Dekonstruktion der Gegenwart

William Gaddis’ „JR“ wurde von Marcus Ingendaay und Klaus Modick neu übersetzt

Von Andreas HudelistRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andreas Hudelist

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit seinem zweiten Roman „JR“ erschrieb sich William Gaddis den Booker Prize. Zwanzig Jahre brauchte er für die Veröffentlichung dieses zweiten Romans, welcher 1975 als Erstausgabe erschien und sowohl Leser als auch Kritiker für sich gewinnen konnte. Gaddis’ Erstling „The Recognitions“ (deutsch: „Die Fälschung der Welt“) konnte 1955 Kritiker sowie Leser nicht begeistern, auch wenn sich um den Roman bereits eine kleine Fangemeinde aufbaute. Um weiterhin seine finanzielle Existenz sichern zu können, war er deshalb bis zur Veröffentlichung seines zweiten Romans in verschiedenen Jobs tätig.

Die Fertigstellung von „JR“ wurde damit nicht erleichtert. Doch durch den für ihn wohl überraschenden Erfolg durch „JR“ erlangte der Schriftsteller seine verdiente Aufmerksamkeit. Hetzen ließ er sich jedoch noch lange nicht und schrieb an seinen weiteren Prosawerken langsam in seiner gewohnten literarischen Intensität dahin. So veröffentlichte er noch zwei weitere umfangreiche Romane, wobei ihm der vierte, „A Frolic Of His Own“ (deutsch: „Letzte Instanz“) seinen zweiten Booker Prize einbrachte. Er starb im Jahr 1988 kurz vor seinem 76. Geburtstag. Heute gehört Gaddis zu den wichtigsten Autoren amerikanischer Gegenwartsliteratur und wird in einem Atemzug mit Don DeLillo, Thomas Pynchon und John Updike genannt.

Mit den genannten Autoren besteht eine große Ähnlichkeit im Inhalt, in der Kritik an gegenwärtigen wirtschaftlichen und politischen Strukturen. In der Form seiner eher eigenwilligen Prosa ähnelt Gaddis jedoch mehr einem James Joyce, welcher nicht nur auf der Suche nach einer passenden Sprache war, sondern auch die gewöhnliche Form der Prosa zu erweitern versuchte und dadurch neue Möglichkeiten und Ausdrucksformen des prosaischen Schreibens realisierte. „Ulysses“ zeigt dabei verschiedene literarische Genres in einem Buch vereint – jedes Kapitel ist in einer anderen Form geschrieben und reicht von der auktorialen Erzählung über ein Kapitel in der Form eines Theaterstücks bis zum berühmten inneren Monolog von Molly Bloom. „Finnegans Wake“, Joyces letztes und umfangreichstes Prosawerk, zeigt darüber hinaus einen Text ohne Beginn und Ende. Der Stil von „Finnegans Wake“ demonstriert auf formaler Ebene die traumhaften Sequenzen des Textes, welcher durch die babylonische Sprache den Leser zum Ko-Autor macht. In der gleichen Art und Weise werden die Leser von Gaddis’ „JR“ zu Komplizen des Autors.

Als sich einmal ein Kritiker über einen Jean-Luc Godard Film äußerte, diesen nicht zu mögen, antwortete Godard, dass sich der Kritiker keine Mühe gemacht hätte. Und genau diese Mühe ist es, welche die Lesenden beim Gaddis-Lesen mitbringen müssen. Die Schrift allein bleibt stumm, erst die Lesenden können die verschiedenen Geschichten zu Tage fördern. Der Text ist also offen für die Leser, er verschließt sich nicht den Lesenden, sondern schließt sie in sich mit ein. So werden die Leser aktiv und damit zu Ko-Autoren.

In „JR“ wird eine Vielzahl von Dialogen aneinandergereiht, sodass ein Multilog entsteht. Dieser verdeutlicht zum Einen die Vielstimmigkeit und Vielschichtigkeit der Prosa, zum Anderen jedoch demonstriert die Form des Textes die parallel laufenden Geschichten, welche unter dem Wort- und Satzschutt ruhen, um vom Leser gehoben zu werden. Dabei strebt Gaddis nach der Forderung und Erhebung des Lesers. „JR“ ist ein Text, welcher reflektierte und geduldige Leser braucht. Es bedarf dabei des Zusammenspiels des Lesers oder der Leserin, welcher oder welche sich auf den Text nicht nur einlassen muss, sondern darüber hinaus zum Komplizen der Textgenese wird. Was einem der Text näher bringt, ist also den Lesenden überlassen, auch wenn diese in die absurde Welt des Kapitalismus eintauchen und innerhalb der von Gaddis vorbereiteten Form sich entfalten müssen. Dabei wird weder auf Wortwitz noch Kritik verzichtet:

„Richtig, Dan, die individuelle Norm sollte immer auch die allgemeine sein, oder anders ausgedrückt, die allgemeine Norm ist der Maßstab für alles, damit, anders ausgedrückt, im Hinblick auf die Tests die Norm als Norm herauskommt, andernfalls haben wir keine Testnorm, richtig?“ An anderer Stelle heißt es: „Wenn sie euch erzählt, euer Geld muß für euch arbeiten, dann erzähl du ihr mal, daß der Trick der ist, daß man das Geld anderer Leute für sich arbeiten läßt, kapiert?“

Schwierig wird es für den Lesenden, wenn eben mehrere Stimmen ohne Hinweis auf den Sprecher aufeinander folgen. Dann sind die Sprechenden nur mehr vom Inhalt voneinander zu trennen. Dies ist aber auch nicht immer leicht, denn kann eine dritte Stimme die Antwort des oder der ersten sein oder aber auch eine Dritte oder ein Dritter. Wie dem auch sei, es soll hier keine Personenliste geführt werden. Das Buch beherrscht ein unzählig großer Chor von Stimmen. Jedoch ist es gerade diese Form, welche den Kapitalismus als Simulation demontiert. Die Stimmen, welche ihn stützen, sind nicht zurechenbar und bleiben somit schemenhaft. Sätze werden zu leeren Phrasen, welche austauschbar sind. Wer sich als Person dahinter verbirgt, ist egal. So zeigt dies der Protagonist des Buches, der kleine JR mit seinen elf Jahren. Mittels Telefon ist er in der Lage, das Finanzimperium aufzubauen. Niemand weiß, wer hinter den Anrufen steckt. So ist es dem Elfjährigen möglich, einen finanziellen Grundstock für sein Imperium zu bilden und als Finanzmacht sich zu positionieren.

Die Konstruktion der Finanzwelt und ihre Unglaubwürdigkeit zeigt sich am Ende, wenn man dem einst erfolgreichen Wirtschaftler nicht mehr glaubt, da er kein Geld mehr vorweisen kann. Wer sich verspekuliert, verliert nicht nur das Geld, sondern auch die Glaubwürdigkeit. Damit zeichnet Gaddis den Aufstieg und Fall einer Finanzwelt nach, wodurch „JR“ aktueller kaum sein kann.

Auf den über 1.000 Seiten erfährt man aber nicht nur Seitenhiebe auf die Finanzwelt, sondern eine kritische prosaische Stimme, welche die gegenwärtige Gesellschaft auseinander nimmt, damit der Leser oder die Leserin diese am Schluss neu aufbauen kann. Hoffentlich besser!

William Gaddis: JR. Roman.

Titelbild

William Gaddis: JR. Roman.
Übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von Marcus Ingendaay und Klaus Modick.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2010.
1040 Seiten, 29,99 EUR.
ISBN-13: 9783421044914

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