Ein melancholischer Generationentrip

Über Marco Balzanos Roman „Damals, am Meer“

Von Kay ZiegenbalgRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kay Ziegenbalg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Damals, am Meer“ handelt von drei Generationen einer Familie in Gestalt des arbeitslosen Lehrers Nicolá, dessen Vater und seinem dem Kommunismus anhängenden Großvater. Die Geschichte ist einfach, aber gelungen komponiert. In den drei Figuren spiegeln sich Konflikte zwischen Generationen, den in ihnen virulenten Vorstellungen von der Welt und einem angemessenen Lebenswandel.

Nicolá erträgt die Vorwürfe seines Vaters, der vom augenscheinlich tatenlosen Schwelgen in Büchern überhaupt nichts hält. Dabei ist es dieser Habitus des neben der Spur laufenden Intellektuellen, der seine Persönlichkeit zusammenhält und Nicolá über die Tage bringt. Selbstverständlich stößt das dem abhängig beschäftigten Vater, der eine intakte Familie unterhalten und aufrecht erhalten will, sauer auf. Ausgerechnet der Großvater – selbst Analphabet – ist hier Nicolás Unterstützung. „Du hast einfach alles vergessen, seit du dich etabliert hast“, wird er seinem Sohn vorwerfen.

Das Objekt der Projektionen und Ziel einer gemeinsamen Reise ist die Wohnung in Apulien, im armen Süden Italiens. Diese Wohnung hat die Familie zurückgelassen, als sie nach Mailand zog, um sich ein Leben im wirtschaftlich besser gestellten Norden einzurichten. Eines Tages beschließen Vater und Großvater einen radikalen Schritt: Die Wohnung, die seit Jahren verfällt und an der man nur noch aus Sentimentalität hängt, soll verkauft werden. Nicolá schließt sich den beiden an. Zunächst, um seinen Vater mit seiner Anwesenheit zu ärgern. Dies bedeutet einen tiefen Einschnitt in die Familienlegende.

Das Unangenehme an dieser Legende ist die versteinerte traditionelle Rollenverteilung, wobei die Großmutter keine andere Aufgabe hat, als den verlorenen Erinnerungsraum zu beweinen und sich zeternd und fern jeder Vernunft gegen die Abstoßung zu stellen.

Die Wohnung ist Erinnerungs- und Fluchtort; verbunden mit der guten alten Zeit, mit Kindheit und den eigenen Wurzeln. Sich von diesem Symbol zu lösen, wird die drei Männer einander näher bringen, als ihnen lieb ist. Denn schnell wird klar, dass die Begegnung mit der eigentlich nur noch mental aufrecht erhaltenen Gründungsstätte der Familie ihre Mitglieder recht grob auf den Boden der Tatsachen zurückholt. Und das nicht nur, weil die Wohnung sich in einem völlig verwahrlosten Zustand befindet. Die ausgemalten Erinnerungen, der Mythos dieser Familie werden schwer getroffen vom Anblick der Verwahrlosung. Die Figuren erleben diese Erdung mehr oder weniger unerklärt.

Zu allem Überfluss folgt auf den Schrecken die Läuterung. Um sich von der Unterkunft trennen zu können, um den Schnitt mit der Vergangenheit zu bewerkstelligen, muss der Tempel erst einmal auf Vordermann gebracht werden. Die lange hinausgeschobene Trennung bedarf einer unangenehmen gemeinsamen Anstrengung. Nicht weniger anstrengend ist die Konfrontation mit dem apulischen Erbe, die sich wiederum für alle drei unterschiedlich tiefgreifend gestalten.

Als Nicolá über den apulischen Dialekt nachdenkt, den er von seinem Großvater kennt und in Apulien erst wieder richtig bewusst wahrnimmt, heißt es: „Wieder so etwas, das mir zwar gehört, aber mir entglitten ist, ohne dass die Zeit eine ausreichende Begründung dafür wäre. Und ohne dass ich je den wahren Grund hätte nennen können.“

Marco Balzano hat einen gleichermaßen melancholischen wie hoffnungsvollen Roman geschrieben, der überzeugend eine unverfälschte Stimmung zu erzeugen vermag. Er setzt seine Figuren in einer mehr oder weniger technik- und medienfreien Welt ab, in der sie ganz und gar auf ihre Erinnerungen und deren andauernde Recodierung zurückgeworfen sind. Es dominieren Bilder, Gerüche und die kurz aufblitzenden Protagonisten der gemeinsamen Vergangenheit. Das Meer ist dabei als Gravitationszentrum ebenso unverzichtbar wie die rituellen Espresso-Pausen während der Reise.

Selbstredend wird im Hintergrund die Zerrissenheit Italiens dargestellt, jenem Süden, der in der europäischen Geistesgeschichte ein nicht wegzudenkender Sehnsuchtsort ist, dessen tiefe systemische Krise noch romantisierbar scheint und immer gewesen ist. Doch den Zugriff auf diese Ebene der Geschichte unterlässt Bolzano größtenteils. Stattdessen konzentriert er sich auf jene Erscheinungen und Gefühlslagen, die in allen Regionen anzutreffen sind, in denen sich zwischen den Städten und den provinziellen Randlagen sehr viele Differenzen entwickelt haben. So verschmelzen Erinnerungsräume mit sozialen Räumen und der Konflikt des Romans wird generalisiert.

Dieser Zug macht den Roman letztlich zu einem Experiment mit einer seltsamen Gewöhnlichkeit, die an literarischem Formwillen aber kaum zu überbieten ist. Ein angenehmer Familienroman, der sich aufs Erzählen beschränkt, und eine übermäßig ausgeleuchtete Tiefe vermeidet. Unprätentiös und nüchtern verfliegen die knapp 200 Seiten ziemlich schnell und lassen erahnen, dass noch mehr drin ist. Vielleicht beglückt uns Balzano mit einem längeren Nachfolger. Es wäre jedenfalls wünschenswert.

Titelbild

Marco Balzano: Damals, am Meer. Roman.
Übersetzt aus dem Italienischen von Maja Pflug.
Verlag Antje Kunstmann, München 2011.
224 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783888977268

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