„Psychodynamische Konstellationen und Verwerfungen“ im Blick

Ein Band der „Freiburger literaturpsychologischen Gespräche“ widmet sich Heinrich von Kleist

Von Anton Philipp KnittelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anton Philipp Knittel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Der Dichter Heinrich von Kleist ist mehrmals von neuem und in unterschiedlichen Rollen auf der Bühne des literarischen Lebens erschienen“, schreibt Hans Joachim Kreutzer in seiner jüngst in der Reihe Wissen bei C. H. Beck vorgelegten Kleist-Werkmonografie. „Zu seinen Lebzeiten galt er als bemerkenswertes Talent, seinem persönlichen Auftreten nach als unstet, wo nicht exzentrisch. Seine Dichtungen wurden immer wieder, und das bis heute, unter Vorzeichen aufgenommen, die nicht miteinander zu vereinen waren“. Entsprechend facetten- und umfangreich ist die Forschung zu diesem Projektemacher, Experimentierer, bricoleur und Gefühlsextremisten, als den ihn Günter Blamberger in seiner bei S. Fischer vorgelegten exzellenten Biografie vorstellt.

Dass Kleists Œuvre schon früh auch literaturpsychologisch und -psychoanalytisch oder pathographisch-psychologisch gedeutet wurde, liegt auf der Hand. Band 27 der Freiburger literaturpsychologischen Gespräche, herausgegeben von Ortrud Gutjahr, will nun unter „psychoanalytisch orientierter Herangehensweise in exemplarischer Weise neue Deutungsansätze für die psychodynamischen Konstellationen und Verwerfungen in Kleists Werk“ entfalten, wie die Herausgeberin in ihrem Vorwort bemerkt. Der Band versammelt zwölf – überwiegend spannende – Beiträge, die jeweils mit einer Bibliografie versehen sind. Zudem erleichtern deutsche und englische Abstracts die rasche Übersicht. Das seit 1981 existierende Jahrbuch beinhaltet zudem 17 Rezensionen zu Werken, die im weitesten Sinne „den Dialog zwischen Psychoanalyse und Literatur“ thematisieren. Ein entsprechendes Begriffsregister, das von „Abwehr“ bis zu „Zerstörung, zerstören“ reicht, erleichtert die Orientierung ebenso wie ein Register der in den Beiträgen „behandelten Texte Heinrich von Kleists“.

Einleitend skizziert Joachim Pfeiffer in seinem panoramatischen Überblick „Kleist und die Sprache des Unbewussten“, nachdem er „Freuds Einsicht in die widersprüchliche Struktur des Menschen, sein desillusionierendes Menschenbild und seine dezidiert antimetaphysische Grundhaltung“ erörtert hat, als wesentliche „Elemente einer Verwandtschaft avant la lettre, die durch Kleist Diktum von der ‚Gebrechlichkeit der Welt‘ unterstrichen wird“, essentielle Stationen in der „Geschichte der psychoanalytischen Kleist-Forschung“: „Es ist auffällig, dass die meisten literaturpsychologischen Arbeiten zu Kleist auf Ansätze Freuds und seiner Nachfolger zurückgreifen; Untersuchungen, die sich an C. G. Jung orientieren, finden sich kaum (eine der wenigen Ausnahmen ist Engel).Kleists eigenwillige Welten sind offensichtlich nur schwer mit dem Jungschen Archetypenkosmos vereinbar. Dasselbe gilt für die Individualpsychologie Adlers. Seit längerem dominieren zeichentheoretische, poststrukturalistische Arbeiten in der Nachfolge Lacans, die sich mit gendertheoretischen Fragestellungen verbinden.“

Pfeiffers Resümee: „Sichtet man die Arbeiten der letzten Jahre, gewinnt man den Eindruck, dass konsequent angewandte psychoanalytische Ansätze in der Kleistforschung zugunsten von Synkretismen zurückgegangen sind. Psychoanalytische Aspekte verbinden sich mit anderen Ansätzen (z. B. der Diskursanalyse) und Fragestellung, in denen die Psychoanalyse nicht mehr im Zentrum steht: der Ethnizität, Rasse, Entgrenzung, Agonalität, Theatralität, Performanz. Die psychoanalytische Literaturwissenschaft muss sich hier auf Grenzüberschreitungen einlassen, die einst Voraussetzungen ihres Entstehens waren.“

Dieses führt Bernhard Greiner in seinem Beitrag „,Die Möglichkeit einer dramatischen Motivierung denken können‘. Kleists Paradoxe und Versuche ihrer Motivierung, mit einem Exkurs zur ‚Familie Schroffenstein‘“ par excellence vor. Plausibel zeigt Greiner, dass die Figur des Paradoxons dem Œuvre Kleists zugrunde liegt: „Vom frühen Briefzeugnis (November 1800) vor seiner Wende zur Kunst bis zum letzten Drama spannt sich derart der Bogen der Kleistschen Paradoxe.“

Dabei fragt Greiner zunächst nach Kleists „Interesse am Paradoxon“, zweitens nach „dem Zweck der Paradoxe“ und drittens nach dem, „was das jeweilige Paradox ausmacht“. Er unterscheidet „drei Strategien“, um „mit dem Paradoxon als zentraler Denk- und Gestaltungsfigur Kleists umzugehen“. Nämlich zum einen den impliziten Appell des Paradoxons, es „durch Ermitteln fehlender Informationen aufzulösen“, sodann ihre „Poetik“ nach dem „Phänomen reziproker Aufladung“ analog der Kleist’schen Flasche zu lesen und sie drittens „hermeneutisch produktiv zu machen, d. h. mit Verstehenskonzepten auf sie zu antworten.“

Anhand der Grundform Paradoxe betont Greiner mit Blick auf die Forschung gerade der letzten Jahre: Kleists Texte „stellen heraus, dass es gegenüber den Widersprüchlichkeiten, von denen sie handeln, keine Metasprache gibt, vielmehr die ästhetische Ordnung, die diese paradoxe Welt entwirft, Teil eben dieser Welt ist, mithin die ‚Gebrechlichkeit‘ selbst betreibt, von deren Katastrophen sie berichtet.“

Während Ulrike Prokopp unter dem Titel „Misstrauen und Wahrheitsbeweis“ anhand der „Familie Schroffenstein“ nach „gewaltbestimmten Prozessen in autoritären Gruppen“ fragt, und die Faszination des Stücks aus der „Spannung zwischen der diskursiven Thematik und dem Sog des ambivalenzfreien affektiven Pols, der Wutwelle mit ihrer Erregungsqualität herausarbeitet, wobei sie in erster Linie auf die „Tiefenhermeneutische Kulturanalyse“ Alfred Lorenzers rekurriert, liest Ortrud Gutjahr den „Amphitryon“ als „Schauplatz des Anderen“: „Mit Amphitryons Ausgeliefertsein an einen übermächtigen Gegner, der ihm seine Identität abspricht, wird ein traumatisches Erleben in Szene gesetzt, mit dem das Dem-Tode-ausgesetzt-Sein im Krieg re-inszeniert wird. Der Krieg kann unter diesem psychodynamischen Aspekt als Unterbrechung eines lebensgeschichtlichen Kontinuums verstanden werden: als hochorganisierte Form der Aggressionslenkung gegen einen zum Feind erklärten Fremden, die mit einer Umwertung sozialer Beziehungen, der Umcodierung von Emotionalität und der Freisetzung aggressiver Potentiale einhergeht.“

Berührt sich Prokopp mit ihrer abschließenden Deutung, wonach in der „Familie Schroffenstein“, „das Gesangliche, die Musikalität“ dominiere und der Text „die Vorlage für ein Singspiel“ sei und so leichter funktionieren würde, mit der jüngst von Kreutzer betonten These, wonach die vielen Gedankenstriche in den „Schroffensteinern“ „nicht bloße Pausenzeichen, wie Fermaten in der Musik“ seien, sondern vielmehr „jeweils eine Anweisung an den Sprecher“ enthalten, „gestisch etwas zum Ausdruck zu bringen, neben und über der Sprache“, so ließe sich Gutjahrs Deutung leicht an die von Michalzik in seiner Biografie starkgemachten kriegerischen Seite Kleists anschließen.

In einem dichten Beitrag fragt Marianne Schuller anhand der „Penthesilea“ nach dem „Wahn und seine(r) Beziehung zur Metaphorizität“. Im Anschluss an Torok und Abraham begreift sie Penthesileas Träne, nachdem sie Achill zerrissen hat, jedoch von ihrer Tat noch nichts weiß, als Chiffre des Stücks. Denn es gibt in diesem Augenblick keine rhetorische „Codifikation“ mehr, und „wenn die Sprache ohne Aufschub ist, wenn ihr nichts fehlt und insofern das Fehlen fehlt, dann, so Kleist, hat die Stunde des Todes geschlagen. Insofern erscheint auch jene Briefäußerung Kleists vom 4. August 1806 zweideutig, in der es heißt: ‚Ja, wenn man Thränen schreiben könnte – doch so –‘. Doch so oder nur so – unter den Bedingung von Riss, Grenze, Differenz – kann geschrieben werden: Penthesilea.“

Während sich Heinrich Deserno dem „Liebeswunsch“ in der „Marquise“ widmet und in ihrem Verlauf von einer „Umkehrung geschlechtsstereotypischer Handlungs- und Erlebnismerkmale“ ausgeht, liest Claudia Liebrand die Novelle gegen die Hysterie-Deutung von Heinz Politzer von 1977 nicht nur als klassische Fallgeschichte, sondern darüber hinaus auch als eine „Experimentieranordnung über ‚Verwundungen‘ des Symbolischen, über die Schwierigkeiten Soma in Sema zu überführen und über die Grenzen der Repräsentation.“

Der Band bietet eine Reihe weiterer spannender Anregungen. So liest Vera King „Das Erdbeben in Chili“ vor dem Hintergrund der „konfliktuöse(n) Spannung zwischen Individuum, Paar und Gruppe“, wobei die Hingabe an die Idylle die zweite Chance des Paars verspielt. Wolf Wucherpfennig widmet sich der „Verlobung in St. Domingo“ als einer „Tragödie des Narzissmus“. Vor dem Hintergrund „der Psychologie Puységurs“ erscheint der Narzissmus als „Kleists Lebensthema“. Weitere Analysen beziehen sich auf den „Findling“ (Benigna Gerisch), die „Ohnmachtsszenarien Kleistscher Protagonisten“ (Margarete Berger) und ein luzider Beitrag von Helga Gallas untersucht „Kleists Welt im Vergleich zur Dominanz des Imaginären in der Romantik und zur Inflation des Realen in der Postmoderne“. Sie knüpft damit an ihre große Studie „Kleist. Gesetz, Begehren, Sexualität. Zwischen symbolischer und imaginärer Identifizierung“ (2005) an. Alles in allem ein lesenswerter Band, der das eingangs von Pfeiffer gezogene Resümee bestätigt.

Titelbild

Ortrud Gutjahr (Hg.): Heinrich von Kleist.
Königshausen & Neumann, Würzburg 2008.
386 Seiten, 30,00 EUR.
ISBN-13: 9783826037726

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