Magisches Masuren

Artur Beckers grandioser Roman „Der Lippenstift meiner Mutter“ braucht keine Longlist

Von Klaus HübnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hübner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis, die zwanzig herausragende deutschsprachige Romane der Saison umfasst, fanden sich 2010 satte sieben Titel von Schriftstellern, deren Muttersprache eine andere als die deutsche ist. „Der Lippenstift meiner Mutter“ war nicht darunter. Was merkwürdig ist, aber nicht schlimm, denn der jüngste Roman des 1968 in Bartoszyce geborenen, seit 1985 in Deutschland lebenden Artur Becker wird ohnehin seinen Weg machen. Polnische Literatur in deutscher Sprache schreibe er, sagt der auch als Lyriker hervorgetretene Romancier gern. Daran ist zumindest richtig, dass sein neues Buch in der nordöstlichsten Ecke unseres Nachbarlands spielt – wie „Kino Muza“ (2003), „Das Herz von Chopin“ (2006) oder „Wodka und Messer“ (2008), um nur einige der Texte zu erwähnen, für die Becker 2009 den Adelbert-von-Chamisso-Preis bekommen hat. Wie goldrichtig es war, ihn zum 25 Geburtstag dieses Preises auszuzeichnen, beweist „Der Lippenstift meiner Mutter“ auf beeindruckende Art und Weise.

Mitten in der masurischen Seenlandschaft liegt Dolina Róz, und in diese bizarre Kleinstadt am Luna-Fluss mit ihren mehr als skurrilen Bewohnern, die einst den Namen Rosenthal trug, entführt uns Beckers Buch. Zwischen dem alten Kreuzrittertor mit seiner kaputten Uhr, dem Café Wenecja, dem Kino Zryw, dem Friedhof und dem Goethe-Denkmal herrscht eine von Milizeinsätzen oder Strom- und Wasserabschaltungen nicht immer ganz freie „sozialistische Ordnung“, die „der katholischen und mittelalterlichen sehr ähnelte“. Wir tauchen ein ins pralle Leben der Volksrepublik Polen in den späten 1970er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts, als es zwar schon Pink Floyd zu entdecken gab, die großen Streiks in den Werften und die damit einhergehenden politischen Umbrüche aber erst am Horizont sichtbar wurden.

Wir sehen diese Provinzwelt, die dem Zweiten Weltkrieg noch sehr viel näher ist als der Jahrtausendwende, mit den Augen des dort heranwachsenden Bartek, eines gewitzten und hellwachen Schülers am örtlichen Technikum, dem nach der Wahrheit ebenso dürstet wie nach der Liebe respektive dem, was er dafür hält. Sein großer Schwarm ist vorerst die Schauspielerin Meryl Streep, mit deren Geist er immer wieder Zwiesprache führt. Die schrägen Vögel, mit denen er es zu tun hat, angefangen beim versoffenen Vater, der besorgten Mutter und seinem jüngeren Bruder Quecksilber, sind allesamt vom grauenhaften Schicksalsjahrhundert Europas und speziell Polens gezeichnet, besser: versehrt bis zum Ende ihrer Tage und zugleich verdammt zum Weiterleben.

Wie Becker das Panoptikum seiner Romangestalten entstehen lässt und in welcher Farbenfülle er es ausmalt, erinnert an beste Traditionen des magischen Realismus – die „Danziger Trilogie“ liegt geografisch nahe, an William Faulkner oder Julio Cortázar darf man denken und an andere große Autoren. Im Zentrum des Treibens der polnisch-deutsch-ukrainisch-jüdischen Mischpoke von Dolina Róz steht die fünfunddreißig Quadratmeter umfassende verstaubte Schusterwerkstatt – ein „privates Europa“, mehr noch: die ganze Welt in einer Nuss. Der Schuster Lupicki und sein Sohn, der Bucklige Norbert, die mannstolle Schusterstochter Mariola, die stets in Rot gekleidete stalinistische Dichterin Natalia, Opa Franzose und Oma Olcia, der beinamputierte Opa Monte Cassino und die vom „Dritten Reich“ schwärmende Oma Hilde und wie sie alle heißen – jede Romanfigur wird lebendig und glaubwürdig, das soziale Mit- und Gegeneinander aller Akteure tritt plastisch zu Tage, krass und gelegentlich auch etwas obszön.

Aus all dem glänzend geschilderten, vom westdeutschen Alltag jener Jahre meilenweit entfernten trüben Erdendasein, in dem Männer Helden sein wollen, Frauen immer grell geschminkt und manchmal halbnackt herumlaufen und 15-Jährige mit Hosengürteln verdroschen werden, weisen immer wieder unübersehbare Spuren ins Metaphysische. Und der mütterliche Lippenstift, mit dem sich Bartek bisweilen im Badezimmer schminkt und dann ganz für sich tanzt, singt und raucht? Der ist Überlebenshilfe, Verheißung eines ganz anderen Lebens, Dingsymbol des Utopischen. Dolina Róz, das wird nach wenigen Kapiteln unaufdringlich klar, ist das menschliche Leben selbst, in all seiner Erbärmlichkeit und Größe, und nur die Ratte Schtschurek, der Sohn des Totengräbers, hat noch nicht begriffen, dass der Weltuntergang längst stattgefunden hat und „das Weltende im Grunde genommen jeden Tag von neuem anfing“. Artur Becker aber ist sein wortgewaltiger Chronist. „Der Lippenstift meiner Mutter“ ist sein bislang bester Roman. Uns aber muss um die Zukunft der deutschen Literatur kein bisschen bange sein.

Titelbild

Artur Becker: Der Lippenstift meiner Mutter.
Weissbooks, Frankfurt a. M.. 2010.
313 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-13: 9783940888570

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch