Erfahrung der Entschleunigung

Zum sechsbändigen Brief-Monumentalwerk, „Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde“ herausgegeben von Barbara Hahn

Von Natalia Blum-BarthRSS-Newsfeed neuer Artikel von Natalia Blum-Barth

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

2011 jährte sich der 240. Geburtstag der in Berlin geborenen Rahel Varnhagen von Ense, einer herausragenden Frauenfigur der Romantik. Mit ihrem literarischen Salon war sie nicht nur eine begnadete Gastgeberin, sondern eine unermüdliche Netzwerkerin, die die intellektuelle Highsociety um sich versammelte. Unter ihren Gästen waren Clemens und Bettina von Brentano, Jean Paul, Prinz Louis Ferdinand von Preußen, Heinrich von Kleist, die Brüder Schlegel und Humboldt, Ludwig Tieck, Friedrich Schleiermacher, Heinrich Heine, Ludwig Börne sowie Mitglieder der Familie Mendelssohn. Die Korrespondenzen, die Rahel mit ihren Gästen führte, stellen ihr schriftstellerisches Werk dar. Nun liegt dieses in einer sechsbändigen Ausgabe in schönem Leineneinband des Wallstein Verlags vor.

Dem interessierten Leser wurden durch die Herausgeberin Barbara Hahn, die verdiente Varnhagen-Forscherin und Herausgeberin der kritischen Edition Rahel Levin Varnhagen, rund 1600 Briefe und Aufzeichnungen, meist aphoristischer Art, in ihrer letzten von Rahels Ehemann, Karl August Varnhagen von Enses, konzipierten Fassung zugänglich gemacht. Diese kurzen Gattungsformen – Briefe, Tagebuchnotizen und Aphorismen – waren im 19. Jahrhundert das typische Format der Frauenliteratur und zeichnen das literarische Schaffen Rahel Varnhagens aus.

Die aus vermögenden Verhältnissen stammende Rahel Varnhagen, geborene Levin, haderte mit ihrer Diskriminierung als Frau als auch mit ihrer jüdischen Herkunft und litt zeit ihres Lebens unter der Unmöglichkeit, ihrem Judentum zu entkommen. Durch den Umgang mit der geistigen Elite, die sie in ihren Salon einlud, versuchte sie ihre Gleichberechtigung und Akzeptanz auf der intellektuellen Ebene zu erreichen. Rahel Varnhagen wurde zur Vertrauten des Prinzen Louis Ferdinand und unterhielt Briefwechsel zu zahlreichen Dichtern, Naturforschern, Politikern und Aristokraten ihrer Zeit.

Den ersten Brief dieser Ausgabe, an Markus Theodor Robert, ihren Bruder, schrieb Rahel mit 16 Jahren. Der letzte Brief ist mit 25. Februar 1833 datiert und an Ernestine Robert, Rahels Schwägerin, gerichtet. Dazwischen liegen 46 Jahre, in denen Rahel Varnhagen an etwa 130 Adressaten rund 1600 Briefe schrieb. Dazu kommen ihre Tagebuchaufzeichnung und Notizen aphoristischer Art. Eine Erzählung oder einen Roman hat sie nie geschrieben und verstand sich nicht als Schriftstellerin im eigentlichen Sinne. Brigitte Kronauer weist in ihrem einführende Essay zu dieser Ausgabe auf Rahels in Briefen „verschwendete“ schriftstellerische Begabung.

Der heutige Leser, der den knappen Email- und sms-Kontakt pflegt, wird angesichts der ausführlichen, sprachlich anspruchsvollen und thematisch vielfältigen Briefen staunen, wie ästhetisch anders die Kommunikation vor zwei Jahrhunderten sich entfaltete. Die Lektüre dieser Briefe ermöglicht neben dem informativen Ertrag einen ästhetischen Genuss und eine ganz besondere Erfahrung, die der Entschleunigung. Der Leser erspürt die Möglichkeit, die Hektik des modernen Alltags mit endloser Informationsüberflutung hinter sich zu lassen und in die Briefgespräche Rahels einzutauchen. Die stilistische Brillanz dieser „Schriftstellerin ohne Werk“, die psychologisch anmutende Struktur ihrer Briefe und die Vielfalt des Ausdrucks – mal schreibt sie höflich und ergeben, mal heiter und forsch, meistens vertrauensvoll und herzlich – sind ein willkommener Lesegenuss.

Im Kommentar zur vorliegenden Ausgabe erläutert Barbara Hahn die Entstehung dieses Monumentalwerkes und skizziert die Stationen seines Zustandekommens. Neben Publikationen zu Lebzeiten Rahel Levins im „Morgenblatt für gebildete Stände“ (1812) und im „Schweizerischen Museum“ (1816) enthält der Band das Vorwort von Karl August Varnhagen von Ense zur Ausgabe von 1834. Sehr hilfreich für die Einordnung der Briefe in die Epoche ihrer Entstehung und deren kulturellen Kontext sind die biografischen Erläuterungen Hahns zum jeweiligen Briefpartner.

Das über 140 Seiten umfassende Personen-, Werks- und Ortsregister ermöglicht einen schnellen und informativen Überblick. Das Verzeichnis der Briefe und Aufzeichnungen ist nach Bänden gegliedert und chronologisch konzipiert, was besonders für eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Werk Varnhagens von Vorteil ist. Eine gute Möglichkeit, sich den ersten Eindruck über das Leben dieser außergewöhnlichen Frau zu verschaffen, bietet die Zeittafel in Band 6. Vom unermüdlichen editorischen Fleiß der Herausgeberin und ihres Teams zeugen auch knapp 10 Seiten mit versteckten, indirekten und nicht nachgewiesenen Zitaten in den Briefen Rahels, die sich als wahre Goldgrube bei der Erforschung der intertextuellen Bezüge erweisen werden.

Die heute bei den Editionen selten anzutreffende und um so erfreulichere Faksimiles einiger Manuskripte Varnhagens, darunter der Briefe an Clemens Brentano, David Veit, Alexander von der Marwitz sowie einiger Aufzeichnungen stehen für das anspruchsvolle editorische Niveau, das diese Ausgabe und den Wallstein Verlag auszeichnet. Hier liegt eine Publikation vor, an der jahrelang mit notwendigen Fleiß und Geduld gearbeitet wurde. Das Ergebnis hat diese Mühen gelohnt!

Titelbild

Rahel Levin Varnhagen: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde, 6 Bände.
Herausgegeben von Barbara Hahn. Mit einem Essay von Brigitte Kronauer.
Wallstein Verlag, Göttingen 2011.
3310 Seiten, 69,00 EUR.
ISBN-13: 9783835305281

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