Essen, Einfühlen, Leiden

Aimee Benders Roman „Die besondere Traurigkeit von Zitronenkuchen“ handelt vom Erwachsenwerden und ist überzuckert mit magischem Emotionalismus

Von Bernd BlaschkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd Blaschke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Familienromane boomen nun schon länger. Nicht nur in Deutschland, sondern auch in den USA und anderswo erfreut sich das Erzählen von innerfamiliären Beziehungsmustern und von genealogischen Traditionslinien großer Nachfrage. Das Thema Essen ist ein gleichfalls beliebter Buch- und Fernseh-Gegenstand. Allerdings findet die Zurschaustellung, Reflexion und Anleitung des Kochens, Essens und Genießens bisher eher im Medium des Sachbuchs oder der Koch-Show statt. Zwar gab es in der Nachfolge von Tania Blixens ‚Babettes Fest‘ einige Romane und Erzählungen, die um die Abläufe der produktiven oder rezeptiven Kulinarik kreisen, doch scheint der große Roman des Kochens und Schlemmerns noch nicht zubereitet worden zu sein. Emotionen schließlich, die intensiven Gefühle von Liebe und Hass, von Trauer und Glück, von Ekel und Scham, vor allem aber auch die heikle Sozialität von Gefühlen – das Mitgefühl im Guten und Bösen – diese Triebkräfte menschlichen Handelns befeuern nicht nur die Künste seit langem. Sie sind seit einer Dekade auch ein gewichtiger Forschungsschwerpunkt der Natur- und Kulturwissenschaften.

Was herauskommt, wenn man diese drei trendigen Themenfelder verbindet, das hat nun die kalifornische Erzählerin Aimée Bender ausprobiert. Um es vorweg zu verraten: Der versuchslesende Rezensent empfand das Ergebnis keineswegs als faden Eintopf, gleichwohl auch nicht als Spitzenprodukt subtil strukturierter und balancierter Kunst. Denn Benders Roman „Die besondere Traurigkeit von Zitronenkuchen“ lebt allzu sehr von seinem zentralen, der Fantastik entliehenen Grundeinfall: der übernatürlichen Begabung seiner Protagonistin und Ich-Erzählerin Rose, die das Talent besitzt, in jedem Bissen die Herkunftsgeschichte der Zutaten und die Gefühlszustände der Köche zu schmecken. Anstelle eines leicht antiquierten, allwissenden Erzählers haben wir nun eine allschmeckende und dadurch (wenigstens was die Gefühle betrifft) allwissende Ich-Erzählerin. Während Prousts Erzähler durch seine Madeleine mit Lindenblütentee die eigene Kindheit wiederauferstehen sieht, empfindet und durchleidet Benders Erzählerin Rose gar die Gefühle aller ihrer Mitmenschen, die hier im Gegensatz zu Prousts subtil ausschweifender und sezierender Gefühlssemantik freilich meist nur knapp benannt werden, etwa als Mischung aus Trauer und Wut. Benders Grundidee ist so originell wie ästhetisch-epistemisch abgeschmackt. Denn um der narrativen Spannungs-Lähmung durch besagte Allwissenheit, die alles Gefühlte einfach benennt, zu entkommen, werden weitere rätselhafte, übernatürlich Fähigkeiten auf einige Familienmitglieder verteilt. Eine Inflation des Magischen ereignet sich, die wohl das Ziel verfolgt, die Besonderheit jedes Einzelnen zu unterstreichen und zudem die existentielle Gefährlichkeit solcher empathischen Sonderbegabungen zu verdeutlichen.

Ihre übernatürliche Fähigkeit, durchs Essen die Gefühle der Zubereitenden nachzufühlen, stellt sich für Rose (und schließlich auch für den Leser) freilich eher als Fluch denn als Segen heraus. Denn das Wissen um die meist traurig depressiven Gefühle ihrer nahen Mitmenschen oder auch unbekannter Arbeiter der Lebensmittelbranche belastet die Protagonistin. Sie hätte vieles lieber nicht gewusst und vieles lieber nicht mitfühlen mögen. So rettet sie sich im Verlauf der Geschichte dadurch vor der Zudringlichkeit fremder Emotionen, dass sie sich möglichst weitgehend von gefühlsneutralen Industrieprodukten ernährt – und schließlich selber Kochen lernt und dies zu ihrem Beruf macht.

Die Geschichte hebt an mit der Schilderung des ersten Auftretens der ambivalenten Sonderbegabung. An ihrem neunten Geburtstag nascht Rose vom titelgebenden Zitronenkuchen und schmeckt dabei die niederschmetternde Traurigkeit und Einsamkeit ihrer Mutter. Dieser ‚neue Sensor‘ begleitet sie nun durch ihren Schul- und Familienalltag. Weder ihren Eltern, noch ihrem quasi-autistischen Bruder noch der Schulkrankenschwester vermag die Erzählerin ihre schmerzhafte Begabung und ihr somit erlangtes Geheimwissen zu vermitteln. Einzig George, der beste Kumpel ihres Bruders, interessiert sich für ihre idiosynkratische Wahrnehmungsfähigkeit. George zeigt Verständnis; Rose huldigt ihm mit einer kindlichen Liebe, die sie nie recht aufgibt, auch wenn der schließlich ins College und in die Ehe (mit einer anderen) entschwebende junge Mann die wechselseitige Zuneigung zwar pflegt, jedoch nicht intensiviert. George mit seinem Talent als Naturwissenschaftler und seiner Offenheit für andere Menschen unternimmt regelrechte Versuchsreihen mit ihr – und er buttert ihr Toasts „voll freundlicher Konzentration“.

Wie es sich für einen Familienroman und eine Geschichte vom Erwachsenwerden gehört, erfahren wir einiges über die eher unglücklich und distanziert verlaufenden Beziehungen zwischen den Eltern, über die mal oberflächlichen, mal depressiven Jugendfreundinnen der Erzählerin, und schließlich über ihren Bruder, dem eine noch bedrohlichere Begabung, eine noch tiefere Einsamkeit und eine noch konsequentere Weltflucht eignet. Das Schicksal und Ende des Bruders, wie auch die überraschenden, späten Einsichten in familiär-genealogische Erblinien magischer Sonderbegabungen seien hier nur erwähnt, nicht en detail verraten. Sie tragen einiges zur Lektürespannung dieses lebendig erzählten Romans bei, der freilich im Rückblick etwas schematisch konzipiert wirkt. Der Vater der Erzählerin, ein stets leicht distanzierter, scheinbar gefühlsarmer Mann, offenbart erst am Ende des Narrativs, dass seine Haltung ein Schutzpanzer sein könnte, mit dem er die geerbte und weitergegebene Empfindlichkeit unter Kontrolle hält: „Trotz seiner nicht gerade überragenden Vaterqualitäten war Dad ein sehr anständiger Mensch. Er arbeitete für eine mittelgroße Anwaltskanzlei, so dass er den kleinen Mann nicht übers Ohr hauen musste, und er vertiefte sich in seine Fälle, weil er seine Sache gut machen wollte. Er verdiente ordentlich, gab aber mit seinem Geld nicht an. Er war in Chicago aufgewachsen und hatte eine litauische Jüdin zur Mutter, die in ärmlichen Verhältnissen groß geworden war und oft Geschichten davon erzählte, wie ein Huhn für die ganze Großfamilie reichen musste. […] Er war ein Mann, der ziemlich genau wusste, was er wollte, er war intelligent, im Grund seines Herzens aber ganz einfach und hatte ausgerechnet drei hochkomplizierte Menschen als Familienmitglieder abbekommen“.

Die Mutter der Erzählerin kocht, wenn sie wegen ihrer Affäre mit einem Schreiner-Kollegen ein schlechtes Gewissen hat, für den Vater seine italienischen Lieblingsgerichte – und nur die Erzählerin bekommt von alldem etwas mit. Roses Mutter liebt ihren kauzigen, als Kind hochbegabten, doch im Leben scheiternden Sohn über alles, was die Erzählerin fast eifersuchtsfrei vermerkt.

Aimee Benders Talent, leicht surreale Geschichten zu erfinden, deren parabelhafte oder allegorische Sinnhaftigkeit mal dezenter, mal plakativer daherkommt, zeigte sich schon in ihrem von der Kritik weithin gelobten Erzählband „Das Mädchen, das Feuer fing“ (1999). In ihrem Zitronenkuchen-Roman blitzt diese Neigung zur allegorisch verdichteten Sinngeschichte auf, wenn Rose ihrem Vater vom Leben eines beinahe blinden Jungen erzählt, der irgendwann spät eine Brille bekommt, erstmals alles sehen kann und endlich lesen lernt. Doch möchte dieser sehbehinderte Junge die Erschöpfung seiner Mutter und ihr verkommenes Zuhause lieber nicht sehen. Also zertrampelt er seine Brille und lebt als offiziell Sehbehinderter weiter. Man kann in dieser kleinen, eingeschobenen Geschichte eine mise-en-abyme-Spiegelung des Romans und seines Zentralthemas erkennen: Nutzen und Kosten, Glück und Schmerzen der Sensibilität werden hier verhandelt. In Aimee Benders Erzählkosmos tendiert die Moral freilich ziemlich deutlich in Richtung Atharaxie und Gefühlsvermeidung. Denn die Wahrnehmung eigener und fremder Gefühle bedeutet hier fast immer Leid und Unglück.

Ein starkes Stück Literatur ist schließlich das Ende des Romans, wo sich die enthüllten Spezialfähigkeiten der Familie vervielfachen. Versöhnlich ist die späte Berufswahl der Erzählerin, die bedrückt von den sich ihr aufdrängenden Gefühlen der Anderen, ihren Weg ins Leben erst nicht recht zu finden schien. Nachdem sie lange als Tellerwäscherin in ihrem französischen Lieblingsbistro jobbte, enthüllt sie den staunenden Patrons ihre sensationellen Geschmackstalente und darf diese nun bei ihrer Ausbildung zur Köchin anwenden. Dass ihre ersten Kochversuche ihren Eltern überaus gut schmecken, wird berichtet. Wie und wonach aber ihre eigenen Kreationen schmecken, das verrät der Text allerdings nicht.

Beschreibungen von Speisenuancen und sensuellen Valeurs gehören bekanntlich zu den größten Herausforderungen der Sprache. Essen und Trinken sind, trotz aller Feinschmecker- und Weintrinker- Magazine ästhetische Erfahrungen, deren sprachliche oder auch philosophisch-ästhetische Erfassung und Erforschung noch in den Kinderschuhen stecken. Jürgen Dollase, der vielleicht nicht nur in Deutschland scharfsinnigste und philosophischste Gastrokritiker, hat dies in seinen Kolumnen (unter anderen in FAZ und FAS) und Essays wiederholt vermerkt und Abhilfe vorgeschlagen. Aimee Bender trägt nicht wirklich Neues oder sprachkünstlerisch Bedeutsames zur Sprache des Essens und des Schmeckens bei. Sie umgeht diese Herausforderung, indem sie ihre Protagonistin schlicht die Gefühle der Köche benennen lässt, und indem sie sie – wie auf einem Packungsaufdruck – die Herkunftsorte und Produktionsarten der Zutaten aufzählen lässt. Bei der Entschlüsselung der Zutaten einer Quiche Lorraine, die Rose im Dialog mit einem Amateur-Gourmet dialogisch entfaltet, liest sich das etwa so: „Es sind zwei verschiedene Milchprodukte, sagte ich und beugte mich vor. Das eine ist Sahne, aus Nevada, glaube ich, wegen der Pfefferminznote, und dann ist da auch noch normale Milch drin, aus Fresno.“

So verlagert Benders Roman die Magie in das Spezialwissen der Protagonistin. Sprachmagie oder (weltlicher gesprochen) prononcierte Ausdruckskraft kennzeichnen diesen einfallsreich konzipierten, flüssig erzählten und gut übersetzten Roman eher nicht. Nuancierte Beschreibungen sinnlicher Geschmackserfahrungen, Strukturanalysen des Kochens und Genießens raffinierter Kreationen finden sich mithin eher in den Büchern und Aufsätzen Jürgen Dollases als in diesem Roman, der einem magischen Emotionalismus huldigt.

Titelbild

Aimee Bender: Die besondere Traurigkeit von Zitronenkuchen. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Christiane Buchner und Martina Tichy.
Berlin Verlag, Berlin 2011.
300 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783827009869

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