Engelstagung am Auschwitz-Fluss

Zwei Bücher des polnischen Schriftstellers Marian Pankowski liegen in deutscher Erstausgabe vor

Von Fabian KettnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Fabian Kettner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Über Marian Pankowski ist in Deutschland nur wenig bekannt. Er lebte von 1911 bis 2011, in Polen und in Belgien. Tätig war er als Schriftsteller, Literaturhistoriker und Übersetzer. 1938 begann er das Studium der polnischen Philologie in Krakau. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs leistete er seinen Militärdienst. Dabei geriet er in deutsche Kriegsgefangenschaft. Zwischen 1942 und 1945 war er in den Konzentrationslagern Auschwitz, Groß-Rosen und Bergen-Belsen. Nach seiner Befreiung ließ er sich in Belgien nieder. Dort arbeitete er zunächst als Übersetzer und begann dann ab Mitte der 1950er-Jahre seine schriftstellerische Karriere. Für zwei seiner Bücher war er für den Nike-Literaturpereis nominiert, den bedeutendsten Literaturpreis Polens. Die ersten deutschen Übersetzungen seiner Bücher liegen schon länger zurück: 1972 erschien „Matuga kommt“ und 1985 „Der Kosak und Betty“. Nun sind in kurzer Zeit bei zwei verschiedenen Kleinverlagen gleich zwei schmale Bändchen in deutscher Erstausgabe erschienen.

„Planet Auschwitz“ ist eine autobiografische Schrift, aber es ist keine Autobiografie. Pankowski erzählt von seiner Zeit in verschiedenen deutschen Konzentrations- und Vernichtungslagern, aber es ist kein typischer Überlebendenbericht. Einen solchen zu schreiben, gerade damit hätte er Probleme: „Seit fünfzig Jahren lehne ich Interviews ab und reagiere nicht auf Befragungen der Forscher über die deutschen Konzentrationslager: Sie wollen Fakten, immer dieselben […]. Wurden Sie gefoltert? – Aber ja doch, und wie!, wäre man versucht zu antworten.“ Antworten zu geben scheint ihm auch überflüssig, denn „im übrigen wusste man schon alles, und diese Kenntnis der Lager ließ sich in einem Wort zusammenfassen: ‚schrecklich‘.“ Resigniert Pankowski hier? Zumindest weiß er, wie wenig dieses Resüme besagt. Und dann ist da diese Distanz zwischen dem, der da war, und dem, der nicht, die man auch als Nicht-Überlebender bemerkt, wenn eine gewisse Elisabeth ihn fragt: „Da […] in Auschwitz […] hast Du Dich da nicht unglücklich gefühlt?“

Pankowski initiiert seine mehr oder minder chronologisch angeordneten Assoziationen seiner Zeit in und nach den Lagern mit einem Erinnerungssplitter. Als er als (katholischer) Gast bei einer jüdischen Taufe ist, fällt ihm Szymek ein, sein ehemaliger Mitgefangener aus Auschwitz. Er hat ihn nicht mehr gesehen, seitdem dieser bei einem Transport mit musste, von beide nicht wussten, ob er zu den Gaskammern fährt oder nicht. Viele Jahre später erhält er von ihm eine Einladung und er geht ihn in München besuchen. Die Beschreibung der ersten Minuten ihres Zusammentreffens, all der Assoziationen und „Implikationen“ (Lawrence L. Langer) gehören zum beeindruckendsten Stück Literatur zu diesem Thema.

Zum einen geht es um die sofortige überwältigende Gegenwart der gemeinsamen Vergangenheit. Szymek, „dieser immer noch nach Tod riechende Lazarus“, kommt auf Pankowski zu, „aber immer langsamer, weil er von seiner beigen Alpaka-Jacke die Asche des Krematoriums streift“. Dabei kreiert Pankowski sprachliche Bilder, die sich mit den gemalten von Samuel Bak messen können: „Beide stehen wir auf einer glatten Schwelle, anscheinend zu dem Hier, wo die Sonne scheint und die Lerche fliegt, doch ohne Zweifel eher zu dem Dort, zu der Asche, die in unseren Träumen unaufhörlich über eine Wüste voller Namen zu uns herüberbrüllt.“

Zum zweiten geht es um die Kluft, die zwischen Überlebenden und Nicht-Überlebenden liegt, so sehr zweitere erstere auch zu verstehen sich mühen. Hier kann sich Pankowski mühelos mit dem sehr empfehlenswerten Buch „Vater“ von Carl Friedman messen. Ohne getrennt sein zu wollen, sehen sich Pankowski und Szymek in den Augen von Szymeks Familie: „Sie haben dort das erlebt.“ Es gibt nur dieses Das, kein Wort dafür, außer „Planet Auschwitz“, „Flammeninsel“, „ein Abgrund in ihrer Erdenzeit, ein von unseren bloßen Körpern und unserem Geruch nach verbranntem Fleisch gerissener Abgrund, den sie in keine Metapher kleiden können.“ Alle fühlen sich unwohl, und die beiden Verbündeten fühlen sich am unwohlsten, weil sie wissen, dass sie der Grund für die unangenehme Situation sind.

Ein ähnlich großer Abgrund liegt auch zwischen „Planet Auschwitz“ und „Der letzte Engeltag“. Auschwitz wird kurz genannt, spielt aber keine Rolle in dem Buch. Was ist eine Silve? Das Internet weiß die Antwort nicht. Es muss so etwas Ähnliches wie ein Textstück sein. Denn an einer Stelle, am Ende dieser kapitelartigen Einheiten, da verwendet Pankowski das Wort selber: „Komisch ist die heutige Silve geraten“. Und er bedauert, dass niemand sei, dem er „die heutige Silve jetzt ganz frisch vorlesen könnte.“ Komisch im Sinne von „merkwürdig“ ist freilich das Buch geraten. Es stammt nämlich aus der Zukunft. „Sechs Tage aus der Handschrift einer Silve von Marian Pankowski, ausgewählt und herausgegeben von Piotr Marecki. Krakau, den 9. November 2050“, so heißt es wie als Widmung, bevor der Text beginnt. Aber damit hat der Text bereits begonnen! Denn das Buch gliedert sich in sechs Abschnitte, denen jeweils ein Datum aus den kommenden 30 Jahren zugeordnet ist. Somit enthält es quasi einen Rückblick aus einer Zukunft, in die Pankowski den Leser versetzt.

Aber einen Rückblick worauf? Hierauf weiß nicht nur das Internet keine Antwort. Hangeln wir uns weiter an der Überschrift entlang: Auf Engel, im übertragenen wie im wörtlichen Sinn, trifft der Ich-Erzähler in jedem Kapitel. Die Einladung zum letzten Engeltag erhält der Erzähler im vorvorletzten Eintrag, als er in seiner Heimat zu einer großen Engelversammlung hinzustößt. Dort wird er Zeuge einer philosophischen Debatte und eines literarischen Wettbewerbs. Nicht nur bei dieser „Sitzung zur ungehobelten Poesie“ widmet sich Pankowski auf ausgesprochen dümmliche Weise der – wie er es nennt – „Unterleibsthematik“. Hier lässt er der ungelenken Lustischkeit, die sein gesamtes Buch durchzieht, freien Lauf. Man könnte meinen, dass er die Beiträge der Wettbewerbsteilnehmer nur wiedergäbe, wie beispielsweise diesen Vierzeiler: „Scheißt ein Weib ins Töpfchen / dass Donnerhall erklingt! / Steckt in den Arsch den Daumen / damit es nicht so stinkt!“. Aber die Beobachtungen des Erzählers treffen den gleichen Ton, so wenn er „Weinberge voll dicker Traubentitten“ und Klarinetten „so geil sich aufrichtend“ erblickt. Die Heimat seiner Mutter ist ihm „das Land, wo Milch und Honig meiner Mutter fließen“, und er selber sei an einer Stelle „rot wie ein Pimmel nach einem Bad im Mai“. Gerhard Zwerenz hätte es nicht schöner sagen können.

Dieser altväterlichen Frivolität – die neu und jung auch nicht besser geriete – korrespondiert eine abgegriffene lederne Lebendigkeit, so wenn der Erzähler durch die Natur wandert: „Der gewöhnliche, alljährliche Eisstau – hopp! Von Scholle zu Scholle! Und wieder – hopp! Von Eis zu Eis wir spielen Himmel und Hölle in Weiß… uuund schon sind wir drüben!“.

Es erinnert an Günter Grass’ sachliche Unfähigkeit aus der „Blechtrommel“, die sich als Ironie tarnt, in der es zu Anfang heißt: „Ich erblickte das Licht der Welt in Form einer 60-Watt-Glühbirne.“ Kichernd wird bei Pankowski der eigene Körper in einander fremde technische Einheiten zerlegt: „Ich schließe halb die Augen und hefte mir ein Lächeln in die Mundwinkel, um meine Zufriedenheit zum Ausdruck zu bringen.“ Bei der Morgentoilette verwendet er „ein paar Tropfen Eau de Toilette, damit mein Gesicht spürt, dass ich es gut mit ihm meine.“ So reden heutzutage gebildete pädagogisch bewusste Elternteile: ‚Mein Kind spielt das, damit es bestimmte Kompetenzen entwickelt‘ – nicht aus Spaß. „Schon nutzt der nächste Gedanke den lockeren Betrieb hinter meiner Stirn aus“? Schön wär’s! Einzig die „Generalmobilmachung des Gedächtnisses“ würde an anderer Stelle etwas taugen, nämlich als Kommentar zum deutschen Umgang mit der NS-Vergangenheit. Aber von der sind wir hier weit entfernt.

A propos: Liest sich „Planet Auschwitz“ anders, nachdem man „Der letzte Engeltag“ gelesen hat? Fällt etwas von diesem auf jenes zurück? Im ersten Kapitel, dem zum 22. Dezember 2006, taucht das Lager Auschwitz als Erinnerung einmal kurz auf. Der Zusammenhang bleibt unklar, und die Nennung spielt später auch keine Rolle mehr. Pankowskis Obszönität aber ist in „Planet Auschwitz“ nicht fehl am Platze. „Ich erhebe mich, nackt und ohne durch die Entlausung gegangen zu sein; die Hände über mein unbeschnittenes katholisches Glied gekreuzt“, so imaginiert er sich am Tisch seines Verbündeten Szymeks. Aber hier ist Obszönität die, zu der die Deutschen ihre Opfer zwangen: Immer wieder mussten sie sich nackt präsentieren. Bei der Aufnahme in ein Lager wurden ihnen alle Haare abgeschoren und wurden sie einer Pseudo-Entlausung unterzogen. Und auch das Detail des beschnittenen Glieds ist wichtig, denn ob jemand beschnitten oder unbeschnitten war, war im Zweifelsfall Kriterium dafür, ob einer ermordet wurde oder nicht. Auch Pankowskis lapidare Beschreibung von sich einschmutzenden Lagerinsassen ist hier passend: Sie erfasst den „excremental assault“ (Terrence Des Pres), mit dem die Deutschen ihren Opfer mitteilten, was diese angeblich seien – und mit dem sie Auskunft über ihren Volkscharakter gaben. Wer die Vulgarität, die Obszönität und Perversion auslässt, die das „Deutschtum von Auschwitz“ ausmachen, der verfehlt das Grundsetting, in dem die Judenverfolgung inszeniert wurde.

Kein Bild

Marian Pankowski: Planet Auschwitz.
Agenda Verlag, Münster 2010.
77 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783896884091

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Marian Pankowski: Der letzte Engeltag. Ein Silvenmanuskript.
Übersetzt aus dem Polnischen von Sven Sellmer.
Secession Verlag für Literatur, Zürich 2011.
82 Seiten, 17,30 EUR.
ISBN-13: 9783905951059

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch