Mehr als bloß Gehirn-Knauf

Über Hermann Schmitz’ philosophische Studie „Der Leib“

Von Stefan DiebitzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Diebitz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In der „Unsichtbaren Loge“ lässt Jean Paul seinen Helden Ottomar ein interessantes Gedankenexperiment anstellen. Weil „den eigentlichen Körper der Seele nur Gehirn und Rückenmark ausmachen“, entscheidet sich Ottomar dafür, einer Person in Gedanken die Haut abzuschinden, ihr ferner die Knochen herauszuziehen und sich endlich das Fleisch und Gedärm wegzudenken, „bis nichts mehr auf der Ottomane saß als ein Mark-Schwanz mit einem Gehirn-Knauf oben dran.“

Damit trifft der Dichter des ausgehenden 18. Jahrhunderts so ziemlich präzise die Weltsicht von Gehirnforschern und Bewusstseinsphilosophen unserer Tage, die Feuilleton und Nachtprogramm gleichermaßen dominieren und in deren Werken sich der Leib mit einer bloßen Statistenrolle begnügen muss.

Die Gegenposition nimmt Hermann Schmitz ein, als Phänomenologe des Leibes und auch sonst eine singuläre Gestalt in der deutschen Philosophie seit 1945. Sein Hauptwerk, das zehnbändige „System der Philosophie“, ragt als ein erratischer Block in die bunte Büchermasse, welche die Regale unserer Bibliotheken füllt. Wie viele intellektuelle und philosophische Moden sind seit 1964, als der erste Band des „Systems“ erschien, an uns vorübergegangen? Schmitz selbst war niemals Mode, und schon der bloße Umfang seines Werkes wird auch in Zukunft eine echte Popularität dauerhaft verhindern, aber dank seines originellen, höchst anregenden Denkstils und wegen seines enormen Fleißes – die Zahl seiner Bücher ist Legion – dürfte er sich schon heute einen dauerhaften Einfluss gesichert haben, wovon eine „Gesellschaft für Neue Phänomenologie“ mit ihren Tagungen und Publikationen ebenso Zeugnis ablegt wie die seiner Philosophie gewidmete Stiftungsprofessur an der Universität Rostock.

Die Gegenwartsphilosophie kennt keinen anderen Denker, der so sehr wie Hermann Schmitz von einer Philosophie des Leibes ausgeht. Ein „ungeheures Reich“ nannte er schon 1966 den Leib, „das Nächste und Schicksalhafteste“. In seinem Hauptwerk ist die philosophische Methode – die Neue Phänomenologie – ohne eine ausgearbeitete Philosophie des Leibes überhaupt nicht zu denken, und bereits deshalb war kein Autor kompetenter als Schmitz, für die „Grundthemen Philosophie“ des de Gruyter Verlages den entsprechenden Band über den Leib zu schreiben.

Schmitz, dem in dieser Hinsicht allein Max Scheler vorausging, hebt den Begriff des Leibes mit großer Schärfe vom Körper ab. Leib ist für beide Denker das, was wir auch ohne Zuhilfenahme von Sinnesorganen spüren, wogegen sich unser Körper ertasten oder in einem Spiegel anschauen lässt. Zu unserem Leib können unter Umständen auch Phantomglieder gehören, und so ist Leib etwas, das sich zwar gelegentlich oder vielleicht gar zumeist mit dem Körper deckt, keinesfalls aber mit ihm identisch ist. Anders als der Körper besitzt der Leib keine Fläche, wohl aber Volumen; nur ist es, wie Schmitz sagt, ein „prädimensionales“ Volumen gleich dem Wasser, in dem wir schwimmen oder tauchen, und wir nehmen es mit einem Leibgefühl wahr, das nicht an einzelne Sinnesorgane gekoppelt ist. Den Leib zeichnet also eine Art dynamische Tiefe aus, die sich aus immer wieder neu bildenden und auflösenden „Leibesinseln“ zusammensetzt.

Der Leib ist das, in dem wir unbewusst zu Hause sind und in dem wir uns deshalb mit manchmal traumhafter Sicherheit bewegen. Das Lieblingsbeispiel von Schmitz hierfür ist das geschickte Ausweichen, mit dem ein Mensch fast tänzerisch eine dicht gedrängte Masse durchquert, ohne einen anderen Menschen zu berühren.

Die Bestimmungen, von denen Schmitz ausgeht und die seine Philosophie allererst zu einer phänomenologischen machen, sind überhaupt nur denkbar als solche einer Philosophie des Leibes, die auf einer strengen Selbstbeobachtung gründet und ohne eine präzis akzentuierende Sprache nicht denkbar ist. Gelegentlich, etwa bei seinen häufigen Aufzählungen, erinnert Schmitz’ Stil an den von Ludwig Klages, der ebenso wortreich und nuanciert argumentiert und auf den sich Schmitz manchmal bezieht. Er entwickelt aber seine Argumentation auf eine ganz andere und sehr eigene Weise, nämlich aus dem Antagonismus von Engung und Weitung, deren gegenseitige Stimulation er als den vitalen Antrieb des Leibes bestimmt und noch durch ein weiteres Begriffspaar ergänzt, den Gegensatz von epikritisch und protopathisch.

Zunächst fasst der Autor alle leiblichen Regungen entweder unter Weitung oder Engung beziehungsweise unter Schwellung oder Spannung zusammen und exemplifiziert seine Argumentation an Schmerz, Angst und Wollust. Ergänzend dazu der zweite Gegensatz. Protopathisch ist das Verschwimmende und sich Verlaufende, epikritisch das Spitze, genau Lokalisierbare und Scharfe. „Der dumpf ausstrahlende Bauch- und Eingeweideschmerz ist protopathisch, der hellere, schärfere Stich- und Zahnschmerz epikritisch.“

Schmitz spricht auch über die Richtung, die der vitale Antrieb erfährt, aber was in seinen sonst so vollständigen, gelegentlich dank ihrer alles und jedes erfassenden Systematik ermüdenden Untersuchungen fehlt, ist der Unterschied zwischen links und rechts, der zu den großen Rätseln unserer Raumerfahrung zählt und dessen Problematik ein erstes Mal von Immanuel Kant in seinem Aufsatz über den „Unterschied der Gegenden im Raume“ entfaltet wurde. Dieser Aspekt findet sich von Schmitz an keiner einzigen Stelle berührt, obwohl er ganz unbedingt zu unserer Leiberfahrung gehört und sogar auf höchst vielfältige und bedeutungsvolle Weise Eingang in unsere Sprache gefunden hat. Schließlich sind die Richtungen des Raumes aus der Sicht eines Leibes, wie jeder weiß, schon in ihrer Etymologie mit einer moralischen Bewertung verknüpft, und das in verschiedenen Sprachen auf dieselbe Weise. Aber darüber findet sich kein Wort.

Den Ausdruck des Leibes deutet Schmitz in einem „Leibliche Kommunkation“ überschriebenen Kapitel. Kommunkation vollzieht sich, wenn ein Leib die Bewegung eines anderen Leibes beantwortet oder aufnimmt – „Einleibung der Affekte“ nennt Schmitz diesen Vorgang – was den Nachvollzug einer Bewegung oder das Abstimmen von Körperbewegungen beziehungsweise Angleichen von Bewegungssuggestionen meint. „Solches Ineinandergreifen von Aktion und Reaktion auf Grund der Verschränkung von Engung und Weitung im gemeinsamen Antrieb, ohne vor die Reaktion eingeschalteter Pause, ist ein Leitsystem der Einleibung von Mensch und Tier“. In der Ausleibung kann sich der Mensch in der Weite verströmen, aber die Beispiele, die Schmitz hier gibt – etwa das Sonnenbad, in dessen wohliger Wärme Selbstverlust oder Selbstvergessenheit auftreten mag – würden wohl nicht von jedermann als Kommunikation verstanden werden.

Nicht leicht nachvollziehbar ist Schmitz’ Theorie der Gefühle, die als Atmosphären und damit als nicht greifbare Wesenheiten außerhalb unserer selbst bestimmt werden. Schmitz spricht über „das Fühlen der Gefühle“ und das „Eingreifen der Gefühle in den Leib“, als kämen die Gefühle von außerhalb unserer selbst, als seien sie also in ihrem Ursprung nicht auf uns selbst zurückzuführen und nicht etwa unsere eigene Reaktion auf ein Geschehen. Schmitz kennt keine Gefühle als Organempfindungen, sondern in seiner Darstellung werden Leibesinseln durch Gefühle besetzt. Damit stellt er sich gegen die in Philosophie und Psychologie seit William James und Carl Lange akzeptierte Deutung der Gefühle als die Selbstwahrnehmung des Leibes.

Es versteht sich von selbst, dass eine derartige Philosophie des Leibes sich entschieden gegen die materialistische Marginalisierung der heutigen Philosophie wenden muss. Schließt sich die Philosophie in der Sicht zahlreicher Autoren wie etwa Michael Pauen oder Thomas Metzinger ganz an die Hirnforschung an, ja beschränkt sie sich allzuoft auf die bloße Ausdeutung von deren Ergebnissen und reduziert sich damit selbst auf die traurige Rolle einer Magd der Hirnforschung, spielt das Gehirn in Schmitz’ Argumentation keinerlei Rolle und wird nur beiläufig erwähnt, wenn er in der Hirnforschung platonische Tendenzen entdeckt. Und es ist wirklich wahr: Steckte für Platon die Seele im Gefängnis des Körpers, so befindet sich in der Sicht des Hirnforschers das Gehirn in einem Körper, der ihm weitgehend fremd und unverbunden bleibt und sich entsprechend links liegen gelassen sieht. Insofern ist Hirnforschung ein materialistischer Platonismus, der den Leib nicht einmal mehr von ferne wahrnimmt, und das Bild des auf dem Sofa hockenden Gehirn-Knaufs mit Markschwanz kann das Weltbild eines Wolf Singer-Jüngers schön illustrieren.

Wohl jeder Leser von Schmitz’ Büchern hat den Eindruck, dass dieser Denker sich seiner Sache beneidenswert sicher ist; er doziert und belehrt, und Probleme werden fast immer nur entfaltet, um unverzüglich einer Lösung zugeführt zu werden. Seiner eigenen Aussage zufolge stellt dieses Buch eine veränderte Fassung des zweiten Bandes seines „Systems der Philosophie“ dar, der 1966 erschien, und weil der Autor bereits im Eingang des 1964 publizierten ersten Bandes das gesamte zehnbändige Werk skizziert, kann man sagen, dass er seit 47 Jahren diese Philosophie des Leibes (fast) ohne alle Abstriche und mit denselben Argumenten und denselben Beispielen vertritt. Er zitiert außer seinen eigenen Schriften deshalb auch kaum neuere Literatur, sondern meist ältere seit der Antike – diese allerdings ist so bemerkenswert breit gestreut, dass man ihn für seine Belesenheit nur bewundern kann. Immer wieder wird psychologische, medizinische, kulturhistorische oder kunstgeschichtliche Literatur herangezogen, um nur einige Bereiche zu nennen, und natürlich greift er ebenso auf die Dichter seit Homer wie auf die Philosophie seit den Vorsokratikern zurück. Auch deshalb gerät die Lektüre seiner Schriften nur zu leicht zu einem echten Abenteuer des Denkens. Es gibt nicht viele Autoren, bei deren Lektüre man so viel Neuem und Anregendem begegnet.

Titelbild

Hermann Schmitz: Der Leib.
De Gruyter, Berlin 2011.
200 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783110250985

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