„Der Turm stürzt ein“

Warum Susanne Riedel den 11. September in ihren Roman „Eine Frau aus Amerika“ „hineingequirlt“ hat

Von Volker MergenthalerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Mergenthaler

Die einschlägigen Feuilletons haben früh schon und deutlich genug markiert, dass sich aus den terroristischen Anschlägen auf das World Trade Center in New York City und das Pentagon in Washington für die deutschsprachige Literatur grundsätzliche Fragen ableiten. „Was“, so lautete die erste, „folgt aus der veränderten Weltlage für die Literatur?“ und „wie“, so die zweite, „reagieren Schriftsteller auf die Terroranschläge in den USA?“[1] Im einen Fall ist „die Literatur“ als Feld gefasst, dessen neue ästhetische Koordinaten sich aus den geschichtlichen herleiten, im andern Fall stehen „die Schriftsteller“ im Zentrum, die über die relative Freiheit verfügen, so oder anders zu „reagieren“. Dass sich das Feld der „Literatur“ maßgeblich verändert habe und dass die „Schriftsteller“ reagieren würden, beschreibt indes eher eine durch solche Äußerungen erst hervorgebrachte Ordnung als einen der literaturkritischen Analyse vorgängigen Sachverhalt.

„Wer sich an schwere Themen wie […] den 11. September“ wagt …

Susanne Riedel, bekannt geworden durch die Romane „Kains Töchter“ und „Die Endlichkeit des Lichts“, hat nicht einmal eineinhalb Jahre nach den Terroranschlägen, am 1. Februar 2003 nämlich, ihren dritten Roman „Eine Frau aus Amerika“ auf den Markt gebracht.[2] Was im Umfeld des Ich-Erzählers Hannes, eines Neurobiologen, gelingt – „In Kollegenkreisen umgehen wir inzwischen alles, was an das Thema rührt, kalter Entzug“ (76 f.) –, hat Riedel selbst, wie es scheint, nicht zu leisten vermocht oder nicht beabsichtigt. Sie ist stattdessen dem Ruf der Feuilletons gefolgt und hat wie nicht wenige Autorinnen und Autoren vor ihr (und auch später noch) „einen Schuss 11.-September-Betroffenheit hineingequirlt“[3] in ihren Text. Er gehört zwar nicht zu den „Romanen und Erzählungen […], deren Cover […] werben mit dem Hinweis ‚Der Roman zum 11. September’“,[4] gleichwohl hat man ihn, wenn auch nicht ausschließlich, als ‚Nine-Eleven’-Text beurteilt. „Wer sich an schwere Themen wie Auschwitz, Wiedervereinigung oder den 11. September“[5] wagt, strebt danach, so sieht es Sibylle Cramer im „Tagesspiegel“ – und wie sonst sollte es sein? –, dem eigenen „Erzählen geschichtliche, ja politische Brisanz zu verschaffen“.[6] Und nur Autorinnen oder Autoren von höchstem Rang sind anscheinend in der Lage, dies zum ästhetischen Vorteil ihrer Texte zu leisten. Riedel allerdings verfügt, zumindest nach Einschätzung von Cramer, „über die ästhetischen Mittel nicht“, ein so „ehrgeizige[s]“[7] Anliegen erfolgreich umzusetzen. „Es waren und sind immer“, diese Auffassung ist in der „Neuen Zürcher Zeitung“ vertreten worden, „die Autoren mit mangelndem künstlerischen Gestaltungsvermögen, die sich an politische Großereignisse und die aus ihnen erwachsenden ‚Debatten’ anhängen.“[8]

Dabei hätte die Autorin es wahrlich besser wissen können: Dienstbeflissene Leserinnen und Leser der deutschsprachigen Feuilletons sind früh genug und besonders eindringlich im Umfeld des ersten Jahrestages der Attentate darüber informiert worden, dass es ein Irrtum sei, anzunehmen, „nach dem Ereignis“ habe sich „eine Lücke für Literatur“ aufgetan, „eine Nische für die Dichtung“.[9] Es war zu erfahren, dass es ungemein „schwer“ sei, „aus dem Trauma Literatur zu machen“, dass die „Schockwirkung“ der Attentate zwar nachgelassen habe, dass es „für anspruchsvolle Romane“ aber noch immer „zu früh“[10] sei. „Eine hurtige ‚Eingreiftruppe am Schreibtisch’“ hatte, zumindest nach der Zählung Jörg Plaths, „allein in den ersten vier Wochen danach mehr als 40 Texte, Statements und Gespräche in deutschen Printmedien“[11] veröffentlicht. „Dutzende, ja vielleicht hunderte von deutschen Schriftstellern haben sich nach den Terroranschlägen vom 11. September zu Wort gemeldet, in Akten emphatischer Zeitgenossenschaft. Doch sind sie“, wie Thomas Steinfeld in der „Süddeutschen Zeitung“ bilanziert, „alle schon vergessen“.[12] Und die wenigen ‚Nine Eleven’ aufgreifenden „(literarischen) Texte“, die man im Herbst 2002 noch nicht vergessen, sondern diskutiert hat, „überzeugen“ nach Einschätzung Werner Jungs „allesamt nicht – weder die amerikanischen (von Don de Lillo etwa) noch die deutschen“.[13]

Durs Grünbein, Kathrin Röggla, Barbara Bongartz, Alban Nikolai Herbst, Else Buschheuer, Ulrich Peltzer, Max Goldt und Gregor Hens – sie alle haben noch vor Erscheinen des Riedel’schen Romans literarische oder als literarisch wahrgenommene Texte vorgelegt,[14] die sich auf die Terroranschläge beziehen:[15] „lauter Katastrophen“,[16] befand Volker Weidermann. Der „Sprachmeister“ Durs Grünbein habe mit der am 19. September 2001 bereits publizierten und auf die Terroranschläge reflektierenden Fortsetzung seiner „Berliner Aufzeichnungen“ „Kriegs-Kitsch“ produziert.[17] Kathrin Röggla hat „Deutschlands schnellstes 9-11-Buch“[18] vorgelegt, montiert aus zuvor bereits in der „taz“ und im „Falter“ abgedruckten essayistischen Einzelbeiträgen; es war, so Lothar Schröder in der „Rheinischen Post“, „nicht zu retten“.[19] Der von Bongartz und Herbst vorgelegte „Anfang eines Romans in Briefen“ wurde eingestuft als „peinlicher Alternativkitsch im literarischen Gewand, appliziert auf die Katastrophe vom 11. September“.[20] Else Buschheuers „New York Tagebuch“ hätte für „eisenharte Buschheuer-Fans sogar nett werden können“ – „ohne die Katastrophe“; mit dieser sei „aus dem […] Tagebuch ein Dokument des schrillen Scheiterns“[21] geworden. Ulrich Peltzers „Erzählung“ „Bryant Park“, ein literarisch ambitionierter Versuch, den 11. September in eine komplexe narrative Struktur zu integrieren, demonstriere, „wie mit den Twin Towers ein Buch in Schutt und Asche sinken kann“.[22] Max Goldts „Tagebuch-Buch“ „Wenn man einen weißen Anzug anhat“, immerhin noch vier Monate vor Riedels Roman erschienen, umkränze „das heavy Datum kokett mit alltagsbanalen Beobachtungen“,[23] um dann „vor den terroristischen Zumutungen […] das Weite“[24] zu suchen. Gregor Hens’ Erzählung „Himmlische Erde“ schließlich verrate die in ihrem Zentrum stehende „Love Story ein ums andere Mal an den ‚rauchenden Krater’ von Ground Zero“.[25]

„Eine Frau aus Amerika“ gehört zwar nicht zu denjenigen Texten, die gelobt worden sind, weil sie dem ästhetisch sperrigen Thema ostentativ die kalte Schulter zeigen, nur einen oder zwei Sätze daran verlieren,[26] denn der 11. September ist in Riedels Roman als Anspielungshorizont klar präsent, rückt aber gleichwohl nicht in den Vordergrund. Die einschlägigen Bezeichnungen[27] ‚11. September’, ‚Nine Eleven’, ‚9/11’ oder ‚9-11’ werden konsequent ausgespart, die Ereignisse anders als bei Grünbein, Röggla, Bongartz und Herbst, Buschheuer, Peltzer, Goldt und Hens weder beim Namen genannt noch beschrieben. Bis zum Ende des ersten Drittels, bis zur Seite 75 bietet Riedel ihren Leserinnen und Lesern keine Veranlassung, den Roman überhaupt als eines der „Bücher zum 11. September“[28] zu bestimmen. Es folgen dann auf nur 15 von insgesamt 227 Druckseiten Hinweise auf die Terroranschläge und ihre Folgen,[29] von denen die meisten allerdings nur deshalb auf die Ereignisse vom 11. September 2001 hin transparent sind, weil sie durch wenige konkrete Bemerkungen entsprechend ko(n)textualisiert werden. Und dies geschieht so dezent, dass immerhin eine Rezensentin des Romans das Geschehen „Mitte der Neunziger Jahre“[30] ansiedeln und den zeitgeschichtlichen Anspielungshorizont vollständig übersehen konnte: Die Rede vom „Chaos“ (75) oder der „Krise des Septembers“ (165), von einem „Satz, der eine Vergangenheit in Schutt und Asche legt“ (89), von einem „halbgaren Versuch, über New York zu reden“ (90), von „New Yorker Traumata“ (102), von „Friedensschleifchen“ (107), die Rede davon, dass „in Kollegenkreisen […] inzwischen alles“ umgangen wird, „was an das Thema rührt“ (76 f.), dass „nicht alles“, die Gereiztheit und Aggressivität Sharons, „an New York liegen“ (152) kann, gewinnt ihren spezifischen Sinn erst vor dem Hintergrund ausreichend konkreter Anspielungen auf die Terroranschläge: wenn Hannes mitteilt, dass Sharon „Flugzeuge in Türme fliegen“ (77) und anschließend noch unmittelbar sah, was die „Breaking News“ wieder und wieder im Fernsehen gezeigt haben, wie nämlich „die Türme einstürzten“ (213).

Ist die ‚Nine Eleven‘-Rede aber tatsächlich „hineingequirlt“[31] worden, nur um dem „Erzählen geschichtliche, ja politische Brisanz zu verschaffen“?[32] Und dies zu einem Zeitpunkt, als die von namhaften Autorinnen und Autoren betriebene Auseinandersetzung mit dem 11. September bereits öffentlich und an prominenter Stelle als „Anbiederung und Effekthascherei“[33] gegeißelt worden war, als die mit der ästhetischen Aneignung des 11. Septembers verbundenen Risiken für das auf dem literarischen Feld bereits erwirtschaftete symbolische Kapital der Autorinnen und Autoren längst hinlänglich bekannt waren?[34] Verhielte es sich tatsächlich so, dann müsste die in Riedels Roman „hineingequirlt[e]“ „11.-September-Betroffenheit“[35] weitgehend dysfunktional sein für das erzählte Geschehen ebenso wie für die ästhetische Faktur des Riedel’schen Romans. Dies trifft indes nicht zu – weder für die diegetische Welt noch für die Diegese.

„Das kann doch nicht alles an New York liegen“ – Sharons Trauma und die Funktion von ‚Nine Eleven’ in der diegetischen Welt

Seit „dreißig Jahren“ (14, 26), in der durch den 11. September 2001 determinierten Zeitrechnung des Romans also seit 1971 sind Sharon und Hannes ein Paar. Kennengelernt haben sie sich „in Boston“ (147) „auf einer Tagung über interdispziplinäre Statistik“ (10). Erst drei Jahrzehnte später verreist Sharon „zum ersten Mal allein“ (213), und zwar, wie Hannes glaubt, „zu einer Konferenz nach New York“ (75). Hannes hat sich, da die Terrorattentate verübt wurden, während er Sharon in New York wähnt, „um sie geängstigt, als ich in den Breaking News die Ketten rasender Bilder sah. Ich telefonierte Hotel für Hotel ab, weil sie vergessen hatte, mir die Adresse aufzuschreiben, erst nachts rief sie mich an, schwieg dann aber minutenlang ins Telefon. Sie wollte überhaupt nichts mehr reden. Sie war gesund, es ging irgendwie weiter. […] So haben wir tagelang am Telefon geschwiegen, sie auf ihrer Seite, im toten New York, aus dem sie mit dem Flugzeug nicht herauskam, und ich auf meiner, zu Hause, in Pennsylvania. […] Als sie endlich wiederkam, schwieg sie jedoch weiter, saß vor dem Fernseher, bestellte immer wieder den Pizzaservice und beklebte in ihrer restlichen Freizeit einsilbig die Post an ihre Studenten mit den neuen 34-Cent-Briefmarken, die mit United we stand beschriftet waren. Mit dem Ornithologen verteilte sie eines Sonntagmorgens gelbe Zettel in der Nachbarschaft, auf denen Hate Free Zone stand. Ich glaube nicht, daß Sharon plötzlich zur flammenden Patriotin geworden war, ich glaube, sie war traurig. Aber mit letzter Sicherheit kann ich es auch nicht sagen. Vielleicht, wenn ich ihre Briefe verstanden hätte, die ich im Schreibtisch fand und in meiner Aktentasche begrub. Erst mit dem Kulturaustausch drehte sich endlich der Wind. Ich war froh, als sie mich wieder beschimpfte […].“ (213 f.)

Gleichwohl bleibt Sharon ungewöhnlich gereizt und aggressiv – gegenüber Hannes, der Deutschland 1966 (213) verlassen hat, ebenso wie gegenüber den Gästen aus Deutschland. Da Hannes Sharon „nicht bedrängen“ (214) und den Grund für ihre Veränderung nicht im Gespräch suchen will, bleiben ihm, dem Neurobiologen, nur Beobachtung, Reflexion, Hypothesenbildung und Verifikation oder Falsifikation: „Natürlich besteht die Möglichkeit, daß sie unter zyklischen Aggressionen leidet. Mit Sicherheit aber hat es nichts mit mir zu tun, sondern ist ein grundsätzlicheres Problem. Vielleicht sogar die Wechseljahre, wobei der Biologe in mir der Ansicht ist, daß sie diese Phase längst ohne weitere Vorkommnisse hinter sich gebracht hat“ (84). Dass Sharon mit dem deutschen Gast Michael ein „Verhältnis“ (167) haben könnte, erweist sich als ebenso unzureichend wie die Vermutung, sie sei „eventuell […] überarbeitet“ (173). Im Wissens- und Verständnishorizont von Hannes bleibt daher nur eine, aus Zeitpunkt und Ziel der Reise abzuleitende Erklärung für Sharons Wandel: Es muss wohl „mit New York zu tun“ (173) haben. „Wer Flugzeuge in Türme fliegen sieht“ (77) und erfährt, wie „eine Stadt in Trümmern“ (214) liegt, hat wohl, so lautet die in Hannes’ Augen zunächst noch plausibelste Erklärung, ein veritables Trauma erlitten. Und doch lässt sich das eigentümliche Verhalten Sharons mit der „Macht der New Yorker Traumata […] nicht wirklich“ (102) hinreichend erklären.

Erst nach Sharons Tod erfährt Hannes, und zwar rein zufällig, dass seine langjährige Partnerin während der Terroranschläge nicht zur besagten „Konferenz nach New York“ (75), sondern nach Berlin zu einem „Treffen im Rathaus Schöneberg“ (229) gereist war. Und zwar zu einem Treffen von „Töchter[n] jüdischer Abstammung“, die „bei Kriegsende von Amerikanern, Engländern oder Russen aus verschiedenen Vernichtungslagern geholt worden“ waren – und „Sharon ist eine von ihnen“, „eins von den deutschen Kindern, die keine Eltern mehr haben, weil aus ihren Eltern Seife gemacht wurde“ (230).

Es wird nicht ausgesprochen, doch deutet vieles darauf hin, dass diese Begegnung „nach Jahrzehnten in Berlin“ (230) das von Sharon Verdrängte hat wiederkehren lassen und „ihre Wutausbrüche“ (165) darauf zurückzuführen sind. Der von Hannes, von den deutschen Gästen Michael, Jo-Hannes und Ria mit Sharon ausgetragene Streit ist daher nicht oder zumindest nicht in erster Linie als Ausdruck deutsch-amerikanischer Differenzen zu verstehen. Er entspringt nicht, wie Hannes und die Gäste aus Deutschland meinen, der Opposition ‚deutsch/amerikanisch’, sondern vor allem der Opposition von durch ihre Geschichte belasteten Deutschen auf der einen und einem Opfer des NS-Regimes auf der anderen Seite. Dreißig Jahre lang konnte Sharon ihre Erfahrung verdrängen und verheimlichen, und dreißig Jahre lang ist Hannes verborgen geblieben, nicht nur dass sie gefärbte Kontaktlinsen und eine Zahnprothese trug, sondern dass sie in Deutschland und nicht in Amerika geboren wurde, dass die Hannes präsentierte Identität vom Elterngrab in einem „Nest in Utah“ (145) über „Auntie Dawn“ (147) bis hin zur „Konferenz“ in „New York“ (75) ein Potemkin’sches Dorf war.

Diese Wendung wirft kein günstiges Licht auf die Partnerschaft, und insbesondere nicht auf Hannes. Nicht darauf allein aber sollte sich die Aufmerksamkeit richten,[36] sondern zudem auf die Auswirkungen dieser Wendung auf den Stellenwert, der den Ereignissen des 11. September im Romangeschehen zukommt. So lange der Leser bereit ist, der Deutung von Hannes zu folgen und Sharon für eine unmittelbare Augenzeugin der in den „Breaking News“ (213) mitgeteilten Ereignisse zu halten, bis zur zweihundertfünfundzwanzigsten von zweihundertsiebenundzwanzig Seiten also, so lange zielt das Romangeschehen ungebrochen auf die Integration der von Reinhard Baumgart reklamierten „11.-September-Betroffenheit“.[37] Sharons Täuschungsmanöver verschiebt allerdings, als es auffliegt, die „Betroffenheit“ vom „11. September“ zur Shoah. Und auch hier sollte die Aufmerksamkeit nicht allein der schrecklichen Vorgeschichte Sharons gelten, nicht allein demjenigen Sachverhalt, den der Roman ins Rampenlicht rückt,[38] sondern wiederum zugleich auch dem Stellenwert, der den Ereignissen des 11. September zukommt. Sharon hat das „Chaos des Septembers“ (75) instrumentalisiert für die Farce, mit der sie ihre verdrängte traumatische Kindheitserfahrung vor Hannes verbergen wollte.

Warum hierfür aber ‚Nine Eleven’ überhaupt herangezogen wird und die Autorin das mit dem Versuch einer Literarisierung der Terroranschläge bekanntermaßen verbundene Risiko des Scheiterns eingeht, ist in der Logik der vorgestellten Welt nicht plausibel zu klären. Und auch nicht, weshalb diese Enthüllung am Ende des Romans erst mitgeteilt wird: „Leider“, so klagt Baumgart, „ahnt man zwar bald das Geheimnis, nur nicht, warum der Roman es so lange verdeckt hält“.[39] Antworten auf diese Fragen sind, wie ich meine, erst dann zu finden, wenn man die Architektur des Romans genauer in den Blick nimmt.[40]

„Eine doppelte, gut vernähte Geschichte“ – zur Architektur des Romans

Eröffnet wird Riedels Roman von einem Zitat aus einem „Zeugenbericht der Tunguska-Explosion von 1908“ ([5]). Es folgt ein dem ‚eigentlichen’ Text unmittelbar vorangestelltes Motto „Auf Löwen und Ottern wirst du gehen. (Psalm 91)“ (7), dann ein etwa eine halbe Seite umfassender Abschnitt, der zu weiten Teilen und mit geringfügigen Veränderungen und Umstellungen am Ende noch einmal wiederholt wird (7, 231 f.).

In diesen Rahmen gespannt sind zwei von Hannes dargebotene narrative Komplexe. Im Zentrum des einen steht eine von Hannes unternommene mehrtägige Reise nach Berlin, im Zentrum des andern der sogenannte „Kulturaustausch“ (15 u.ö.), das Zusammentreffen von Hannes, Sharon und den drei von ihr in die Vereinigten Staaten eingeladenen Deutschen. Die einzelnen Schilderungen des Kulturaustauschs werden jeweils mit Ort und Datum versehen, wobei im Unklaren bleibt, ob diese auf das geschilderte Erlebnis bezogen sind, auf den Moment seiner Aufzeichnung oder auf beides gleichermaßen. Die erste Datierung lautet: „Freitag, 28. September“ (9), die letzte „Samstag, 27. Oktober“ (215). Die Schilderung der Zeit in Berlin kommt ohne solche Angaben aus. Gleichwohl wird deutlich,[41] dass die Reise nach Berlin im Erlebnishorizont der Handelnden zwar, nicht aber in der erzählerischen Präsentation unmittelbar an den Kulturaustausch anschließt.

Den Anfang des ‚eigentlichen’ Textes macht – sieht man ab vom zunächst noch nicht klar zuzuordnenden Auftakt – das Berlinreise-Narrativ. Es wird insgesamt dreißig Mal unterbrochen.[42] Dreißig Mal nämlich werden Abschnitte aus dem Kulturaustausch-Narrativ in die Erzählung eingelassen und fundieren die, wie man beklagt hat, allzu „schematische Konstruktion des Romans“.[43]

Beide Narrative laufen jeweils auf eine individuelle Katastrophe zu: Die Schilderung des Kulturaustauschs endet mit dem Schmerz, den Hannes nach dem Tod Sharons verspürt – ein Schmerz, der auf den erlittenen Verlust zurückzuführen ist und auf die kränkende Einsicht, dass er sich von Sharon ein völlig unzureichendes Bild gemacht hatte. Die Schilderung der Berlinreise endet mit dem Schmerz, den Hannes nach der Entdeckung der tatsächlichen Vorgeschichte Sharons in einem beiläufig erworbenen Buch verspürt – ein Schmerz, der auf die Einsicht zurückzuführen ist, dass Sharon diese Vorgeschichte gegenüber Hannes nicht aussprechen, mit ihm nicht teilen konnte oder wollte, und darauf, dass die vor allem gegen Ende des Kulturaustauschs von Hannes gegen Sharon gerichteten Verbalattacken – „Weißt du, weshalb ich so bin? Weshalb ich schlechte Zähne habe? Hast du Hunger gehabt? Hast du nachts nicht geschlafen? Du bist ein Nichts Sharon. Du hast nichts erlebt“ (200) – unzutreffend waren, ja dass er seine langjährige Lebenspartnerin unmittelbar vor ihrem Tod in einer für sie existentiellen Krisensituation nicht etwa gestützt oder wenigstens verstanden, sondern aufs empfindlichste verletzt hat.

Die erste Katastrophe, Sharons Tod, kommentiert Hannes gegen Ende des Kulturaustausch-Narrativs mit den Worten „Der Turm stürzt ein“ (230): „‚Sie ist’, sagte ich zuletzt, ‚Amerikanerin. Mit einem hervorragenden weißen amerikanischen Gebiß!’ Ich wollte ihre Papiere holen und ihm [dem diensthabenden Arzt; V.M.] klarmachen, daß sie aus Amerika kam, obwohl ich mit deutschem Dialekt sprach. Es würde sich schnell aufklären. Wenn er mir nur glaubte, daß sie Amerikanerin war. […] Da brüllte ich ihn an […] und deutete auf den Plastikbeutel. ‚Ist das die Art‘, sagte ich, ‚wie man hier mit persönlichen Dingen umgeht?‘ ‚Ja‘, sagte er, ‚in solchen Fällen. Es tut mir wirklich leid.’ Als ich den Beutel mit Sharons wunderbaren Zähnen nahm und ihn genau ansah, wußte ich, daß etwas mit mir nicht stimmte. Herzen blieben nicht stehen. Ich sagte Ria und Michael im Warteraum, daß wir gehen könnten, und sie starrten mich an, aus einer Farbe heraus wie Wasser. […] Der Turm stürzt ein, sagte eine Stimme.“ (227 f./230).

Dieser letzte Satz schließt allerdings nicht unmittelbar an die Auseinandersetzung im Krankenhaus an. Ihm vorgeschaltet ist nämlich ein etwa zwei Druckseiten umfassender Abschnitt aus dem Berlinreise-Narrativ, den es zu überbrücken gilt,[44] um das Kulturaustausch-Narrativ kohärent weiterführen zu können: Als Hannes begreift, dass Sharon, anders als er bislang geglaubt hatte, keine natürlichen Zähne mehr besaß, und dass sie tatsächlich tot ist, in diesem Moment – so will es die Hannes’ Gemütszustand fassende Metapher – „stürzt“ „der Turm […] ein“.

Sich indes auf diese eine Form der Kohärenzbildung festzulegen, griffe angesichts der narrativen Komplexität dieses so „kunstvoll konstruierten Roman[s]“[45] entschieden zu kurz. Denn der besagte Satz lässt sich ebenso – und durchaus gleichberechtigt,[46] – an den unmittelbar davor geschalteten Abschnitt des Berlinreise-Narrativs anschließen: „Es ist das Foto eines Treffens im Rathaus Schöneberg. Es ist noch nicht lange her. Alle sind sie erwachsene Töchter jüdischer Abstammung. Sharon ist eine von ihnen. Sie sind bei Kriegsende von Amerikanern, Engländern oder Russen aus verschiedenen Vernichtungslagern geholt worden. Später hat man einige von ihnen adoptiert. Dieses eine Mal trafen sie sich nach Jahrzehnten in Berlin. Da steht Sharon. […] Ich blicke auf das Datum. Das Bild stammt aus dem Herbst, in dem sie zum ersten mal allein in New York war. Ich habe sie zum Flughafen gebracht, und sie hat mich jeden Tag angerufen. Ich hätte es gewußt haben sollen. […] Du hättest es wissen können, sagt Sharon, aber du hast es nicht gewußt. Was kümmert es dich, es ändert doch nichts. […] Sie ist eins von den deutschen Kindern, die keine Eltern mehr haben, weil aus ihren Eltern Seife gemacht wurde. […] Das Entsetzliche daran ist, daß es alles ändert. […] Der Turm stürzt ein, sagte eine Stimme.“ (229 f.)

Für den Leser konvergieren am Ende des Romans – der vermeintlich manierierten,[47] zwei Narrative ineinanderflechtenden Erzählstruktur und der Rede vom einstürzenden Turm ist es zuzuschreiben – zwei vexierbildartig ineinander entfaltete individuelle Katastrophenerfahrungen in einem Punkt:[48] Zwei Türme stürzen demnach ein, und zwar annähernd simultan – simultan aber nur in dieser spezifischen narrativen Anordnung, nur in der kunstvollen erzählerischen Darbietung durch Hannes, nicht in seinem lebensweltlichen Erfahrungshorizont.

Einstürzende Türme

Die Rede vom einstürzenden Turm, die aufgrund ihrer doppelten Anschlussfähigkeit zu einer Rede von den beiden im individuellen Empfinden von Hannes einstürzenden Türmen wird, dieses metaphorische Sprechen nun ist durch Hannes’ Erzählung zuvor bereits mit Bedeutung aufgeladen worden. In Berlin hat Hannes sich, noch ehe er auf die Vorgeschichte von Sharon stößt, „gefragt, wie es ist, wenn man stirbt, aber ich kann es nicht sehen, nur hören. Man muß sich schließlich dem Pfeifen ergeben. Es ist die Plötzlichkeit der Stille. Ich habe es lange gehört. Jahre, bevor Sharon zum ersten Mal allein verreiste, lange, bevor die Türme einstürzten“ (213). Diese „Türme“ verweisen nicht metaphorisch auf eine andere Bedeutungsebene; sie referieren vielmehr auf ‚Nine Eleven’ und rufen im Bewusstsein des Lesers die in den „Breaking News“ gezeigten „Ketten rasender Bilder“ aus „New York“ (213) auf den Plan. Hier ist ein äußeres Geschehen gemeint, siebzehn Seiten später ein inneres, in Hannes’ Gemüt angesiedeltes.

Und beide „Geschichte[n]“, diejenige von Hannes’ individuellen Partnerschaftskatastrophen und diejenige der Terrorkatastrophe in New York City, werden durch das Motiv der einstürzenden Türme, durch die metaphorische Bemerkung „Der Turm stürzt ein“ auf der einen Seite und auf der anderen durch die Rede von den „Türme[n]“, die am 11. September in New York City „einstürzten“ (213), „miteinander vernäht“, „gut vernäht“ (191).[49] Dieses Verfahren wiederum bleibt nicht ohne Folgen: weder für die „Geschichte“ der privaten Katastrophen von Hannes noch für den Stellenwert, der der Katastrophe vom 11. September im Riedel’schen Roman zukommt.

Auf der einen Seite werden Hannes’ persönliche Katastrophen immens aufgeladen durch den Import der besagten „Ketten rasender Bilder“, durch ihre vielbeschworene „Wucht“.[50] Nichts ist mehr wie zuvor[51] – das gilt nach Maßgabe der Fernsehberichterstattung für die Welt nach dem 11. September und es gilt, Hannes selbst spricht es aus, auch für ihn, den Ich-Erzähler des Romans: „Das Entsetzliche daran“, dass sich ihm (und dem Leser) Sharons Vergangenheit schlagartig enthüllt, „ist, daß es alles ändert“ (230).[52] Carola Ebeling scheint für den subtilen Doppelsinn dieser Formulierung ein Gespür zu haben, denn nach der „Offenlegung“ von Sharons verdrängter Vorgeschichte „ist nichts mehr, wie es war. Nicht für Hannes. Nicht für die Lesenden, die das Buch ein zweites Mal lesen müssten, um die Tragweite der darin ausgesprochenen Sätze zu begreifen – Sätze, die dann zu brennen beginnen“.[53]

Auf der anderen Seite wird ‚Nine Eleven’ von Hannes für sein individuelles seelisches Krisenmanagement in Dienst genommen, wobei das schreckliche Ereignis zur manövrierbaren Chiffre gerinnt, kommensurabel wird und von seiner Würde einbüßt. Dies wiederum wirkt sich zwar zum Nachteil der ohnehin bereits in ein kritisches Licht gestellten Romanfigur aus, zieht aber, so scheint es, keine weiteren, über den Schutzbezirk der diegetischen Welt hinausreichenden Kreise. So scheint es aber eben nur. Denn Hannes ist nicht nur eine erzählte Figur, die in ihren Einschränkungen gezeigt ist, er ist zugleich Erzähler, ein massiv in die Öffentlichkeit drängender zumal, denn er trägt sich mit dem Gedanken und hat auch schon erste Versuche unternommen, ein Buch zu schreiben.

Damit aber setzt der Riedel’sche Roman eine riskante mise en abyme ins Werk: Denn so wie Hannes  seine durch die Sache selbst nicht gerechtfertigte Indienstnahme der Terrorkatastrophe als Erzähler gegenüber dem impliziten und empirischen Leser und als möglicher fiktiver Autor den potentiellen fiktiven Leserinnen und Lesern der diegetischen Welt[54] gegenüber kommuniziert, so kommuniziert auch Riedels Roman seine durch die Sache selbst nicht gerechtfertigte, bestenfalls dramaturgisch motivierte Indienstnahme der Terrorkatastrophe nach außen an den impliziten und empirischen Leser – und muss sich wie Hannes dem Tribunal stellen. „Beinahe jeder Text über den 11. September“, zu dieser Einschätzung gelangt Isabell Ladiges, „bricht ein Tabu – allein durch seine Veröffentlichung. Literarische Texte befinden sich unter erhöhtem Rechtfertigungsdruck“.[55]

Die Regeln der Erzählkunst nach ‚Nine Eleven‘

Und dass sie sich mit dem 11. September befassen, wird offenbar nur dann toleriert, wenn die in einer komplizierten Gemengelage von Kräften[56] aufgestellten und durchgesetzten Regeln literarischen Schreibens über ‚Nine Eleven’ eingehalten werden. Abzulesen sind sie den einschlägigen literaturkritischen und essayistischen Beiträgen, aber auch denjenigen literarischen oder als literarisch wahrgenommenen Texten, die sich nicht auf die Aktualisierung von „Unaussprechlichkeitstopoi“[57] beschränken, sondern dem 11. September poetisch die Stirn bieten.

An diesen fällt zunächst auf, dass sie das Genre ‚Tagebuch’ bedienen oder als tagebuchartige Aufzeichnungen angelegt sind:[58] Grünbeins „Aus einer Welt, die keine Feuerpause kennt“ bildet die Fortsetzung der im Herbst 2001 unter dem Titel „Das erste Jahr“ erschienenen „Berliner Aufzeichnungen“. Sie bezieht sich auf die Zeit vom 11. bis zum 16. September 2001. Die Beobachtungen und Reflexionen der erfassten Tage werden wie zuvor in den „Berliner Aufzeichnungen“ auch im Tagebuch-Schema mitgeteilt. Rögglas „really ground zero“ ist zwar nicht dezidiert als Tagebuch angelegt, doch hat man es mit einem als „catherine“[59] sich einführenden Sprecher-Ich zu tun, das in New York am 11. September und in den Tagen und Wochen danach gesammelte Eindrücke in chronologischer Ordnung mitteilt. Das Romanprojekt von Bongartz und Herbst schließlich ist nicht als Tagebuch, sondern als Protokoll eines literarischen Entstehungsprozesses angelegt, in dem – wiederum in strenger Chronologie – die daran Beteiligten „Barbara Bongartz“ und „Alban Nikolai Herbst“ Informationen, Überlegungen und kleinere Texte austauschen. Buschheuers Weblog-Prosa ist streng chronologisch und in Tagebuch-Form dargeboten, wobei nicht nur die Tagebuchschreiberin „Else Buschheuer“[60] zu Wort kommt, sondern auch etliche Äußerungen derjenigen Aufnahme finden, die im Weblog mit ihr in Verbindung getreten sind. Peltzers „Bryant Park“ präsentiert sich bis zur Seite 122 als kompositorisch avancierte und sprachlich hoch elaborierte Prosa, bis sich hinter den zu diesem Zeitpunkt bereits etablierten Narrativen ein ontologisch übergeordnetes Sprecher-Ich mit Namen „ulrich“[61] zu erkennen gibt und, wenn auch nicht im Tagebuchmodus, so doch in entschieden auf Authentizität setzender und konsequent chronologischer Ich-Rede interveniert.[62] Goldts „Wenn man einen weißen Anzug anhat“ weist sich selbst (wenn auch ‚nur’ in der ersten Druckausgabe) als „Tagebuch-Buch“ aus, spielt zwar nach eigenem Bekunden mit den Genrevorgaben, lässt seinen Tagebuchschreiber aber ebenfalls chronologisch vorgehen.

Ins Auge fällt ferner, dass diese Texte offenbar ein hohes Maß an, sei es fingierter, sei es authentischer Authentizität des Sprechens anstreben, eines Sprechens, das das Be- und Getroffensein des sich artikulierenden Ich auf eine Weise garantiert, die ästhetische Überformung und den damit einhergehenden Souveränitätsgewinn weitgehend zurückdrängt und einer hochformalisierten, vom sprechenden Ich aber weitgehend gelösten[63] Aufzeichnungsmechanik überlässt.[64]

Sodann, das wird deutlich an Paulus Hochgatterers „Kurzer Geschichte vom Fliegenfischen“ und an Peter Glasers „Geschichte von Nichts“, besteht die Möglichkeit, den genannten Risiken durch eine demonstrativ zur Schau gestellte ‚Nine Eleven’-Abstinenz zu entgehen. „Ich habe“, so Glaser in einem Interview, „versucht herauszufinden, was die Literatur dem 11. September entgegensetzen kann. Das war eine der Motivationen für mich, diesen Text zu schreiben: den 11. September mit nur einem Satz zu erwähnen“.[65]

Schließlich – und dies können nur eingehende Textanalysen zum Vorschein bringen – besteht die Möglichkeit, in die Reflexion auszuweichen und „über die Probleme der Dichtung zu reden“, statt „den 11. September zum Stoff eines Romans zu erheben“.[66]

Schreibreflexion

Genau dies geschieht, augenfällig genug, in Riedels „Eine Frau aus Amerika“. Die übrigen Konventionen des Erzählens über ‚Nine Eleven’ straft Riedels Roman weitgehend mit Nichtachtung: Zwar liegen auch hier tagebuchartige Aufzeichnungen vor, doch sind sie nicht mit Authentizitätsmarkern versehen, nicht wie bei Grünbein, Röggla, Buschheuer, Bongartz, Herbst, Peltzer und Goldt zurückgebunden an ein authentisches Ich. Zwar ist nur wenige Male vom 11. September die Rede, ausreichend oft aber, um nicht als Gestus bewusster Enthaltsamkeit aufgefasst werden zu können; ostentative Abstinenz wie im Fall von Hochgatterer und Glaser sieht anders aus.

Dass der Roman entschieden reflexiv angelegt ist, dass so häufig von „Dichter[n]“ (18 u.ö.) die Rede ist, auf jeder siebten Seite nämlich,[67] geht auf „eine Geschichte“ zurück, die Hannes vor Jahren bereits „in der Universitätszeitung“ veröffentlicht hat. Seither hat Sharon „Spaß daran“ (196), Hannes, den deutschen Auswanderer, „Dichter“ zu nennen. Zwar hat er später noch ein opulentes „Tagebuch erstanden, ein beleibtes Prachtstück“ (39), „das große Wunder“, mit einem „Schutzumschlag aus rotem Handschuhleder“ (40), um Aufzeichnungen vorzunehmen, doch leidet er allem Anschein nach unter einer „Schreibblockade“ (45). Denn „tagelang hockte“ er „mit geöffnetem Füllhalter tatenlos vor unbeschriebenen Seiten. Nicht zu übersehen, daß sich dahinter ein Problem größeren Ausmaßes verbarg. Deshalb lag das große Wunder auch Jahre später noch ungenutzt im […] Schreibtisch“ (40).

Wiewohl er Sharon und den Gästen aus Deutschland gegenüber mehrfach betont, er sei „kein Dichter“ (19, 21), trägt er sich mit dem Gedanken, ein Buch zu schreiben, ohne allerdings eine ausreichend konkrete Vorstellung davon zu haben, worüber er schreiben will, „selbst der Stempel früher Bekümmerung, den das Kriegsberlin mir aufgedrückt hatte, war in literarischer Hinsicht wenig hilfreich“ (144). Weder die entbehrungsreiche Kindheit im Berlin der Nachkriegszeit noch die Jahrzehnte mit Sharon bieten offenbar ausreichend Stoff; die in Berlin wieder aufgenommenen Schreibversuche bleiben weitgehend fruchtlos. Zwar erscheinen „Buchstaben“ auf dem Bildschirm des Laptops, und „Zeilen“ (118) schieben sich voran, doch als Hannes das Geschriebene später liest, sind es nur „ein paar sinnlose Reihen von Zeichen“ (119): „Die besten Versprechen sind die, die gebrochen werden. Darin ähneln sie den menschlichen Herzen. Leider wußte ich nicht, was ich mit den ersten beiden Sätzen meines Buches sagen wollte. Es war ein großes Unglück. Lange saß ich grübelnd vor dem Laptop und las immer wieder die beiden Zeilen“ (137).

Erst als Hannes auf die Vorgeschichte von Sharon gestoßen ist, die Geschichte, deren Entdeckung „alles ändert“ (230), erst dann gelingt es Hannes, zu schreiben: „In meinen Kleidern das Buch, das ich schreiben werde. Es hat noch keine Form, aber es wird ein profanes Werk werden, wie der Artikel in der Universitätszeitung, den ich einmal geschrieben habe und für den Sharon mich jahrelang mit der Bezeichnung Dichter plagte. Dichter, sagte Sharon, denken nicht. An was, habe ich gesagt, an was? Ich stehe, und ich denke daran, wie ich von Niemandsrosen und Zitronen geträumt habe, kleinen harten gelben Zitronen, gesammelt in ihrem Rock. […] So kam ich nach Hause. Wie die Elefanten sich einen Platz suchen, an dem sie sterben können, kehrte ich doch noch heim. Zwar hielt ich alles, was ich brauchte, in den Händen, aber es war nicht viel, nie hatte ich gedacht, mit so wenig auskommen zu können. […] Ach, Hannes, sagt Sharon zwischen mir und der Nacht. Dir fehlt doch die Ahnung. Als fielst du aus dem Himmel, wie eine Hoffnung oder ein Vogel, den einer erschossen hat. So kommst du mir vor. […] Wer wartet denn schon auf dich, außer mir?“ (231 f.)

Ob das besagte Buch tatsächlich geschrieben wird, bleibt unausgesprochen. Mitgeteilt wird danach nur noch, wie Hannes in Berlin seine Sachen zusammenpackt und zurück in die Vereinigen Staaten reist. Genau dies aber: die Erinnerung an die „Niemandsrosen[68] und Zitronen“, der Heimflug und die imaginierten Szenen mit Sharon, erschien bereits zu Beginn des Romans als weder dem Kulturaustausch- noch dem Berlinreise-Narrativ zuzuordnender Textabschnitt und wird daher als entscheidender Impuls des Schreibens, als Anfang des Buches, entzifferbar: „Dann kam ich nach Hause. Wie die Elefanten sich einen Platz suchen, an dem sie sterben können, kehrte ich doch noch heim. Zwar hielt ich alles, was ich brauchte, in den Händen, aber es war nicht viel. Nie hatte ich gedacht, mit so wenig auskommen zu können. In dieser Nacht träumte ich von Niemandsrosen und Zitronen, kleinen, harten, gelben Zitronen, die Sharon in ihrem Rock sammelte und mir später in den Rücken warf. Wir lachten wie man lacht, wenn man rücksichtslos ist und jung. Aber Sharon war nicht fröhlich. Alles an ihr war zornig, selbst ihr Haar. Sie sah aus wie eine drohende Faust. […] Ach, Hannes, sagt sie zwischen mir und der Nacht, dir fehlt doch die Ahnung. Du fällst aus dem Himmel, eine Hoffnung oder ein Vogel, den jemand erschossen hat. So kommst du mir vor. […] Wer wartet denn schon auf dich, außer mir?“ (7)

„Eine Frau aus Amerika“ heißt daher nicht nur der Roman von Susanne Riedel, so heißt auch – oder könnte heißen – das „Buch“, das Hannes nach seiner Rückkehr schreiben wollte. An Stoff mangelt es ihm wahrlich nicht mehr, denn er hat die Geschichte zweier einstürzender Türme zu erzählen.

„In Kollegenkreisen umgehen wir inzwischen alles, was an das Thema rührt“

Damit ist aber noch immer nicht der Stellenwert von ‚Nine-Eleven’ geklärt, der Verdacht der „Anbiederung und Effekthascherei“[69] noch immer nicht aus der Welt, noch immer nicht ist klar, ob die Integration des 11. September in Riedels Roman nur erfolgt ist, um dem „Erzählen geschichtliche, ja politische Brisanz zu verschaffen“.[70] Deutlich ist jetzt allerdings die vom Roman angelegte Struktur, in der dies zu entscheiden ist.

Sharon hat ‚Nine-Eleven’ instrumentalisiert, um ihre Traumatisierung vor anderen, insbesondere aber vor Hannes zu verbergen, vielleicht auch um die mehr oder minder erfolgreiche Verdrängungsarbeit der letzten Jahrzehnte wieder aufzunehmen. Sie bedient sich ‚Nine Elevens’ aus schierer seelischer Not, weil sie Hannes nicht ins Vertrauen ziehen, ihn nicht mit ihrer wahren Identität und Geschichte konfrontieren will oder kann. Anders Hannes. Er rekurriert als Person auf ‚Nine Eleven’, um seinen seelischen Zustand, das persönlich empfundene Ausmaß seiner Katastrophe metaphorisch zu fassen, ihn für sich selbst in ein so aktuelles wie anschauliches Bild zu überführen. Als Autor allerdings, der ein Buch über seine persönliche Katastrophenerfahrung vorlegt, hält er an dieser Vorgehensweise fest. In dieser Perspektive wird aus der privaten Bewältigungsarbeit, in der literarischen Kommunikation mit dem Leser, ein gezielt eingesetztes Instrument der ästhetischen Wirkung, der Emotionalisierung. Die durch die „Breaking News“ und die medial allgegenwärtigen „Ketten rasender Bilder“ erzielte Konditionierung des Lesers tut hier den gewünschten Dienst: Hannes’ Schmerz und Schuldgefühle werden dem Leser gegenüber nicht benannt, sie werden ihm emotional eingeschrieben.

Da Hannes nicht mehr nur als Figur und Ich-Erzähler im Spiel ist, sondern darüber hinaus auch als fiktiver Autor des Romans, ist sein Rekurs auf die einstürzenden Türme sowohl psychologisch als auch ästhetisch begründet und daher als Beitrag lesbar zur Debatte über die Relation von Literatur und ‚Nine-Eleven’. „In Kollegenkreisen umgehen wir inzwischen alles, was an das Thema rührt“ (76) – dies zielt zunächst ausschließlich auf die Angehörigen des akademischen Personals der Universität von Philadelphia, nun zielt es auch auf den Kollegenkreis der Schriftsteller. ‚Nine-Eleven’ ist in dieser Perspektive nicht als probate Pathosformel[71] für Hannes „hineingequirlt“, die Integration der Terroranschläge in den Roman begründet einen ganz anderen Standpunkt der Betrachtung. Fraglos: „Eine Frau aus Amerika“ ist ein Roman über „das Schicksal eines gealterten Paars“ und „über individuelles und historisches Versagen“.[72] Er ist zugleich aber auch ein Roman über das Romaneschreiben über den und nach dem 11. September 2001.

Während der fiktive Autor Hannes allerdings den Verdacht der Instrumentalisierung des 11. Septembers nicht abstreifen kann, gelingt dies der empirischen Autorin sehr wohl – weil sie die ästhetische Instrumentalisierung selbst nicht ungebrochen reproduziert, sondern vom sicheren Standpunkt der Reflexion aus am Modellfall Hannes durchspielt. Aus der Reihe der zuvor publizierten literarischen oder als literarisch rezipierten ‚Nine-Eleven’-Texte sticht Riedels Roman mit dieser reflexiven Volte nicht unbedingt heraus.[73] Mit dem Versuch einer – wenn auch aus der sicheren Distanz der Reflexion vorgenommenen – ästhetischen Aneignung der Terroranschläge schon.

[1] Volker Hage: Vorbeben der Angst. In: Der Spiegel, Nr. 41, 8.10.2001, S. 224-232, hier S. 224.

[2] Susanne Riedel: Kains Töchter. Roman. Berlin 2000; dies.: Die Endlichkeit des Lichts. Roman. Berlin 2001; dies.: Eine Frau aus Amerika. Roman. Berlin 2003. Für den Hinweis auf das genaue Erscheinungsdatum des dritten Romans danke ich Kristin Voigtländer, Berlin Verlag. Nachweise stehen in Klammern im Text.

[3] Reinhard Baumgart: Ein Redeschlachtfest. Wie Susanne Riedel sich verrennt, verausgabt und verspekuliert. In: Die Zeit, Nr. 27, 26.6.2003, S. 42.

[4] Elmar Krekeler: Es ist uns was passiert. Der 11. September, die Literatur und die Kinder der Kohl-Ära – eine Zwischenbilanz. In: Die Welt, Nr. 205, 2.9.2006, S. 1.

[5] Martin Halter: Moralkeule, gut durchgebraten. Susanne Riedel läßt die deutsch-amerikanische Beziehung scheitern. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 140, 20.6.2003, S. 34.

[6] Sibylle Cramer: Auferstanden. Und nichts geht vorbei: Susanne Riedel lässt eine Tote sprechen. In: Der Tagesspiegel, Nr. 18177, 13. 7.2003, S. 28.

[7] Cramer (Anm. 6).

[8] Andrea Köhler: Der Angriff der Vergangenheit auf die übrige Zeit. Der 11. September war auch ein Attentat auf die literarische Phantasie. In: Neue Zürcher Zeitung, Nr. 209, 9./10.9.2002, S. 30.

[9] Thomas Steinfeld: Hundert Türme. Die Literatur: Hilflosigkeit angesichts allzu großer Bilder. In: Süddeutsche Zeitung, Nr. 210, 11.9.2002, S. 14.

[10] Jörg Plath: Nun trifft es auch dich und dein Buch. Nine-eleven und die deutschen Schriftsteller: Warum es so schwer ist, aus dem Trauma Literatur zu machen. In: Der Tagesspiegel, Nr. 17881, 11.9.2001, S. 31. Analog: Friederike Leibl: Die Leere am Himmel. In: Die Presse, Nr. 16367, 7.9.2002, Spectrum S. IV, und Paul Jandl: Mehr kann ich dazu nicht sagen. Österreichs Schriftsteller und New York. In: Neue Zürcher Zeitung; Internationale Ausgabe, Nr. 225, 28.9.2001, S. 33: „,Im Grunde ist es nicht gut, jetzt auf so etwas zu antworten’, meint Elfriede Jelinek in jener zurückhaltenden Unsicherheit, die die österreichischen Wortmeldungen derzeit auszeichnet“.

[11] Plath (Anm. 10).

[12] Steinfeld (Anm. 9).

[13] Werner Jung: Bombenstimmung. Anmerkungen zu einer Literatur des Terrors. In: Neues Deutschland, Nr. 209, 7./8.9.2002, S. 18.

[14] Im auf ‚Nine Eleven‘ eingestellten Visier der Literaturkritik sind, noch ehe Riedels Roman erscheint: Durs Grünbein: Aus einer Welt, die keine Feuerpause kennt. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 218, 19.9.2001, S. 53; Kathrin Röggla: really ground zero. 11. september und folgendes. Frankfurt a.M. 2001; Barbara Bongartz, Alban Nikolai Herbst: Inzest oder Die Entstehung der Welt. Der Anfang eines Romanes in Briefen. Herausgegeben und für das Publikum lesbar gemacht von Norbert Wehr. In: Schreibheft. Zeitschrift für Literatur 58 (2002), S. 1-164; Else Buschheuer: www.else-buschheuer.de. Das New York Tagebuch. Köln 2002; Ulrich Peltzer: Bryant Park. Erzählung. Zürich 2002; Max Goldt: Wenn man einen weißen Anzug anhat. Ein Tagebuch-Buch. Reinbek bei Hamburg 2002; Gregor Hens: Himmlische Erde. In: Gregor Hens: Transfer Lounge. Deutsch-amerikanische Geschichten. Hamburg 2003, S. 16-31.

[15] Nicht im ‚Nine-Eleven‘-Blick der Feuilletons sind die noch im September 2001 im Wiener „Standard“ veröffentlichten und in den 2005 herausgekommenen Essay-Band „Unglaubwürdige Reisen“ aufgenommenen Reflexionen von Ilse Aichinger (Ilse Aichinger: Unglaubwürdige Reisen. Hg. v. Simone Fässler u. Franz Hammerbacher. Frankfurt a.M. 2005.), zwei Anthologien (11. September 2001. Eine literarische Retrospektive. Hg. v. Gerrit zur Hausen. Münster 2003; Das Ende der Totlachgesellschaft. Hg. v. Fritz Reutemann. Vechta-Langförden 2001), sowie Christoph Schlingensiefs Theaterereignis „Rosebud“, das bereits im Dezember 2001 an der Berliner Volksbühne uraufgeführt wurde (Christoph Schlingensief: Rosebud. Das Original. Köln 2002).

[16] Volker Weidermann: Die Wörter sind unter uns. Die Bücher zum 11. September sind da – lauter Katastrophen – bis auf Ulrich Petzers ‚Bryant Park'. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Nr. 7, 17.2.2002, S. 27.

[17] Weidermann (Anm. 16).

[18] Klaus Walter: Pop goes Krisenstabslogik. In: die tageszeitung, Nr. 6850, 11.9.2002, S. 21.

[19] Lothar Schröder: Das Schweigen der Dichter. In: Rheinische Post, Nr. 209, 9.9.2002.

[20] Ina Hartwig: Ich-Krater. Literatur nach dem 11. September – am Nullpunkt? In: Frankfurter Rundschau, Nr. 78, 4.4.2002, S. 17.

[21] Ringo Frey: Zugeschlagen. Der letzte Versuch. In: Die Welt, Nr. 80, 6.4.2002, S. 8.

[22] Hajo Steinert: „total surreal how das ding collapsed“. Wie mit den Twin Towers ein Buch in Schutt und Asche sinken kann – Ulrich Peltzers „Bryant Park“. In: Die Welt, Nr. 98 27.4.2002, S. 4.

[23] Klaus Nüchtern: Wie Max es sah. I: Falter 41 (2002), S. 11.-17. Oktober 2002, Beilage Bücherherbst 2002, S. 6.

[24] Walter van Rossum: Das Tagebuch eines Gänseblümchens. Max Goldt mäandert durch die Welt und bleibt einfach der Größte. In: Die Zeit, Nr. 41, 2.10.2002, Belletristik, S. 7.

[25] Nico Bleutge: Risse im Kostüm. In: Süddeutsche Zeitung, Nr. 77, 2.4.2003, S. L16.

[26] Vgl. Peter Glaser: Geschichte von Nichts. In: Peter Glaser: Geschichte von Nichts. Erzählungen. Köln 2003, S. 11-36, hier S. 24, und Paulus Hochgatterer: Eine kurze Geschichte vom Fliegenfischen. Erzählung. Wien u. Frankfurt a.M. 2003, S. 9 u. S. 112. Bei Glaser heißt es, „das Welthandelszentrum in New York sei eingestürzt“ (24), bei Hochgatterer ist „von der Sache mit dem World Trade Center“ (9) die Rede. Konkretere Hinweise auf die Terroranschläge vom 11. September und ihre Folgen finden sich in den beiden Texten nicht.

[27] Zur semantischen Leere dieser Bezeichnungen vgl. Autoimmunisierungen, wirkliche und symbolische Selbstmorde. Ein Gespräch mit Jacques Derrida. In: Jürgen Habermas. Jacques Derrida. Philosophie in Zeiten des Terrors. Zwei Gespräche, geführt, eingeleitet und kommentiert von Giovanna Borradori. Hamburg 2006, S. 117-178, hier S. 118. Derrida stellt fest, „daß man vielleicht gar keinen Begriff und gar keine Bedeutung hat, um dieses ,Etwas‘, das gerade eingetreten ist, […] anders zu nennen. […] Tatsächlich weiß man nicht genau, was man damit sagt oder benennt: der 11. September, september eleventh, le 11 septembre“.

[28] Weidermann (Anm. 16).

[29] Die entsprechenden Stellen finden sich auf S. 75, S. 76, S. 77, S. 81, S. 89, S. 90, S. 102, S. 107, S. 120, S. 152, S. 165, S. 173, S. 213, S. 214, S. 230, S. 232.

[30] Cornelia Geissler: Abgrund Erinnerung. Gedächtnisspuren in Prosa und Lyrik: zwei neue Bücher aus und über Berlin. In: Berliner Zeitung, Nr. 111, 14.5.2003, S. 25.

[31] Baumgart (Anm. 3).

[32] Cramer (Anm. 6).

[33] Köhler (Anm. 8). Köhler bezieht sich auf Ulrich Peltzers „Bryant Park“ und Kathrin Rögglas „really ground zero“.

[34] In der „Rheinischen Post“ war im September 2002 nachzulesen, dass es bisher „kaum einer“ wage, „über den 11. September zu dichten“ oder ihn „zum Stoff eines Romans zu erheben“, weil „das September-Ereignis […] scheinbar zu übermächtig für die Dichtkunst“ sei; Schröder (Anm. 19). Im „Spiegel“ etwa war nachzulesen, dass „selbst Bücher, die lange vor dem 11. September geschrieben wurden, nun einer anderen Erwartungshaltung“ begegneten, dass sie nach den Anschlägen „anders gelesen werden“; Hage (Anm. 1). In dieselbe Richtung zielen die von Jan Bürger und Hanna Leitgeb für die Zeitschrift „Literaturen“ an zwei namhafte Autoren gerichteten Fragen; vgl. Die ungeheure Belästigung. Ein Gespräch mit den Schriftstellern Durs Grünbein und Thomas Meinecke über die intellektuelle Situation nach dem 11. September. In: Literaturen. Das Journal für Bücher und Themen 2 (2001), H. 12, S. 12-19, besonders S. 14 f.

[35] Baumgart (Anm. 3).

[36] Hierzu tendieren Rolf-Bernhard Essig: Die Freiheit, die Wahrheit zu finden. Susanne Riedels neuer Roman „Eine Frau aus Amerika“ nimmt den Kampf mit mächtigen Nationalgespenstern auf. In: Badische Zeitung, Nr. 56, 8.3.2003, S. IV; Petra Kohse: Ach du bist es. Susanne Riedel hat eine tiefe Ahnung von der Traurigkeit des Paarlebens. In: Frankfurter Rundschau, Nr. 66, 19.3.2003, S. 8; Geissler (Anm. 30); Brigitte Schwens-Harrant: Völlig verkannt. Susanne Riedels Roman „Eine Frau aus Amerika“ ist deutsch, sehr deutsch. In: Die Furche, Nr. 23, 5.6.2003, S. 18; Andreas Nentwich: Tagebuch der Entfremdung. Susanne Riedels Roman „Eine Frau aus Amerika“. In: Neue Zürcher Zeitung, Nr. 153, 5./6.7.2003, S. 37.

[37] Baumgart (Anm. 3).

[38] Hierauf richten die meisten literaturkritischen Beiträge das Augenmerk; vgl. Kohse (Anm. 36), Geissler (Anm. 30); Schwens-Harrant (Anm. 36); Halter (Anm. 5); Hansjörg Schertenleib: Schlag ins Gesicht. Wie funktioniert ein Paar, das sich nicht mehr liebt und doch nicht voneinander lassen kann? Susanne Riedels neuer Roman ist gnadenlos, böse und sehr wahr. In: Weltwoche, Nr. 22, 29.5.2003, S. 89; Baumgart (Anm. 3); Herbert Grieshop: Sieh sie dir an, diese Deutschen. In: Die Welt, Nr. 108, 10.5.2003, S. 6; Cramer (Anm. 6), sowie Ann Soltau: Szenen einer Ehe. In: Emma 2004, H. 2, S. 103.

[39] Baumgart (Anm. 3).

[40] Zur Konstruktion des Textes und ihrer ästhetischen Funktion vgl. Christiane Zintzen: Die Toastscheibe, die Heimat des Amerikaners. Wie Susanne Riedel ein fragwürdig virtuoses Buch über ein virulentes Thema schreibt – über die deutsch-amerikanische Feindschaft. In: Literaturen. Das Journal für Bücher und Themen 4 (2003), H. 6, S. 53 f.

[41] „Es war schon November“ (8), als Hannes in Berlin ankommt, wo er vier Tage bleiben wird. Und „vor nicht viel mehr als einer Woche“ (193) erst hat ihm ein Arzt mitgeteilt, dass Sharon „bereits tot“ (227) war, als sie nach ihrem Kollaps am Abend des „27. Oktober“ (215) ins Krankenhaus gebracht wurde.

[42] Vgl. hierzu bereits Kohse (Anm. 36), die darauf hinweist, dass „in den minutiösen Bericht über die letzten Tage und Gespräche mit Sharon in Pennsylvania […] eine Art Berliner Tagebuch montiert“ ist, und Essig (Anm. 36), der erwähnt, dass „sich Abschnitte über den Kulturaustausch abwechseln mit Schilderungen seiner [Hannes’] daran anschließenden Reise“.

[43] Grieshop (Anm. 38).

[44] Dass der besagte Satz handlungslogisch an den vorvorigen Abschnitt desselben Narrativs anschließt, wird nicht zuletzt auch durch den Tempusgebrauch nahegelegt: beide stehen im Präteritum. Ebenso der durch diesen Satz eröffnete restliche Abschnitt: „Überall war es hell. Die Lichter in der Küche brannten, als ich vom Krankenhaus zurückkam“ (230).

[45] So Schwens-Harrant (Anm. 36).

[46] Dass der besagte Satz psychologisch auch an den vorigen Abschnitt anschließt, wird nahegelegt durch die mehrfach eingesetzte Assoziationstechnik, mit der die Brüche zwischen den beiden Narrativen überspielt wird. Musterhaft eingeführt wird sie zu Beginn, wenn Hannes im Berlinreise-Narrativ erzählt, wie er im Taxi nach einer „Kurbel“ (26) für das Fenster sucht und der Taxifahrer einen automatischen „Öffner“ (27) bedient, und im unmittelbar darauf folgenden Kulturaustausch-Narrativ erzählt, wie Sharon vorschlägt, „endlich den Fensteröffner reparieren“ (28) zu lassen.

[47] Vgl. Baumgart (Anm. 3), Cramer (Anm. 6), Nentwich (Anm. 36).

[48] Vgl. hierzu in Ansätzen Carola Ebeling: Fragiles Gleichgewicht. In: STINT. Zeitschrift für Literatur 17 (2003), Nr. 33, S. 131-132, hier S. 132.

[49] Eingeführt und als Strukturchiffre des Romans entzifferbar wird das Motiv des Geschichten-Vernähens bereits zuvor, wenn Hannes seine eigene Geschichte und diejenige Sharons durch ihre drei Jahrzehnte währende Partnerschaft als „eine doppelte, gut vernähte Geschichte“ (191) bezeichnet. Die beiden Geschichten sind im übrigen nicht mit einer einfachen Naht zusammengefügt, nicht allein durch die im Erzählen erreichte motivische Kongruenz miteinander verknüpft: Hannes hat Deutschland 1966 verlassen, im selben Jahr, in dem auch der Grundstein der World Trade Center Towers gelegt wurde. Die Begründung der Partnerschaft mit Sharon 1971 wird auf den Zeitraum datiert, in dem die Twin Towers fertiggestellt wurden (Die letzten Träger wurden 1970 und 1971 montiert, die ersten Mieter zogen 1970 und 1972 ein, die offizielle Einweihung erfolgte 1973). Die Partnerschaft zerbricht nach 30 Jahren, im September 2001, als auch Türme des World Trade Centers einstürzen.

[50] Steinfeld (Anm. 9).

[51] „Nichts ist mehr, wie es war“. „Nichts ist mehr wie zuvor“. „Es wird nichts mehr so sein, wie es war“ – so und ähnlich lauteten die ungemein virulenten Formeln, die die Terroranschläge als kulturelle Zäsur zu bestimmen suchten. Sie fanden sich Matthias N. Lorenz: Nach den Bildern – 9/11 als „Kultur-Schock“. Vorwort. In: Narrative des Entsetzens. Künstlerische, mediale und intellektuelle Deutungen des 11. September 2001. Hg. v. Matthias N. Lorenz. Würzburg 2004, S. 7-16, hier S. 7, zufolge bereits am 12.9.2001 u.a. in der „Bild“ und in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“.

[52] Wenn sich „alles ändert“, ist, in der Logik der Umkehrung, tatsächlich „nichts mehr wie zuvor“.

[53] Ebeling (Anm. 48), S. 132; meine Hervorhebung; V.M.

[54] Akzentuiert wird dies z.B., wenn Ria Hannes fragt, „Was genau […] dichten sie denn so?“ (44)

[55] Isabell Ladiges: Die Katastrophe im Roman. Überlegungen zur schwierigen Fiktionalität des 11. September 2001, o.P.; www.medienobservationen.lmu.de/artikel/literatur/ladiges_fiktionalitaet911.html; zuletzt aufgerufen am 26.8.2011.

[56] Hierzu gehören neben den einschlägigen Texten und ihren Autorinnen und Autoren Literaturagenturen, Kulturredaktionen, Feuilletons, Verlage, Buchbesprechungen und (vor allem in jüngerer Zeit) eine Vielzahl von Formaten im Web 2.0.

[57] Vgl. Helmut Lethen: Bildarchiv und Traumaphilie. Schrecksekunden der Kulturwissenschaften nach dem 11.9.2001. In: Eskalationen. Die Gewalt von Kultur, Recht und Politik. Hg. von Klaus R. Scherpe u. Thomas Weitin. Tübingen, Basel: Francke 2003, S. 3-14, hier S. 3; analog: Ladiges, Anm. 55).

[58] Zum Tagebuch-Genre nach dem 11.9. vgl. Andrea Payk-Heitmann: Der 11. September im (fiktionalen) Tagebuch: Überlegungen zu Durs Grünbein und Max Goldt. Nine Eleven. Ästhetische Verarbeitungen des 11. September 2001. Hg. v. Ingo Irsigler u. Christoph Jürgensen. Heidelberg 2008, S. 49-66.

[59] Röggla (Anm. 14), S. 102.

[60] Buschheuer (Anm. 14), S. 81 u.ö.

[61] Peltzer (Anm. 14), S. 128.

[62] Vgl. hierzu Christoph Deupmann: Ausnahmezustand des Erzählens. Zeit und Ereignis in Ulrich Peltzers Erzählung Bryant Park und anderen Texten über den 11. September. In: Nine Eleven. Ästhetische Verarbeitungen des 11. September 2001. Hg. v. Ingo Irsigler u. Christoph Jürgensen. Heidelberg 2008, S. 17-28; ferner Volker Mergenthaler: Katastrophenpoetik. Max Goldts und Ulrich Peltzers literarische Auseinandersetzungen mit Nine-Eleven. In: Wirkendes Wort 55 (2005), S. 281-294.

[63] Buschheuers „New York Tagebuch“ ist hiervon auszunehmen.

[64] Nur diejenigen, so Thomas Meinecke im Interview mit der Zeitschrift „Literaturen“ (Anm. 34), S. 14, die in New York waren und „einfach notiert“ hatten, „was um sie herum passierte“, waren in ihrem „Schreiben gefeit gegen die Erhabenheit und die schöne Wortwahl“.

[65] Die Nase der Sphinx – Bachmann-Preisträger Peter Glaser im Gespräch [mit Uwe Ebbinghaus]; www.faz.net/s/RubCC21B04EE95145B3AC877C874FB1B611/Doc~EA4D201F9E582444DAE58E8D2B90E12D3~ATpl~Ecommon~Scontent.html; zuletzt aufgerufen am 26.8.2011).

[66] Schröder (Anm. 19) bescheinigt diese reflexive Wende allerdings nicht der Dichtung selbst, sondern der akademischen Welt, die den „Terroanschlag zum beliebten Symposium-Thema“ gemacht habe.

[67] Und zwar auf den folgenden Seiten: 18, 19, 20, 21, 23, 30, 33, 40, 42, 43, 45, 71, 84, 85, 86, 91, 102, 103, 109, 111, 118, 119, 137, 138, 140, 144, 161, 174, 195, 196, 203, 210, 231.

[68] Die Rede von den Niemandsrosen führt auf die Spuren Paul Celans, dessen Eltern wie diejenigen Sharons in NS-Lagern umgekommen sind. Der Hinweis gehört wie Sharons Briefe (vgl. 168) oder das Psalm 91 entnommene Motto in eine ganze Reihe von Anspielungen auf die jüdische Identität Sharons, die Hannes aber bis zur Enthüllung der Vorgeschichte seiner Partnerin nicht einordnen kann.

[69] Köhler (Anm. 8).

[70] Cramer (Anm. 6).

[71] Vgl. hierzu grundsätzlich Christian de Simoni: „Es war aber auch ein Angriff auf uns selbst“. Betroffenheitsgesten in der Literatur nach 9/11. Marburg 2009, besonders S. 7-25 und 28-33. Auf Riedels Roman geht de Simoni nicht ein.

[72] Michael Schmitt: Riedel, Susanne. In: Lexikon der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur seit 1945. Hg. v. Thomas Kraft. München 2003, Bd. 2, S. 1036.

[73] Wie die früheren Texte von Grünbein, Röggla, Bongartz, Herbst, Peltzer, Goldt und Glaser ästhetische Qualität im Modus poetischer Selbstreferentialität zu erzielen suchen, habe ich in einer Reihe von Aufsätzen darzulegen versucht. Vgl. Mergenthaler (Anm. 62), sowie ders.: Katastrophenpoetik. Max Goldts und Ulrich Peltzers literarische Auseinandersetzungen mit Nine-Eleven. In: Wirkendes Wort 55 (2005), S. 281-294; „Weiter schreiben“ nach dem 11. September – Barbara Bongartz’, Alban Nikolai Herbsts und Norbert Wehrs ›Inzest oder Die Entstehung der Welt‹. In: Nine Eleven. Ästhetische Verarbeitungen des 11. September 2001. Hg. v. Ingo Irsigler u. Christoph Jürgensen. Heidelberg 2008, S. 29-48; Coventry und Dresden, Ninive und Sodom. Durs Grünbeins Koordinaten mythologischer Sinnstiftung nach dem 11. September 2001. In: In the Embrace of the Swan. Anglo-German Mythologies in Literature, the Visual Arts and Cultural Theory. Hg. v. Rüdiger Görner u. Angus Nicholls. Berlin, New York 2010, S. 168-186; „verständnisschwierigkeiten“. Zur Etho-Poetik von Kathrin Rögglas ,really ground zero. 11. september und folgendes‘. In: Kriegsdiskurse in Literatur und Medien nach 1989. Hg. v. Carsten Gansel u. Heinrich Kaulen. Göttingen 2011, S. 231-245; ›Nichts‹ ist größer als der 11. September. Peter Glasers ›Geschichte von Nichts‹. Erscheint in: Wirkendes Wort 61 (2011), 22 S.