Die Frage nach der Figur

Fotis Jannidis, Ralf Schneider und Jens Eder haben den Band „Characters in Fictional Worlds“ herausgegeben

Von Kay ZiegenbalgRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kay Ziegenbalg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn die Rute des Mandrills in die aufgeplatzte Wunde auf Kropinskis Rücken niedersaust und Höfel dem schaudernd zusehen muss, dann fällt es nicht schwer, Mitgefühl für die beiden aufzubringen. Und das, obwohl es sich lediglich um Figuren aus Bruno Apitz’ Roman „Nackt unter Wölfen“ handelt. Die Textwelt, die so selbstverständlich als eine künstliche erscheint, hat eben so ihre Effekte; ihre gemeinsame Menge mit der Realität. Diese gelungene Simulation in der Literatur funktioniert, indem sie qua Plausibilität so weit geht, dass wir literarischen Figuren dieselbe Rationalität zu unterstellen bereit sind wie unseren Mitmenschen.

Doch gerade bei dieser Beobachtung stellt sich Misstrauen ein. Die Literaturtheorie wandte sich unter dem Eindruck des Strukturalismus und der Semiotik davon ab, in literarischen Texten die Realität zu suchen, wo doch diese selbst außerhalb der Texte kaum noch vertrauensvoll erschien. Weil aber die literarische Figur gerade die unsichtbaren, nur rekonstruierbaren Phänomene der Innerlichkeit, des Bewusstseins, vielleicht auch der Seele aufweist, wird die Grenze zwischen Figur und Mitmensch vermutlich so leicht durchbrochen. Schließlich ist die Gemütslage der beiden Häftlinge bei Apitz zwar nachvollziehbar, aber nicht nachweisbar. In der Simulation ist die Gefühlslage bloße Hypothese, deren Beweis nicht notwendig ist.

Höfel und Kropinski sind als literarische Figuren aber nur eine Form dessen, was als imaginäre Wesen bezeichnet werden kann. Das legt zumindest der Untertitel des Bandes „Characters in Fictional Worlds“ nahe: Die Beiträger beleuchten Vorkommen und Ausprägungen des imaginären Wesens in fiktionalen Kulturprodukten: unter anderem im Film, der Literatur und im Videospiel. Dabei liegt erstmalig ein interdisziplinärer Überblick zum Thema vor. Eine ausführliche Einleitung sowie ein Forschungsüberblick von Henriette Heldbrink zeigen bereits zu Beginn der Lektüre, dass man es hier mit einem sicherlich langlebigen Grundlagenwerk zu tun hat.

Ihr Projekt begründen die Herausgeber mit einer gleichermaßen trivialen wie verblüffenden Annahme: Wir treffen täglich auf imaginäre Wesen und sind so daran gewöhnt, dass eine tiefere Untersuchung gar nicht nötig erscheine. Andererseits führe eine solche Untersuchung zur Erkenntnis, dass imaginäre Wesen sich als hochkomplexe Untersuchungsgegenstände erweisen. Und schnell stelle sich die Verwirrung ein über die Existenz der imaginären Figur, die zwar eine gewisse Art des Daseins und eine Ausstrahlung habe, aber keine Interaktion ermögliche.

Das „Als-ob“ der Literatur zu behaupten erfordert, den fundamentalen Unterschied zwischen Fiktion und Wahrheit zu erfassen. Doch weder logische, subjektivistische noch mystische Bemühungen haben hier bisher Klarheit herstellen können. Mit den Fragen des Daseins der fiktionalen Figur befasst sich Maria E. Reicher in ihrem Beitrag „The Ontology of Fictional Characters“. Ohne explizit auf die Quellen einzugehen (zitiert wird lediglich ein Aufsatz von Gilbert Ryle) gibt sie zunächst eine schlüssige Herleitung der Annahme wieder, dass nur die Unterscheidung verschiedener Seinsmodi das Dasein der fiktionalen Figur denkbar machen. Damit wird die Erneuerung der Ontologie im 20. Jahrhundert zur Grundlage der Frage nach den fiktionalen Figuren erhoben. Denn nur ein über die Materialität hinausgehender Seinsbegriff kann Objekte, die eigentlich nicht existieren, erfassen. Dabei, so Reicher, könne man (und das wurde getan) allerdings in die Verlegenheit kommen, sich vom predication principle zu verabschieden und selbst eine Schauspielerrolle einzunehmen. Man spiele also, Kropinski und Höfel wirklich in der Folterzelle von Buchenwald zu sehen und ihr Verhalten zu beobachten.

Sehr schnell aber bekennt sich Reicher zur These, dass die fiktionale Figur tatsächlich existiere. Dies erscheint ihr als einzig sinnvoller Weg, ihre Fragen an das Objekt selbst zu stellen. Die imaginäre Szenerie werde nämlich jäh gefährdet, wenn der Autor Bruno Apitz ins Spiel käme. Auch dieser könnte zwar als bloße Funktion in der degradierten Realität des Denkens gehalten werden, würde aber sicherlich das Verhältnis zwischen dem schauspielernden Forscher und der Figur ad absurdum führen und nur weitere Widersprüche produzieren.

Um also die Möglichkeit des Nachdenkens zu bewahren lautet die Annahme: Kropinski und Höfel existieren. Was da existiert, wird nun als abstrakt bezeichnet, um weder materiell noch mental sein zu müssen. Auch dies ein rein begrifflicher aber pragmatischer Ausweg. Und so fährt Marie Reicher fort, immer daran interessiert, Lösungen für begriffliche Dilemmata und logische Sackgassen zu präsentieren. Diese freimütige, vor Annahmen und Umdeutungen nicht zurückschreckende Herangehensweise ist deshalb so überzeugend, weil sie transparent vorgetragen wird und die Schritte auf dem Weg zur Klärung dokumentiert sind. Schließlich lautet das Ergebnis: Die fiktionale Figur ist ein unvollständig determiniertes kontingentes abstraktes Objekt, dass als reale Personen imaginiert werden kann (es sei denn, seine inhärenten Eigenschaften verbieten dies).

Was soll man dazu sagen, außer, dass dieses Negativ einer realistischen Ontologie nach der Entwicklung einen krassen Konstruktivismus in the real world bedeutet? Also auch anders herum wäre Reicher zu ihrem Ergebnis gekommen, was die Schlussfolgerung des Beitrags eigentlich nur bestärkt. Der Figur ist offenbar Existenz zu unterstellen, will man ihre Beschaffenheit und ihre Verhaltensfunktion in den Blick bekommen.

Dies wird nun in drei Sektionen unternommen, die sich mit der Gestaltung (und damit Entstehung) fiktiver Figuren in verschiedenen Medien, der konstruktiven Interaktion zwischen Figur und Rezipient sowie der Rolle von Kultur und Identität (als Kategorien der Realität) auf dem Gebiet der fiktionalen Figur befassen. Die fünfte Sektion unter dem Titel Transtextuelle und Transmediale Figuren enthält den erwähnenswerten Aufsatz von Brian Richardson über Figuren, die in mehreren Texten vorkommen und die Frage aufwerfen, wie deren schwer zu übersehende Individualität zu fassen sei.

Die Herausgeber arbeiten seit einiger Zeit an einer Neuausrichtung der Analyse literarischer Figuren, die Traditionen normativer, deskriptiver und psychologischer Zugänge zusammenführen soll. Das Ziel besteht darin, alle Aspekte der literarischen Figur im Blick zu haben und die Forschungsergebnisse an einer Gesamtschau der klassischen beengten Ansätze zu messen. In diesem Sinne bleibt festzuhalten, dass „Characters in Fictional Worlds“ ein gelungener Band ist, der dem Anspruch, Grundlagenwerk zu sein, gerecht wird. Alle Beiträge sind klar strukturiert. Die analytische Herangehensweise und entsprechende Sprache hinterlassen den Eindruck größter Klarheit.

Titelbild

Jens Eder / Fotis Jannidis / Ralf Schneider (Hg.): Characters in fictional worlds.
De Gruyter, Berlin 2010.
596 Seiten, 119,95 EUR.
ISBN-13: 9783110232417

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