Ein Moralist in unmoralischer Zeit?

Bei Haffmans sind Erich Kästners Romane für Erwachsene in einer handlichen Ausgabe erschienen

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nach dem Band mit Gedichten, die Erich Kästner als „Gebrauchslyrik“ bezeichnet hat, legt der Haffmans Verlag nun einen weiteren Band mit Romanen für Erwachsene vor, der neben dem bekannten „Fabian“ auch die weniger bekannten „Drei Männer im Schnee“, „Die verschwundene Miniatur“ und „Der kleine Grenzverkehr“ enthält. Erstmals sind damit die vier abgeschlossenen Romanprojekte, obwohl von unterschiedlicher Qualität, vereint.

Über „Fabian“ (1931) war man sich schnell einig: Die „Geschichte eines Moralisten“ – so der Untertitel – bietet eine Satire auf die Zustände in Berlin zur Zeit der Weltwirtschaftskrise und ist einer der besten Zeitromane der ausgehenden Weimarer Republik. Sein Protagonist, Dr. Fabian, ein Germanist, der sich als Werbefachmann sein Brot verdienen muss, bald aber seine Arbeit verliert, versucht sich den Zeitkonflikten zu entziehen, indem er möglichst wenig handelt, ziellos herumstreunt, räsonniert und sich als Zuschauer im Zerstreuungsbetrieb abreagiert. Immer finden sich „gute (Gegen)Gründe“, um es, statt eine Entscheidung zu treffen, bei einem pointierten Aperçu über die Entscheidungsunmöglichkeit zu belassen. „Ich sehe zu und warte. Ich warte auf den Sieg der Anständigkeit, dann könnte ich mich zur Verfügung stellen“. Fabians Dilemma liegt in der Moral, in ihren Wertkriterien selbst, die sowohl Gehorsam und Anstand verlangen, als auch Leistung und Erfolg. Beides aber geht nicht zusammen.

In diesem satirischen Spiegelbild finden sich mit Ehebruch, Arbeitslosigkeit, kapitalistischem Streben, unerfüllter Liebe, manipulierbaren Menschen und vor allem entfesselter, zügelloser Sexualität lediglich Ausschnitte von Symptomen des „kränkelnden Patienten Zeit“. Eine umfassende Krankheitsanalyse unterbleibt. Aus der Perspektive eines sich über die materielle Not und die nackte Existenzangst erhebenden Protagonisten wird die Welt transparent.

Unter der Überschrift „Linke Melancholie“ hatte Walter Benjamin 1930 Kästners Gedichte rezensiert. Was er dort sagt, kann auch für den Roman „Fabian“ gelten: „Die Verwandlung des politischen Kampfes aus einem Zwang zur Entscheidung in einen Gegenstand des Vergnügens, aus einem Produktionsmittel in einen Konsumartikel – das ist der letzte Schlager dieser Literatur“. „Fabian“ ist keine Warnung vor der kommenden Katastrophe. Sein Protagonist Fabian verharrt in der beobachtenden Rolle des Moralisten. Seine einzige Aktion – die Rettung eines Kindes aus dem Wasser – geht schief. Während der Junge ans Ufer zurückschwimmt, ertrinkt Fabian: „Er konnte leider nicht schwimmen.“ In einem Gefilde der Rat- und Hilflosigkeit besitzt der Roman durchaus chronikalischen Charakter, doch die Chronologie der deutschen und europäischen Geschichte hat er nicht vorausgezeichnet. Als Zeitkritiker und Zeitpropheten sollte man Kästner nicht bezeichnen, so hat schon Andreas Drouwe 1993 konstatiert, man müsste ihn eher als einen „Zeitschreiber“ ansehen. Das mag wohl in der Weise stimmen, dass in der Tat moralische Empörung bei Kästner gegenüber einer entschiedenen politischen Analyse dominiert.

Die drei anderen, zur Zeit des „Dritten Reiches“ entstandenen Romane werden zu den Unterhaltungsromanen gezählt. Kästner musste seit 1933 in weniger verfängliche literarische Gebiete ausweichen, wenn er wenigstens noch im Ausland publizieren wollte. Aber müssen diese Romane nur deshalb qualitativ schwächer sein, weil sie Kästners humoristischer Seite Rechnung tragen, so hatte schon Renate Benson vor 35 Jahren gefragt. Und sie hatte damals aus Kästners Aufsatz „Die einäugige Literatur“ zitiert: „ Von der heiteren Muse, vom Humor gar, dem höchsten Kleinod der leidenden und dichtenden Erdkrustenbewohner, sprechen die deutschen Dichter und Denker allenfalls am 29. Februar, sonst nicht. Sie verachten solche Kindereien, sie nehmen nur das Ernste ernst. Wer ins deutsche Pantheon hinein will, muss das Lachen an der Garderobe abgeben.“

Die drei Romane unterscheiden sich zwar durch die Handlung voneinander, weisen aber größere Ähnlichkeiten auf. Dabei wird die Sprache zum fast alleinigen Bedeutungsträger. Den Zweck, den Kästner mit seiner Hinwendung zum humoristischen Sprachstil verfolgt, gibt er in seinem Vorwort zu dem 1936 veröffentlichten Gedichtband „Erich Kästners Lyrische Hausapotheke“ an, worin er den Humor als ein Medikament oder Antitoxin gegen Krankheiten seiner Leser bezeichnet, die nicht mit Pillen geheilt werden können: „Es tut wohl, den eigenen Kummer von einem andren Menschen formulieren zu lassen. Formulierung ist heilsam“.

Fritz Hagedorn („Drei Männer im Schnee“) wie Joachim Seiler („Die verschwundene Miniatur“) und Georg Rentmeister („Der kleine Grenzverkehr“) sind nur Varianten eines Typs wie auch die weiblichen Kontrahenten Hilde Tobler, Irene Trübner und Konstanze. In Fritz Hagedorn und seinen geistigen Brüdern erscheint Fabian wieder, doch ohne dessen Probleme, die zu seiner Selbstaufgabe führten. Die Charaktere aber sind dieselben. Ebenfalls kann Hilde Tobler ohne Schwierigkeiten als der Typ erkannt werden, den Cornelia, Fabians unglückliche Freundin, darstellt. Auch verfolgt Kästner in allen drei Romanen wieder sein Ziel der Gesellschaftskritik, wenn auch nicht so offenkundig wie in anderen seiner Werke. Am ehesten ist sie noch – wenn auch nicht durchgängig, so doch in einigen Partien – in „Drei Männer im Schnee“ verwirklicht. Die Helden dieser Unterhaltungsromane haben mit Fabian gemeinsam, dass sie von Situationen beherrscht oder geleitet werden und sich ihnen oft genug beugen müssen. Ihr eigenes Handeln trägt fast nie zu einer Situationsänderung bei, so hat schon Benson festgestellt. Es handelt sich hier um eine latente Ausdrucksform von Kästners Kritik an der Gesellschaft. Das ist nicht nur in seinen Erwachsenenromanen der Fall, auch die Helden seiner Kinderbücher sind nur das Glied einer Gesellschaft, gegen die sie sich behaupten müssen.

Am gehaltvollsten sind noch die „Drei Männer im Schnee“: Als ein reicher Geheimrat – Tobler – sich auf einer Reise als armer Mann ausgibt und ein Armer – Fritz Hagedorn – für einen Millionär gehalten wird, beginnt hier eine turbulente Verwechslungskomödie. Fritz Hagedorn hat zwar das Preisausschreiben gewonnen, und somit ist ihm die Möglichkeit gegeben, Geheimrat Tobler und dessen Diener Johann Kesselhuth kennenzulernen. Aber er hat nicht die Wahl des Ferienortes und wird bis zuletzt über die Herkunft seiner beiden Freunde und seiner Braut im Unklaren gelassen. Die Beschreibung der Freundschaft zwischen Tobler und Hagedorn ist für Kästner ein Mittel, Hagedorns ideale Charaktereigenschaften zu unterstreichen. Diese Eigenschaften, die Hagedorn als fast fehlerlosen jungen Mann schildern, überwinden schließlich alle Hindernisse, die ihm von der Gesellschaft in den Weg gelegt worden waren, und der Roman kommt zu einem glücklichen Ende.

In allen drei Romanen gibt es eine zweigeteilte Gesellschaft: Mal eine hirnlose, vergnügungssüchtige Masse, die ehrlichen Menschen wie Geheimrat Tobler, seiner Familie und seinen Bediensteten feindlich gegenübersteht, dann eine Verbrecherbande, von Joachim Seiler erfolgreich verfolgt, und schließlich die Machthaber des „Dritten Reiches“ auf der einen und Georg Rentmeister und sein Freund Karl auf der anderen Seite. Der Humorist Kästner arbeitet hier mit den Mitteln der Übertreibung, und so sind die einen besonders gut und vom Glück begünstigt, während die anderen besonders dumm oder lächerlich böse erscheinen. Dass die Guten schließlich belohnt werden, mag zwar dem Idealisten Kästner gutgeschrieben werden, aber der Idealist muss sich dann auch gefallen lassen, dass diese Romane der Gattung des Unterhaltungsromans zuzurechnen sind. Denn bezeichnenderweise gehört zum guten Ende eines jeden der drei Romane auch der finanzielle Aufstieg der Helden. Fritz Hagedorn wird Geheimrat Toblers Nachfolger. Joachim Seiler bekommt einen Direktorenposten in seiner Versicherungsanstalt und Georg Rentmeister heiratet eine begüterte Grafentochter. Das ist so ganz nach dem Geschmack von Lieschen Müller.

Aber dennoch ist das Spiel der Täuschungen und Verwechslungen nicht so ganz ohne. Geheimrat Tobler begibt sich als armer Eduard Schulze in ein vornehmes Hotel nach Bruckbeuren, um „das Glashaus [zu] demolieren, in dem ich sitze“, und diese Doppelrolle behält er auch dann noch bei, als man ihn schließlich aus dem Hotel hinauswirft. Joachim Seiler nimmt als eigenmächtiger Detektiv den Namen seines Freundes an, um eine kostbare Miniatur vor dem Gestohlenwerden zu bewahren, und im „Kleinen Grenzverkehr“ spielt eine ganze Grafenfamilie in den Rollen der Dienerschaft Theater für reiche amerikanische Touristen. Die Figuren verändern sich in diesen Rollen zwar nicht (Kästner ging es nicht um einen vielschichtigen psychologischen Aufbau der Charaktere), aber das Verhalten der Gesellschaft den „gedoppelten“ Figuren gegenüber hat Kästner hier wohl mehr interessiert als das aktive Handeln der Helden selbst. Selbst in seinen humoristischen Romanen – so hat es Renate Benson formuliert – spürt man wieder das Interesse des Satirikers an der „condition humaine“. Kästners Art von Humor ist anerzogener Widerstand gegen Resignation und Zynismus, und es ist nicht ohne Bedeutung, dass gerade in den dunkelsten Jahren seiner schriftstellerischen Laufbahn seine humorvollsten Werke entstanden.

Zudem finden sich in allen drei Romanen die Wesensmerkmale dieser Art von Humor sprachlich realisiert, etwa in der Gesellschaftskritik, deren Ton durch die humorvolle Behandlung so verschieden von der satirischen Kritik im „Fabian“ ist. Gefährliche Fehler der Menschen, die in Fabian als unkorrigierbar verurteilt werden, bekommen hier durch die Art der Beschreibung den Anschein von entschuldbaren menschlichen Schwächen. Wie Kästner von einer normalen, im Alltagsstil geschriebenen Unterhaltung ohne Übergang in eine gehobene beziehungsweise niedere Sprachschicht überwechselt, wie ihm die Änderung einer ernsthaften in eine heitere und komische Situation gelingt, wie er der Gefahr, ins Sentimentale abzugleiten, durch Ironie begegnet, das bereitet dem Leser ausgesprochenes Vergnügen. Der humoristische Effekt ist hier vor allem sprachbedingt, das Verfahren des Überwechselns in verschiedene Sprachschichten, die gezielte Unlogik im Sprachgebrauch, die Umformulierung von Sprichwörtern oder Redensarten und so weiter werden um der humoristischen Effekte willen eingesetzt. Humor als Schlüssel zum Verständnis des Menschen –  dem Leser soll er zur Selbsterkenntnis verhelfen. Beim „Kleinen Grenzverkehr“ kommt noch hinzu, dass er in Form eines Tagebuches gehalten ist, ein durchgehendes Zwiegespräch bildet hier den Rahmen für die Handlung.

Der Autor hat in „Kästner über Kästner“ (1952) in heiterem Eigenlob seine während des Berufsverbots geschriebenen humoristischen Unterhaltungsromane extra hervorgehoben, die „in manchen Krankenhäusern verordnet werden wie Zinksalbe und Kamillenumschläge“. Er arbeitete sie auch in den 1950er-Jahren zu Drehbüchern um, nach denen die Filme „Die verschwundene Miniatur“ (1954, Regie: Carl Heinz Schroth), „Drei Männer im Schnee“ (1955), Regie: Kurt Hoffmann) und „Salzburger Geschichten“ (1956, Regie: Kurt Hoffmann; es handelt sich hier um ein Remake des bereits 1943 verfilmten „Der kleine Grenzverkehr“) entstanden.

So zeigen die vier in diesem Band vereinigten Romane den Autor Kästner als satirischen Zeitkritiker (als bloßer „Zeitschreiber“ wird er wohl unterbewertet), als Moralisten – mit einem Touch romantischer Sensibilität – in einer unmoralischen Zeit und als unterhaltsamen Humoristen, der seinen Humor aber durchaus auch zu instrumentalisieren weiß.

Titelbild

Erich Kästner: Die Romane.
Gerd Haffmans bei Zweitausendeins, Berlin 2011.
799 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783942048408

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