Balkanische Trägheit

In seinem Briefroman „Mein lieber Petrovic“ entwirft Milovan Danojlic das Bild eines verlorenen Serbiens

Von Simon LeitnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Simon Leitner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mein lieber Freund,

wie du aus meinen letzten Briefen weißt, fiebere ich nun schon eine geraume Zeit lang einem besonderen … ja, nennen wir es Ereignis entgegen; einem Ereignis, das, dich selbstverständlich ausgenommen, wohl die wenigsten Menschen auch als solches bezeichnen würden, das mich aber trotzdem lange genug in Atem hielt. Zwar ging ich wie gewohnt alltäglichen Geschäften nach, wie man so schön sagt, lebte nach außen hin weiter wie eh und je, arbeitete, aß, schlief und las die Zeitungen, insgeheim aber, und nur für mich, zählte ich die Monate, Tage und Stunden – und glaub mir, es waren deren viele –, bis es soweit und ich endlich erlöst sein würde. Und, was soll ich noch groß sagen, vor kurzem war der ersehnte Tag tatsächlich gekommen, „Mein lieber Petrovic“, der 1990, vor zwei Jahrzehnten erstmals veröffentlichte Roman von Milovan Danojlic, wurde nun, als erstes seiner Werke überhaupt, endlich ins Deutsche übersetzt und publiziert.

Du gestattest mir sicher, meine Bedenken darüber zu äußern, warum es wieder einmal so lange gedauert hat, bis ein so ausgezeichneter Roman im deutschsprachigen Raum erscheint – nicht zuletzt, weil doch, wie ich dir wohl kaum zu sagen brauche, heute relativ viel (vor allem junge) Literatur aus dem ex-jugoslawischen Raum übersetzt wird. Woran es nun liegt, dass ausgerechnet der Roman eines (nicht nur) in seiner Heimat mehr als angesehenen Schriftstellers wie Danojlic erst des Serbien-Schwerpunktes der Leipziger Buchmesse bedurfte, um Aufmerksamkeit zu erregen, vermag und will ich an dieser Stelle nicht erörtern. Ich habe weder Zeit noch Lust, mich darüber aufzuregen, noch dazu bei dir, der für dies alles schließlich nichts dafür kann. Vielmehr will ich den begrenzten, mir in diesem Brief gebotenen Raum dafür nutzen, dir die Stärken und Schwächen dieses Romans, den du, wie ich annehme, zuletzt vor etwa 20 Jahren gelesen hast, wieder ins Gedächtnis zu rufen und dich für eine Relektüre zu begeistern.

Der Roman besteht aus zehn Briefen, die Mihailo Putnik, ein nach langjährigem USA-Aufenthalt nach Serbien zurückgekehrter Intellektueller, seinem in Amerika gebliebenen Freund, dem lieben Petrovic, über einen Zeitraum von acht Jahren hinweg (von 1977 bis 1985) schreibt. Die Briefe selbst unterscheiden sich, was ihren Inhalt betrifft, bisweilen sehr stark voneinander, und auch innerhalb der einzelnen Briefe werden viele Themen angerissen, viele kleine und größere Geschichten erzählt: Einmal spricht Putnik über den langweiligen Alltag in dem kleinen serbischen Dorf, in dem er sich niedergelassen hat, ein andermal über die unerwarteten und mehr als grotesken Probleme beim Versuch eine Zeitschrift zu gründen, und wiederum ein anderes Mal schildert er seinem Freund in allen Einzelheiten die unglaubliche Anekdote eines vermeintlich gastfreundlichen Bauern, der in seiner Güte eine aufgrund einer Autopanne im Niemandsland gestrandete schwedische Familie bei sich Zuhause aufnimmt; allerdings nur, um diese anschließend, während sie sich in seinem bescheidenen Heim in der Nähe von Prigrevica von den Strapazen der Reise erholt, auszurauben und aus dem liegengebliebenen Wagen alles zu entwenden, was sprichwörtlich nicht niet- und nagelfest ist – ein Vorfall, der Putnik „sowohl beunruhigt, als auch erschüttert als auch amüsiert hat“.

Die schier unzähligen von Putnik erwähnten Beobachtungen, Details, Überlegungen und Gedankenspielereien vermitteln ein überaus anschauliches Bild von Serbien, als es noch Teilrepublik eines kommunistischen Jugoslawiens war, und dessen Bewohnern, die sehr differenziert gezeichnet werden. Nur auf den ersten Blick wirken sie wahlweise misstrauisch, stur, verschlossen, missgünstig, eigensinnig, selbstverliebt, träge oder auch alles zusammen. Bei näherer Betrachtung allerdings werden allmählich einige positive Seiten von Land und Leuten deutlich, und wenn Putnik seinen Landsleuten, seinen Bekannten Lukic und Paligoric ebenso wie Fremden, generell eher skeptisch gegenübersteht und abgeklärt deren Eigenheiten analysiert, so scheint durch die zur Schau gestellte Verachtung doch immer wieder so etwas wie Zuneigung durch, die vielleicht auch einer Art Altersmilde zugeschrieben werden kann, schließlich ist Putnik nicht mehr der Jüngste – Alter und Exil haben ihre Spuren hinterlassen, und dies spürt man während der Lektüre.

Denn neben den ganzen Geschichten über Serbien und seine Bewohner sind es insbesondere Themen wie Vergänglichkeit und Tod, im Großen wie im Kleinen, die Putnik beschäftigen und über die er seine Betrachtungen anstellt. Er spürt sein Alter mit jedem Tag deutlicher auf seinen Schultern lasten, die „balkanische Trägheit“ hat von ihm Besitz ergriffen. Er, der früher so tatkräftig und dynamisch, um keine Erwiderung verlegen und sich für keine Diskussion, keinen guten Streit zu schade war, findet oft nicht mehr die Kraft, sich konsequent gegen willkürlich handelnde Behörden oder die sozialistisch beziehungsweise nationalistisch gefärbten Aussagen der schon erwähnten Bekannten Lukic und Paligoric zur Wehr zu setzen und zieht sich lieber resigniert zurück. Wiederholt rät, nein beschwört er seinen „dort drüben“ in Amerika gebliebenen Freund geradezu, sich nicht von nostalgieverklärten Vorstellungen Serbiens verführen zu lassen und ja dort zu bleiben, wo er gerade ist. Er soll nicht denselben Fehler machen wie Putnik, der im Alter in seine angebliche Heimat zurückgekehrt ist, wohl nur, man kann sich dieses Eindrucks nicht erwehren, um dort zu sterben.

Ich gebe zu, dies alles mag jetzt einen etwas deprimierenden und schwermütigen Eindruck machen, Danojlic gelingt es allerdings, trotz der eben angesprochenen, gewichtigen Themen eine gewisse Leichtigkeit zu bewahren: Die weitreichenden Ausführungen seines genau beobachtenden Protagonisten sind gleichermaßen poetisch wie amüsant, oszillieren zwischen Melancholie und Komik und sind immer ausnehmend klug. Manchmal scheint Putnik, wie man selbst als Leser, einfach zu vergessen, dass er gerade keine Erzählung oder Geschichte, sondern ,nur‘ einen Brief an seinen Freund verfasst – an einer Stelle spricht er gar davon, dass er sich nicht sicher ist, ob sein vermeintlicher Adressat Petrovic überhaupt existiert: „Es gibt Momente, wo ich das Gefühl habe, dass es dich gar nicht gibt, dass ich dich nur erfunden habe, damit ich jemanden habe, vor dem ich meine Monologe führen kann […] Ich bezweifle auch die Existenz dessen, was ich jetzt, hier, mit meinen Augen sehe; Ohio, Cleveland, Amerika, erinnern an jene deutlichen und sinnlosen Wörter, die wir manchmal im Traum hören.“

Wie ich eben bemerkte, habe auch ich, mein lieber Freund, dich während des Schreibens etwas aus den Augen verloren. Dennoch hoffe ich, dass du mit meinem Brief etwas anfangen kannst und noch mehr, dass du dir „Mein lieber Petrovic“ (erneut) zu Gemüte führen wirst. Ich werde jetzt und an dieser Stelle kein Fazit bemühen, ich traue dir genug Urteilsvermögen und selbstständiges Denken zu, um aus meinen Gedanken die für dich wichtigen und interessanten Punkte und Aspekte herauszufiltern; deshalb will ich diesen Brief anders, nämlich mit denselben geheimnisvollen Worten beenden, mit denen auch Putnik den letzten Brief an seinen lieben Petrovic enden ließ und die dir, so hoffe ich, genauso gut gefallen werden wie mir: „Und der Schatten der Wassermühle wird immer dunkler und versinkt im Flusswirbel, wie ein Stein“.

Titelbild

Milovan Danojlic: Mein lieber Petrovic. Roman.
Übersetzt aus dem Serbokroatischen von Jelena Dabic und Mascha Dabic.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2010.
311 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783518421802

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