Ingenieure der Aufklärung

Judith Macheiner eröffnet in ihrem Buch „Applaus und Zensur“ Perspektiven auf Diderot, Garrick und Lessing

Von Nikolas ImmerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nikolas Immer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Ich will unsern Franzosen unablässig zurufen: die Wahrheit! die Natur! die Alten! Sophokles! Philoktet!“ Dieser ‚Zuruf‘ findet sich in Denis Diderots „Entretiens sur Le Fils naturel“ (1757), die nur drei Jahre später von Gotthold Ephraim Lessing ins Deutsche übertragen werden. Adressat dieser Worte ist das französische Theaterpublikum, das noch immer einem Darstellungsstil goutiert, der sich vorwiegend in formvollendeter Deklamation des Dramentextes erschöpft.

Gegen Mitte des 18. Jahrhunderts beginnt sich das neue Ideal einer ‚natürlichen‘ – also realistischeren – Bühnenkunst durchzusetzen. Während in Frankreich Diderot zu jenen Theatertheoretikern zählt, die den neuen Darstellungsstil nachhaltig befürworten, ist es in England der Theaterdirektor David Garrick, der mit seinem naturalistischen Schauspiel die Zuschauer begeistert. In Deutschland forciert auch Lessing diese Entwicklung, indem er mit der ausführlichen Betonung der eloquentia corporis in seiner „Miss Sara Sampson“ neue Impulse für das Verhalten des Bühnenakteurs gibt, indem er schauspieltheoretische Schriften aus dem Französischen ins Deutsche übersetzt und ein positives Urteil über Garrick in seiner „Hamburgischen Dramaturgie“ überliefert.

Mit Diderot, Garrick und Lessing sind nicht nur drei bedeutende Persönlichkeiten der europäischen Aufklärung benannt, sondern auch die Protagonisten von Judith Macheiners monografisch-literarischer Arbeit. Die Darstellung präsentiert die drei unterschiedlichen, in einzelnen Hinsichten aber mitunter ähnlichen Lebensläufe anhand von schlaglichtartigen Fokussierungen. Beleuchtet werden die Jahre 1750/51, 1759/60, 1769 und 1780/81, wobei jeweils in Form von ‚Parallelbiografien‘ verfolgt wird, wie sich die Lebensbedingungen der drei Aufklärer im einzelnen gestalten.

Auffällig ist zunächst, wie sehr jeweils Fragen der prekären wirtschaflichen Existenz die Lebensläufe bestimmen. Während Diderot darüber reflektiert, dass ihn die Verleger nicht zureichend entlohnen und er deshalb „seinen Vater immer wieder um Geld bitten“ muss, erinnert sich Garrick an die „fünfhundert Pfund“, die er „für die Renovierung seiner Villa in Hampton aufgenommen“ hat. Gleichwohl ist Garrick von den drei Persönlichkeiten noch die finanziell bestgestellte, da Macheiner seine Gattin Eva Maria Veigel denken lässt, dass sie dank Garrick „nicht zuletzt auch pekuniär […] ein angenehmes und interessantes Leben“ führen dürfe.

Lessing wiederum wird als ein junger Gelehrter eingeführt, der auf die gesellschaftlichen Verbindungen seines Vetters Christlob Mylius angewiesen ist, um sein wirtschaftliches Überleben in Berlin sichern zu können. Dass er dabei an die Bücher denkt, die er für sein bisheriges Geld angeschafft hat, erscheint als ein durchaus charakteristischer Zug des angehenden Aufklärers. Dass er jedoch nicht näher spezifizierte „wunderbare Ausgaben“ und keine konkreten Bände aus seinem Regal im Blick haben soll, sticht als merkwürdige Vagheit aus der ansonsten präzise recherchierten Arbeit Macheiners hervor.

Einen weiteren zentralen Aspekt bilden die privaten Lebensbedingungen der drei Protagonisten, wie am Beispiel Diderots sichtbar gemacht werden soll. Es erstaunt zu lesen, wie es dem Universalgelehrten, der in der Vielzahl seiner Papiere zu ertrinken scheint, gelingt, das Großprojekt der „Encyclopédie“ voranzubringen, während er wiederholt die Launen seiner zänkischen Ehefrau Nanette ertragen muss. Im Gegenzug wird aber ebenfalls offengelegt, wie sehr auch Nanette unter den außerehelichen Eskapaden ihres Gatten zu leiden hat. Sie fürchtet nicht nur, dass Diderot sein Verhältnis zu seiner ehemaligen Mätresse Madame de Pusieux erneuern könne, sondern entdeckt schließlich gar dessen Beziehung zu der Intellektuellen Sophie Volland. Nanette resümiert daher verbittert: „Er interessiert sich ja ohnehin nicht für sein Zuhause.“

Wofür er sich dagegen interessiert, zeichnet Macheiner mit erheblichem Kenntnisreichtum nach. Diderots zentrales Engagement gilt der „Encyclopédie“, deren Leitung er gemeinsam mit Jean-Baptiste le Rond d’Alembert im Jahr 1747 übernimmt. Obwohl der Chefzensor Chrétien-Guillaume de Lamoignon de Malesherbes das Projekt nach Kräften unterstützt, kann er es nicht verhindern, dass Diderots Gegner vor allem aufgrund ‚unchristlicher Tendenzen‘ das Druckverbot schließlich doch durchsetzen. Zwar behält er das Privilig, weiterhin Tafelbände zu veröffentlichen, jedoch ist es ihm untersagt, die Arbeit an den Textbänden fortzuführen. Indem Macheiner diese Vorgänge wiederholt aus der Perspektive Nanettes schildert, wird unmittelbar erfahrbar, welche Mühen Diderot einerseits mit den Zensoren auszustehen hat, während er anderseits in ständiger Gefahr schwebt, für seine freigeistigen Schriften eingesperrt zu werden.

In dieser Hinsicht erweist sich das Erzählverfahren als zweckmäßig, die jeweilige Lebenssituation der drei Protagonisten mehrfach aus dem Blickwinkel unmittelbar beteiligter Personen darzustellen. Denn auf diese Weise werden neben den Sachinformationen auch subjektive Einschätzungen geboten, in denen persönliche Befürchtungen und Hoffnungen in konkreten historischen Situationen zur Sprache kommen. Angesichts der beeindruckend genauen Recherche Macheiners, die ihren Protagonisten wiederholt wörtliche Zitate aus ihren Schriften oder Briefen in den Mund legt, stellt sich an diesem Punkt jedoch die Frage nach dem Selbstverständnis der Arbeit.

Denn trotz der gründlichen Nachforschung und dem intensiven Quellenstudium bleiben die Gedanken, die Macheiner ihre Figuren denken lässt, historisch ungesicherte Spekulationen. Bewusst wird die Scheidegrenze von der Wissenschaft zur Populärwissenschaft übertreten, um herausragende Vertreter der europäischen Aufklärung gewissermaßen in Nahsicht zu präsentieren. Auch wenn schon Aristoteles wusste, dass „Dichtung etwas Philosophischeres und Ernsthafteres als Geschichtsschreibung“ sei, wird die Monografie doch auf diese Weise zu einem drei Erzählebenen umfassenden historischen Roman.

Daraus folgt wiederum die Frage nach dem Adressatenkreis, der mit diesem mehrschichtigen Bericht aus den „Werkstätten der Aufklärung“ angesprochen werden soll. Grundsätzlich ist die insgesamt gelungene thematische Konzentration und die vorzügliche Lesbarkeit der Darstellung hervorzuheben. Dank der subjektiven Figurensicht wird der Leser unmittelbar am Geschehen beteiligt und wird aufgrund der Parallelführung der drei Lebensläufe für ähnliche Problemlagen bei den Hauptfiguren sensibilisiert. Wiederholt werden figurenbezogene Rückblenden eingeschaltet, um historische Einordnungen und übergreifende Zusammenhänge transparent zu machen.

Allerdings setzt die Komplexität der jeweiligen Lebensverhältnisse zumeist einen wohlinformierten Leser, zuweilen sogar einen guten Kenner der Kulturgeschichte des 18. Jahrhunderts voraus. Beansprucht wird das Verständnis vor allem dann, wenn zeitweise unklar bleibt, aus welcher Figurenperspektive überhaupt berichtet wird, oder wenn Anspielungen auf konrete Werke beziehungsweise Personen gar nicht oder erst Seiten später erklärt werden. Fast entsteht so der Eindruck, als habe Macheiner ein nicht-wissenschaftliches Buch für Wissenschaftler schreiben wollen.

Prinzipiell eignet sich Macheiners monografisch-literarische Arbeit durchaus, um die Theater- und Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts in klar umrissenen Ausschnitten kennenzulernen. Dabei wird insbesondere sichtbar, wie eng sich die Verflechtungen zwischen drei herausragenden Intellektuellen gestalten, die in unterschiedlichen Ländern beheimatet sind und voneinander fast nur auf schriftlichem Weg wissen. Für die Lektüre des vorliegenden Buches ist es allerdings ratsam, einige Vorkenntnisse mitzubringen.

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Judith Macheiner: Applaus und Zensur. Werkstätten der Aufklärung Diderot, Garrick, Lessing.
Transit Buchverlag, Berlin 2011.
183 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-13: 9783887472559

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