Sozialer Tod

Hannah Ahlheims Dissertation „,Deutsche, kauft nicht bei Juden!‘“ erzählt von den Boykotten vor und nach 1933

Von Daniel KrauseRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Krause

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit den 1990er-Jahren sind Historiker und in der Folge auch die interessierte Öffentlichkeit auf ökonomische Aspekte der nationalsozialistischen Herrschaft aufmerksam geworden, darunter das tägliche Geschäft der Enteignung und Ausplünderung jüdischer Deutscher und der Bewohner eroberter Länder. Längst wird anerkannt, dass der Nationalsozialismus nicht anhand der Biografie Adolf Hitlers oder anderer Führungspersonen zu begreifen ist, sondern – was die Seite der Täter betrifft – durch die Analyse der ‚kollektiven Biografie‘ der deutschen Mehrheitsgesellschaft. Die Empfindungs- und Interessenlage der Millionen Deutschen, die dem Regime, mit Absicht oder nicht, zuarbeiteten, muss im Mittelpunkt stehen. Die noch durch Joachim Fests Hitler-Biografie gefestigte Meinung, die Deutschen seien Opfer einer dämonischen (Ver-)Führergestalt gewesen, ist als wissenschaftlich unseriöse, wenn auch bequeme Ausrede erkannt worden. Dies ist wesentlich Historikern wie Götz Aly, Peter Longerich und Michael Wildt zu verdanken.

Nun wartet Hannah Ahlheims Dissertation, „,Deutsche, kauft nicht bei Juden!‘. Antisemitismus und politischer Boykott in Deutschland 1924 bis 1935“, mit weiteren verstörenden Befunden zur Teilhabe des einfachen, profittüchtigen Deutschen an der Ausplünderung jüdischer Nachbarn auf – ohne der Versuchung ‚materialistischer‘ Blickverengung zu erliegen: Tatsächlich werden verschiedene Dimensionen nationalsozialistischer Politik berücksichtigt, darunter die ideologische eines unabhängig von ökonomischen Perspektiven vertretenen Antisemitismus sowie Interessenkonflikte und Konkurrenzverhalten diverser Institutionen in Staat und Partei.

Hannah Ahlheims kritisches Augenmerk gilt unter anderem einem reduzierten Begriff von Antisemitismus: „Wird […] nur der ‚maßlose‘, der radikale und offen formulierte Antisemitismus, der sich etwa in Pogromen entlud, als ‚wirklicher‘ Antisemitismus verstanden, so bleibt die Zahl der Antisemiten in der deutschen Gesellschaft tatsächlich gering. Die mentalen Strukturen, die tradierten und möglicherweise weit verbreiteten ‚Bilder vom Juden‘ […] bleiben außen vor.“ Ahlheim akzentuiert methodisch die lebensweltliche Perspektive von Tätern wie Opfern: „Erst die Analyse ganz alltäglicher Situationen, in denen die Boykotteure, die betroffenen Juden und das ‚kaufende Publikum‘ aufeinandertrafen, macht es […] möglich herauszufinden, ob, wann und auf welche Weise antisemitische Boykottaktionen das Verhältnis zwischen jüdischen und nichtjüdischen Deutschen beeinflussten, wie sie das Leben der jüdischen Geschäftsleute veränderten und welche Wirkung sie zeigten. Wichtige Grundlage der vorliegenden Untersuchung bilden daher, neben Flugblättern, Pamphleten, programmatischen Schriften und Berichten aus der Feder der nationalsozialistischen Antisemiten, die Unterlagen jüdischer Organisationen, vor allem die Akten des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (C. V.).“

„Deutsche, kauft nicht bei Juden!“ ist in zwei Hälften geteilt. Die erste stellt antisemitisch motivierte Boykotte in der Weimarer Republik dar, deren ideologische Grundlagen – so die „Phantasie vom ‚Wuchern‘ des ‚jüdischen Geistes‘“ und ‚Finanzkapitals‘ –, diverse Stereotype der Fremd- und Selbstwahrnehmung jüdischer Deutscher, propagandistische Maßnahmen der NSDAP („Antisemitismus als Wahlwerbung“) und Gegenmaßnahmen der jüdischen Seite.

Die zweite Hälfte des Buches ist den ersten drei Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft gewidmet, vom politisch forcierten Boykott am 1. April 1933 bis zur pogromähnlichen Eskalation im Sommer 1935 und zur Verkündung der ‚Nürnberger Gesetze‘. Hannah Ahlheim zeichnet ein differenziertes Bild der uneindeutigen rechtlichen Lage, widerstreitender Interessen innerhalb des Partei- und Staatsapparats, der Techniken von Exklusion und Diskriminierung („Stürmerkästen, Prangertafeln, Fotoaktionen“) und verschiedenartiger Beweggründe jener Personen, die Boykotte gegen jüdische Geschäftsleute lancierten – ob aus ökonomischem Kalkül, Geltungsbedürfnis oder schierer Lust am Krawall. Immer wieder wird die Perspektive der Opfer zur Geltung gebracht: „Auch wenn die Maßnahmen nicht immer den […] erwünschten […] wirtschaftlichen Schaden verursachten, waren sie aus der Sicht der betroffenen Juden nur allzu ‚erfolgreich‘: Sie […] trieben die Ausgrenzung der Juden vor Ort entscheidend voran und waren so Teil eines Prozesses, der im ‚sozialen Tod‘ und schließlich in der physischen Vernichtung der Juden gipfelte.“

Der Forschungsstand wird differenziert wiedergegeben. Hannah Ahlheim nimmt auf die maßgeblichen Arbeiten von Peter Longerich, Michael Wildt und anderen respektvoll wie kritisch Bezug. Über wissenschaftliche Meriten hinaus nimmt ihre Dissertation mit stilistischen Vorzügen ein: Ahlheims Ausdrucksweise ist exakt und konzise, aber einfach und für Laien durchschaubar. Der Ernst Fraenkel Prize in Contemporary History ist hochverdient.

Titelbild

Hannah Ahlheim: »Deutsche, kauft nicht bei Juden!«. Antisemitismus und politischer Boykott in Deutschland 1924 bis 1935.
Wallstein Verlag, Göttingen 2011.
452 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783835308831

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