleine Steff, erinnert sich „an alles“, angeblich sogar an die Zeit, als er noch in der Wiege lag. Mit dieser frühesten Erinnerung setzt der Text ein: „Es gab eine Zeit, da die beiden Seiten des kleinen Bettes, in dem ich lag, auf und nieder gingen: hoch die rechte, nieder die linke; hoch die linke, nieder die rechte – immerzu“.

Andres, im Juni 1906 als Müllerssohn in Trittenheim-Dhrönchen an der Mosel geboren und im Juni 1970 in Rom an den Folgen eines operativen Eingriffs verstorben, beendet seinen Roman mit der bevorstehenden Abreise ins Kölner Collegium Josephinum: „Mitten in der guten Stube, in die ich leise eintrat, stand ein großer Koffer. Er war fertig gepackt. Ich merkte es erst, als ich ihn hochheben wollte. Ich erschrak ein wenig, denn ich bekam ihn nicht von der Stelle.“

Erschien es dem kleinen Ortheil bei der Lektüre zunächst so, als ob der Text selbst nicht richtig „von der Stelle“ kommt, so hat er sich gleichwohl in den Bann dieses stillen und seit seinem Erscheinen 1953 mehrfach wiederaufgelegten Textes des in den 1950er- und 1960er-Jahre vielgelesenen Schriftstellers Andres ziehen lassen und das Buch zu Ende gelesen. Man muss sich dem Text nicht unbedingt identifikatorisch nähern wie der kleine Moselreisende vor knapp 50 Jahren, um von ihm fasziniert zu sein. Stefan Andres gelingt es mit seinem autobiografischen Roman, eine Welt einzufangen, die paradigmatisch für eine mehr oder weniger behütete Kindheit auf dem Lande zwischen 1910 und 1920 ist. Ob das Mühlensterben, das die Familie in die Stadt zwingt, die erste Kinderliebe oder die immer deutlicher vernehmbaren Auswirkungen des Ersten Weltkrieges, die Einschulung und die nicht gerade zimperlichen Lehrer, allen voran Tipphenne, der seinem Nationalismus ausgiebig frönt, das „Sanitätsfest“, die Begegnungen mit dem russischen Kriegsgefangenen Dimitri: Andres lässt eine dichte, authentische Kinderwelt entstehen, die mit Recht enormen Leserzuspruch erhielt.

„Der Knabe im Brunnen“ ist, wie Andres’ Dichterkollege der sogenannten inneren Emigration Kasimir Edschmid feststellte, „ein bäuerliches, ein mythisches, ein heiteres Buch vom Kind, das weder gekünstelt, noch sentimentalisch, noch moralisierend geschrieben ist, sondern mit Wärme und hinreißendem Einfallsreichtum“.

Neben Romanen, Erzählungen und Gedichten verfasste Andres, der kurzzeitig zum nationalistischen Bamberger Dichterkreis zählte, auch Dramen und Essays. Zu seinen bekanntesten Werken gehören neben „Der Knabe im Brunnen“ unter anderem „El Greco malt den Großinquisitor“ und „Wir sind Utopia“. Seit ein paar Jahren macht sich der Göttinger Wallstein Verlag mit der Neuedition einiger Texte von Stefan Andres verdient. Die vorliegende Neuedition mit ausführlichem Nachwort zur Entstehung und Rezeption des Werkes rückt einen facettenreichen Autor in den Fokus, dem in seinen besten Werken auch posthum wieder mehr Leser zu wünschen sind. Erschienen sind bei Wallstein neben dem „Knabe im Brunnen“ auch „Gäste im Paradies. Moselländische Novellen“ (2008), „Terrassen im Licht. Italienische Erzählungen“ (2009), „Wir sind Utopia. Prosa aus den Jahren 1933-1945“ (2010).

Eine rührige Stefan Andres-Gesellschaft tut das ihrige, um die Rezeption seines umfangreichen Werks zu erleichtern. Seit 1989 vergibt die Stadt Schweich alle drei Jahre den Stefan-Andres-Preis. Unter http://www.stefan-andres-gesellschaft.de/ ist dazu unter anderem zu entnehmen: „Der Sinn des Preises, so heißt es in der Urkunde, die der Preisträger von der Stadt Schweich erhält, ist es, ‚Literatur deutscher Sprache – gleich aus welcher Nation, Staat oder Land – als einen Beitrag zur europäischen Kultur und politischen Einigung Europas zu fördern und gleichzeitig das Erbe des Dichters Andres zu wahren, damit dessen Person und Werk mit Schweich seit Kindheitstagen her aufs innigste verbunden bleibt.‘“ Zu den bisherigen Preisträgern gehören unter anderem Christoph Hein (1989), Barbara Honigmann (1992), Arnold Stadler (2004), Thomas Hürlimann (2007) und zuletzt Katharina Hacker (2010).

Titelbild

Stefan Andres: Der Knabe im Brunnen. Roman.
Herausgegeben von Christa Basten und Herman Erschens.
Wallstein Verlag, Göttingen 2011.
313 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783835307377

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