Von Gleichem und Anderem bei der Heimkehr

„Figurationen der Heimkehr“: Ein vielseitiger Sammelband von Sünne Juterczenka und Kai Marcel Sicks

Von Sarah Mohi-von KänelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sarah Mohi-von Känel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass Sehnsucht nach Heimkehr sowie Hindernisse, welche einer solchen im Wege stehen, die vielleicht schönste Ausgangslage für mitreißende Erzählungen sind, zeigt Homers „Odyssee“. Wie Heimkehrerzählungen seit der Neuzeit diese Situation entwickeln, fragt nun der Konferenzband, den Sünne Juterczenka und Kai Marcel Sicks unter dem Titel „Figurationen der Heimkehr. Die Passage vom Fremden zum Eigenen in Geschichte und Literatur der Neuzeit“ herausgegeben haben.

Überaus unterhaltsam und vielseitig führen die Beiträge durch ein breites Panorama von Heimkehrsituationen. Von den für Diaspora-Gemeinschaften konstitutiven Heimkehrutopien in der Frühen Neuzeit (Suanne Lachenicht) über politische Kommentare zu der Heimkehr verunmöglichenden Exilsituation in Aleksey N. Tolstojs „Aëlita. Der Untergang des Mars“ (Katharina Bauer) bis hin zur erzählten „Herkunftsreise“ von Migranten-Kindern, wie sie der zeitgenössische Roman „The Visible World“ von Mark Slouka erzählt (Elisa Antz), wird Heimkehr analysiert.

Dieser zeitlichen und geografischen Varianz steht die Auswahl der Heimkehrfiguren in nichts nach: Verhandelt werden Repräsentationen der Heimkehr von Soldaten nach dem Zweiten Weltkrieg, von James Cook, von Faust, von Kriegsheimkehrern in Märchen und von deutschen Familien, die nach gescheiterten Auswanderungsplänen versuchen, in der ehemaligen Heimat wieder Fuss zu fassen.

Diese thematische Vielfalt sowie das Nebeneinander von historischen Konstellationen und literarischen Narrativen machen den Band, in dem erfreulich viele NachwuchswissenschaftlerInnen zu Wort kommen, abwechslungsreich und durchaus lesenswert. Auch wenn nicht alle Beiträge die innovative Fragestellung nach der kulturellen Signifikanz von Heimkehrdarstellungen gleich fruchtbar machen, ist es dennoch das große Verdienst dieses Sammelbands, unter verschiedensten Perspektiven ein Thema zu reflektieren, welches in der literatur- und kulturwissenschaftlichen Forschung so wenig erforscht ist, wie es als Narrativ in Literatur und anderen kulturellen Formen omnipräsent ist.

Die Geschichtlichkeit von Heimkehrerzählungen

Die von Ansgar Nünning im Vorwort formulierte These, „dass die Imaginationen der Heimkehr zwar historisch und kulturell variabel sind, aber zugleich immer wieder auf bestimmte Figurationen bzw. modes of emplotment (sensu Hayden White) zurückgreifen, die auf je unterschiedliche kulturelle Problemlagen reagieren und diese zur Darstellung bringen“, bringt die für Heimkehrfigurationen konstitutive Spannung zwischen Wiederholung und Varianz auf den Punkt: Die Vielfalt der möglichen Bezüge, mit denen Heimkehrerzählungen auf zeitgeschichtliche Kontexte reagieren, kontrastiert mit der Wiederholung von bestimmten Formen, die immer wieder aktualisiert werden, um Heimkehr zu erzählen.

Gleichzeitig eröffnet Nünnings These ein weites Forschungspotenzial, denn die angesprochene Interferenz zwischen Heimkehrdarstellungen und kulturellen Problemlagen behauptet nicht weniger als die Geschichtlichkeit von Heimkehrfigurationen. Die geschichtliche Bedingtheit des kulturellen Umgangs mit Heimkehr hebt in der Einleitung auch das Herausgeber-Team hervor. Sie verstehen Figurationen der Heimkehr „als soziale und kulturelle Rolle, über die Lebenswelten und Fiktionen strukturiert werden“. Ein solcher Zusammenhang zwischen Fiktion und Lebenswelt in Heimkehrdarstellungen zeige sich auch an der Tatsache, dass Inszenierungen von Heimkehr häufig „zwischen dokumentarischer und fiktionaler Erzählung angesiedelt“ seien. Diese Perspektivierung eröffnet die wichtige Möglichkeit, die Heimkehrthematik aus der etwas biederen Motiv-Forschung in eine theoretisch produktivere Fragestellung einzubetten. Viele Beiträge praktizieren diese kulturtheoretische Öffnung und zeigen, welche Fragen der Zeit Erzählkonstellationen des Übergangs von einer Fremde in eine Heimat auf welche Weise mit reflektieren. Andere der insgesamt sehr heterogenen Beiträge sind jedoch nur unzureichend auf diese einleitende Fragestellung ausgerichtet, und die bedeutende Frage nach kulturellen Funktionen von Heimkehrdarstellungen verschwindet dort weitgehend hinter dem Aufzeigen der narrativen Formen. Diese Beiträge beweisen zwar, dass Heimkehr nach wie vor Ausgangspunkt von spannenden Geschichten ist und seit der „Odyssee“ nichts an kreativem Potential verloren hat, schöpfen aber die kulturtheoretische Relevanz von Figurationen der Heimkehr kaum aus.

Eine solche Relevanz ergibt sich – so Juterczenka und Sicks – daraus, dass Figurationen der Heimkehr auch grundlegende Identitäts-Konzepte einer Gemeinschaft reflektieren. So eröffnen Heimkehrdarstellungen nicht nur einen spezifischen Blick auf die eigene Heimat, sondern es treten dabei auch Relationen von Eigenem und Fremdem, In- und Exklusionsmechanismen von Gesellschaften sowie das kreative Potential von Heimkehrfigurationen zu Tage. Diesen Fragen geht der Sammelband in vier Sektionen nach: Den Heimkehrern nach Reisen zur Erkundung des Fremden ist die erste, der Heimkehr nach dem Krieg die zweite Sektion gewidmet. Im dritten Abschnitt stehen die in Exilsituationen durch die abwesende Heimat ausgelöste Imaginationen einer Heimkehr im Zentrum, während die letzte Sektion grundsätzlich transitorisch ausgerichtete Existenzen und ihr Verhältnis zu Heimkehr fokussiert.

Vom Gleichen: Figurationen des Scheiterns

So heterogen sich die Beiträge bezüglich Thematik und Akzentuierung der Fragestellung ausrichten, so einig sind sie sich darin, dass Heimkehr erstens eher als unerreichbare Sehnsucht denn als realisierbares Ereignis inszeniert wird und dass zweitens Heimkehr mehr meint als bloß die Rückkehr an einen vertrauten Ort. Dieses Mehr reflektieren mehrere Beiträge, indem sie die in der deutschen Sprache spezifische Verbindung von Heimat und Heimkehr betonen. Hans-Jürgen Lüsebrink kommt nach einem Vergleich der mit dem Begriff Heimkehr in verschiedenen Sprachen verknüpften Wortfelder zur grundsätzlichen Einsicht, dass mit Heimkehr „in den unterschiedlichen Sprach- und Kulturräumen stets verschiedene, kulturell geprägte Bedeutungsdimensionen sowie mentale Vorstellungswelten verknüpft“ sind. Da das Konzept Heimkehr sich als aufnahmefähig für verschiedenste emotionale, politische und sonstige Assoziationen erweist, führt Gesa Mackenthun die wichtige Unterscheidung zwischen Rückkehr als reines physisches Wiederaufsuchen eines Ausgangs- bzw. Geburtsorts und Heimkehr ein.

So unterschiedlich auch das Mehr von Heimkehr gegenüber der Rückkehr jeweils konkret gedacht wird, so zeigt es sich in den untersuchten Texten grundsätzlich stets ex negativo als Mangel. Es scheint, als ob es von Heimkehr in der Neuzeit nur dann etwas zu erzählen gäbe, wenn sie scheitert oder doch zumindest zum Problem wird. Jedenfalls wirft das Narrativ, in dem jemand zeitversetzt an einen Ort zurückkehrt, den er früher als Heimat betrachtete, strukturell immer wieder die gleichen Probleme auf – und zwar unabhängig davon, ob es um Heimkehr nach einer Reise, nach dem Krieg, aus dem Exil oder um das grundsätzlich transitorische, heimatlose Leben geht. Deshalb trifft Elisa Antz’ Beobachtung, das Heimweh erweise sich in sehr viel höherem Masse als Heimat als die Heimat selbst, nicht nur auf den von ihr analysierten Roman zu, sondern könnte genauso als Fazit aus dem Sammelband gezogen werden. Heimkehr funktioniert stets als Sehnsucht und angestrebtes Ziel, das jedoch nie wie erhofft erreicht wird, da die tatsächliche Rückkehr zum ehemaligen Heim zu einer verunsichernden mitunter unheimlichen Begegnung mit dem vermeintlich Gleichen, das zu einem Anderen geworden ist, zur Folge hat.

Die in der Einleitung angekündigten Unterschiede bezüglich der Probleme, die in den verschiedenen Heimkehrsituationen (1. nach Entdeckungsreisen, 2. aus dem Krieg, 3. als Imagination im Exil, 4. als grundsätzlich transitorisch ausgerichtetes Leben) verhandelt würden, werden dieser stereotypen Verweigerung von Heimkehr wegen in den Beiträgen kaum sichtbar. Vielmehr zeigt sich – bisweilen überraschend – Gleiches in den unterschiedlichsten Heimkehrfigurationen. So kommt etwa die Historikerin Svenja Goltermann, die in psychiatrischen Akten von Kriegsheimkehrern nach dem Zweiten Weltkrieg narrative Verarbeitungsformen der Begegnung zwischen ehemaligen Soldaten und Daheimgebliebenen untersucht, zum Fazit, dass vielleicht „der gefühlte Zustand des ‚Dazwischen‘ das eigentliche Charakteristikum der Heimkehr war“. Ein solches „Dazwischen“ von Heimkehrfigurationen beschreiben auch stärker literaturwissenschaflich ausgerichtete Beiträge, die Heimkehr mit Kategorien wie Michel Foucaults „Heterotopie“, Victor Turners „Liminalität“ oder Homi Bhahbas „third space“ umschreiben. Dass solche Kategorien, wie sie beispielsweise Mackenthun an anglophonen fiktiven Reiseberichten zeigt, auch in psychiatrischen Krankenakten von Kriegsheimkehrern wirksam sind, impliziert, dass Heimkehr in unterschiedlichsten kulturellen Zusammenhängen sowohl in fiktiven als auch in dokumentarischen Texten immer wieder mittels bestimmten reaktualisierbaren Formen erzählbar wird.

Vom Anderen: Funktionalisierungen von Heimkehr

Trotz der formalen Ähnlichkeiten von unterschiedlichsten Heimkehrfigurationen erweisen sich diese funktional als offen für vielseitige Deutungen. Beiträge, die nach der gesellschaftlichen Relevanz von Heimkehrdarstellungen fragen, zeigen auf, wie sich über Auslegungen von Heimkehrgeschichten – gerade weil sie als stereotypes Muster zum erzählerischen Formenbestand einer Kultur gehören – weitreichende andere Fragen verhandeln lassen. Heimkehr fungiert als Projektionsfläche für Aushandlungen von kultureller Identität, weshalb tradierte Heimkehrereignisse innerhalb einer Gesellschaft schreibend und lesend in stets neue Konstellationen zu den verschiedenen Gegenwarten gesetzt werden.

So zeigt etwa Sünne Juterczenka, wie Heimkehr auch und gerade dann, wenn sie ausbleibt – wie im Falle der beiden verschollenen Entdecker Ferdinand Magellan und James Cook – ideologisch beliebig aufladbar und in verschiedenen historischen Situationen je anders deutbar wird. Auch Robert Vogt macht in seinem Beitrag zu Ambrose Bierce’ „An Occurrence at Owl Creek Bridge“ einen Vorschlag, wie Heimkehrinszenierungen politisch relevant werden können: Die vorgegaukelte Heimkehr und das sich daraus ergebende happy end wird durch Bierce’ raffinierte Erzähltechnik entlarvt als nicht einlösbares Wunschdenken. Das Aufzeigen dieser Differenz zwischen der bloß fantasierten, aber als täuschend real inszenierten glücklichen Heimkehr und der desillusionierenden Realität der erzählten Welt, in der sich die Heimkehr als letzte Träumerei des soeben gehängten Protagonisten erweist, wird im Entstehungskontext der Kurzgeschichte lesbar als implizite Kritik an der Verherrlichung des Civil War. Könnte sich doch die in Kriegszeiten stets propagierte Verheißung auf eine glückliche und heldenhafte Heimkehr nach überstandenen Abenteuern als ebenso illusorisch erweisen wie die erzählte Heimkehrphantasie des Sterbenden.

Am prägnantesten und ausführlichsten wird der Zusammenhang von Heimkehrdeutungen und kultureller Signifikanz in Vincenzo Martellas Beitrag dargelegt. Minutiös zeigt dieser auf, wie Adornos Auseinandersetzung mit der „Odyssee“ diese Heimkehrgeschichte in der „Dialektik der Aufklärung“ funktionalisiert, um damit einerseits Rudolf Borchardts neoromantische Lesart von Homers Epos zu kritisieren und andererseits Möglichkeiten der Weiterentwicklung der Zivilisation zu erörtern. In dieser berühmt gewordenen „Odyssee“-Lektüre liest Theodor W. Adorno Heimkehr als Allegorie auf die westliche Zivilisation. Dabei warnt er vor dem tödlich-täuschenden Sirenengesang der neoromantischen Heimkehrverheißung zu einem angeblich verlorenen deutschen Ursprung, wie sie etwa Wolfgang Borchert forderte, und entwickelt demgegenüber aus der „Odyssee“ heraus das Programm einer „fortschrittlichen Heimkehr der Menschheit in Richtung eines zunehmend zivilisierten Zustands, der nur durch Selbstreflexion abgesichert und stabilisiert werden kann“ – so Martella über Adorno. Indem Martella zwei zeitgenössische politisch Deutungen der Heimkehrgeschichte schlechthin nebeneinander stellt, wird deutlich, dass nicht nur Heimkehrdarstellungen, sondern auch deren Lektüren geschichtlich bedingt sind.

Diese kulturelle Signifikanz des Erzählens und Lesens von Heimkehrnarrativen wird im besprochenen Sammelband ansatzweise, aber selbstredend nicht abschließend deutlich. Was also Heimkehr noch alles sein kann, diese Chimäre zwischen dem simplen Vorkommnis der Rückkehr einer Person an einen gleichen Ort, verschoben in der Zeit, und einem ideologisch hoch aufladbaren Begriff, ist noch längst nicht erschöpfend erforscht und wird auch weiterhin literarisch und nicht-literarisch weiterentwickelt. „Figurationen der Heimkehr“ eröffnet insgesamt einen Blick auf ein weites, spannendes Forschungsfeld, in dem es noch viel zu entdecken gibt.

Titelbild

Kai Marcel Sicks / Sünne Juterczenka (Hg.): Figurationen der Heimkehr. Die Passage vom Fremden zum Eigenen in Geschichte und Literatur der Neuzeit.
Wallstein Verlag, Göttingen 2011.
332 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783835307421

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