Die Möglichkeit, mir ein anderes Schicksal zu geben

Margrit Schribers Roman „Das zweitbeste Glück“ erzählt vom Glanz und Scheitern der Schauspielerin Julie Helene Bider

Von Katja HachenbergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Katja Hachenberg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn ich nur einmal auftreten dürfte und nach geendigtem Spiel gefeiert würde. Nur dieser Wunsch. (Tagebucheintrag von Julie Helene Bider)

„Es hat ihr gefallen, sich selbst zu erschaffen. Ein Kunstwerk, das angeschaut wird. Es hat ihr gefallen, den Tag und die Stunde ihres Tods zu wählen und einen letzten Satz in ihr Tagebuch zu schreiben. Den letzten Satz der Mata Hari. Alles nur Illusion! Zu sterben, zu schlafen, ins Nichts zu verschwinden, was macht das schon?“

Dies sind die letzten Sätze des 169 Seiten starken Romans der in Luzern geborenen und für ihr literarisches Werk vielfach ausgezeichneten Autorin Margrit Schriber. Im für sein anspruchsvolles literarisches Programm bekannten Zürcher Verlag Nagel & Kimche, der seit elf Jahren zum Münchener Carl Hanser Verlag gehört, sein eigenständiges Profil aber wahrt, erschienen von ihr acht Romane, zuletzt „Die hässlichste Frau der Welt“ (2009). Über das Schreiben bemerkt Margrit Schriber: „Ich frage nach dem Sinn meines viel zu kurzen Tags. Hoffnungen stoßen an Grenzen. Große Entwürfe zerschellen an Unfähigkeiten und Zwängen. Das Angehäufte zerrieselt. Unsere Macht, unser Gesicht, unser Name und unser Werk? Asche im Wind. Unsere Spur verliert sich.“

Mit ihrer Rolle in einer skandalösen Militärkomödie und einem anrüchigen Kuss wird Julie Helene Bider überraschend zum Star des jungen Stummfilmkinos. Als Kopilotin ihres Bruders Oskar, der als Flugpionier die Pyrenäen und die Alpen überquert und den ersten Direktflug von Bern nach Paris meistert, hat sie bereits einige Berühmtheit erlangt. Als wagemutiges Paar füllen die Geschwister die Klatschseiten der Illustrierten, sie verkörpern die Zukunft in einer Zeit, in der das Fliegen und der Film erst im Aufbruch sind.

Anhand von Lenys Tagebuch der Jahre 1910-1912 sowie der Arbeiten des Biografen Johannes Dettwiler-Riesen erzählt der Roman auf behutsame Weise das Leben der zugleich rebellischen wie höchst sensiblen Tochter aus gutem Hause, die ihre Eltern früh verlor und ihren Traum von einer Schauspielkarriere gegen alle Widerstände durchsetzte.

Am Nachmittag des 7. Juli 1919 tötet sich Leny vierundzwanzigjährig in ihrem Wohnschlafzimmer im Hotel Bellevue au Lac in Zürich mit einem Schuss in den Kopf. Dem Personal ist sie unter dem Künstlernamen „Leny Harold“ vertraut. Den vergangenen Abend hat sie mit ihrem Bruder und mit einigen seiner Freunde im Carlton-Restaurant verbracht: „Nichts deutete darauf hin, dass sie am nächsten Tag einen Abschiedsbrief verfasst, ihre Papiere auf dem Schreibtisch ausbreitet, ihre Armbanduhr zu den Urkunden, Bankheften und dem Tagebuch legt, dann eine Waffe durchlädt und sich damit aufs Bett setzt. Während hinter den Voilevorhängen der See glitzert, schiebt Julie Helene den Revolver zwischen ihre […] berühmt gewordenen Lippen. Warum? Eine Frage. Tausend Antworten. Jede richtig. Jede falsch.“

Schribers Roman ist in 27 Kapitel untergliedert. Erzählt wird vom Standpunkt der fiktiven „Pariserin“ aus, die Lenys Tagebuch an sich nimmt und die ein langjähriges Verhältnis mit Lenys Vater nach dem Tod seiner Frau hatte. Jakob Bider ist Fachmann für Textilien, sein Geschäft hat den Ruf, die größte Auswahl an Stoffspezialitäten zu bieten. Der kleine Sohn der „Pariserin“ wird groß zwischen Jakob Biders beiden Söhnen und Leny, die die Geliebte ihres Vaters als „steife Person mit viel Oberweite, großem Ausschnitt und noch größeren Hüten“ beschreibt. Ihren Sohn, der sich ein Leben lang in Lenys Nähe aufhalten und ihr überall hin wie ein Schatten folgen wird, nimmt sie kaum wahr.

Als „die Prinzessin von Jakob“ bekommt sie jeden Wunsch erfüllt – nur nicht den, Schauspielerin werden zu dürfen: „Er wollte, dass Leny sich den Schauspielerberuf aus dem Kopf schlage. Die Prinzessin begehrte auf. […] Sie erfuhr das Glück, einen Vater zu haben, der sie die Werke der Kunst bewundern lehrte. Er pflanzte ihr diese Liebe doch wohl nicht ein, um jetzt zu verlangen, dass sie ihr entsage?“

Es wird Leny nicht gestattet, auch nur daran zu denken, eine Künstlerin zu werden: „Stattdessen Hausarbeit. Stattdessen ein Korsett. […] Stattdessen jene Winzigkeiten, die Leny hindern, sich schon im Alter von sechzehn Jahren eine Kugel in den Kopf zu schießen“.

Leny muss ins Pensionat, als ihr Vater überraschend an einer Lungenentzündung stirbt. Auch die „Pariserin“ ist geschockt und fassungslos: „Alles vorbei, […] das bisschen Glück einer alternden Frau, die winzige Hoffnung auf eine Prise Sicherheit für meinen Sohn und mich. Vernichtet“. Die Basler Wohnung wird aufgelöst, Jakobs Schwager Albert als Vormund der minderjährigen Leny bestimmt. Die Hinterlassenschaft reicht aus, um Leny und ihre beiden Brüder das Leben im gewohnten Stil weiterführen zu lassen. Georg steht vor dem Abschluss seines Medizinstudiums, Oskar reist nach Argentinien mit dem Versprechen, Leny bei seiner Rückkehr aus dem Pensionat zu holen.

Im Pensionat kommt es zu Auseinandersetzungen zwischen Leny, den anderen Mädchen und „Madame“: Sie passt nicht in das Bild der kultivierten und wohlerzogenen Töchter, sie kann nicht stillsitzen, will ins Freie, will allein durch die Stadt streifen. Sie verabscheut das Stricken und Sticken: „Am liebsten hantierte Leny mit einer Schere, versenkte sie ohne Hemmung in einen kostbaren Stoff und schnitt ihn in Stücke. Sie entwarf alle ihre Kleider selbst, auch Hüte fertigte sie an“. Sie bricht aus den geführten Spaziergängen aus, bleibt für Stunden unauffindbar. Einen Halt findet sie in Oskar, der die Gewohnheiten des verstorbenen Vaters übernimmt: Er bessert Lenys Taschengeld auf, macht ihr Geschenke, fährt sie, zurückgekehrt aus Argentinien, im Automobil umher und holt sie aus dem Pensionat heraus, um sie zur Haushaltungsschule in Rallingen am Thunersee zu bringen. Vor allem aber verhilft er ihr zum Fliegen.

Mit einundzwanzig Jahren ist Oskar Pilot: „Bereit, Geschichte zu schreiben“. Am 24. Januar 1913 überfliegt er in seiner Blériot die Pyrenäen: „Oskar war schlagartig berühmt. Als Star kehrte er in die Schweiz zurück.“ In der Schlossküche von Rallingen löst Leny die Schlaufen von ihrem Schnürkorsett und stopft es zusammen mit der Küchenschürze in den Abfalleimer: Sie ist frei und bereit für ein neues Leben. Im Hof des Schlosses wartet sie auf das Automobil ihres Bruders. Der Schrankkoffer und die Singer-Nähmaschine, die sie allzeit begleitet, stehen bereit.

Die Zeit der Reisen beginnt. Oskar ist der berühmteste Flieger der Welt, er wird vom Bundesrat geehrt und zum Botschafter der Nation. Leny lebt eine Zeit lang in England und erfährt dort, dass Oskar nach einer Bruchlandung leicht verletzt ist: „Ein Schock […]. Sie kaufte sich den Revolver“. Im April 1915 kehrt sie zurück in die Schweiz, kauft sich die Dogge Cäsar, sieht sich in Zürich nach der Pension einer netten Witwe um.

Bald kann sie als neue Adresse die Klausstraße 19 melden: „Als Beruf trug sie ein: Stud.art“. Zu dieser Zeit eröffnet die großherzoglich-sächsische Hofschauspielerin P. Wyon-Frieder die erste Kino-Schauspielschule; Leny will die Beste an dieser Schule sein: „Sie begann, die sparsame Körpersprache der Eleonore Duse zu studieren. Diese konnte auf Masken und Requisiten verzichten, verließ sich nur auf ihr ausdrucksstarkes Gesicht, ihre Darstellungskraft und Gestik“.

Auch das Privatleben der Duse fasziniert sie. Nach einem Jahr schließt Leny die Schule ab, die Jury lobt ihr stummes Spiel, sie ist Klassenbeste und „bereit, entdeckt zu werden“, als sie Charles Decroix, dem großen Regisseur aus Frankreich, begegnet: „Diese Frau erschien Decroix für jede Rolle geeignet, Unschuldslamm oder Luder, Kindfrau oder Dame. Leny hatte das Flair einer Diva“.

Lenys erster Film, ein Pensionatsfilm, dauert eine Viertelstunde und ist ihr auf den Leib geschrieben. Im August 1917 findet die Premiere in Zürich im grandiosen Lichtspielpalast Orient Cinema am Bahnhofplatz statt. Jede Vorführung ist ausverkauft, der Film erlebt einen Triumph, der alle Beteiligten erstaunt. Leny quartiert sich im Hotel Bellevue au Lac ein. Gemeinsam mit Oskar besucht sie die Offiziersbälle und Galadiners der Stadt. Sie lernt den Sohn einer der wichtigsten Familien der Stadt, Ernst Juncker, kennen, und verlobt sich mit ihm, nur um sich wenig später wieder zu entloben: „Kaum war sie verlobt, bereute sie den Schritt. Sie behauptete, die Wohnung, die sie mit Ernst angeschaut habe, nehme ihr die Luft zum Atmen. […] Leny hatte Albträume. Sah sich als Gefangene von Bettlaken mit Monogramm, Silberbesteck, Waschzuber […]. Sie sah keine Zukunft mehr. […] Sie mochte Hotelzimmer mit fremd duftenden, steifen Laken auf dem Bett“. Sie mag das Kommen und Gehen wechselnder Gäste, Pagen und Portiers: Im Bellevue ist sie ein Gast auf Durchreise, bereit für etwas Neues, für „die Perlen, die sich zu ihrem Leben auffädeln“ – eine Kette, die nur wenig später allzu früh abreißen wird.

Für Leny erscheint keine Todesanzeige, aber unter „Vermischtes“ eine Meldung zum Abschied von der Schauspielerin, ein Kleinst-Nachruf. Die Grabrede hält der Langenbrucker Dorfpfarrer, er spricht von Suizid, „morti fratris causa“. Korpskommandant Bornand hält eine Rede über das ruhmreiche Leben von Oberleutnant Bider. Zu Julie Helene gibt es nichts zu sagen. „Die Särge werden feierlich ins Grab gelassen. Der von Oskar mit Guiden-Tschako, blankem Degen und Alpenrosen auf rotweißem Fahnenstoff, der von Leny schwarz verhüllt und ohne Blumenschmuck. […] Das Defilee des Abschieds beginnt, der letzte Blick ins Grab. Zwischen den Särgen gibt es keinen Abstand, ihre Kanten berühren sich. Es ist allen bewusst, dass die Leichen mit zerschmettertem Kopf in ihren Satinpolstern liegen. Tote ohne Gesicht. Ein Geschwisterpaar“.

Das Motiv des zerstörten Gesichts: Das von Leny von ihr selbst zerstört durch Kopfschuss, das von Oskar durch den Absturz: „Oskar hatte kein Gesicht. Das Maschinengewehr, auf dem Flugzeug montiert, hatte seinen Kopf zerschmettert“. Hier klingt ein zentrales Motiv des Textes an, das von Identität und Identitätsverlust, das Motiv des sich suchenden und am Ende zerstörten Ichs.

Schriber erzählt die Geschichte der Leny Bider mit Distanz und Nüchternheit, aber an keiner Stelle kühl. Tempi-Wechsel und eine Erzählstruktur, die zwischen aktuellem Geschehen und Rückblicken wechselt, machen die Lektüre abwechslungsreich und kurzweilig. Die Figur der „Pariserin“ ist ein gelungener Kunstgriff, der verhindert, dass die Erzählung der Tragödie dieses Lebens in Larmoyanz abgleitet.

Alle Figuren haben ein schweres Schicksal zu tragen – und alle tragen es mit Würde. Die Einsamkeit ist omnipräsent in diesem Roman, der die Verletzlichkeit des menschlichen Daseins, die Fragilität der Träume und Sehnsüchte wie des Lebens unaufdringlich vor Augen führt. Während der Lektüre fühlt man sich an ein weiteres Geschwisterpaar – hier: der Literaturgeschichte – erinnert: Erika und Klaus Mann. Das Scheitern, die Tragik – Margrit Schriber schreibt sie mit leichter Hand, und doch gibt es an keiner Stelle die Anmutung einer Verklärung oder Überhöhung. Leny Bider hat gekämpft – sie hat gewonnen und verloren. Es gab etwas, das sie sich erkämpfen konnte – und es gab etwas, das mächtiger war als sie und sich allen Kämpfen von vornherein entzog. Der Verlust Oskars, ein weiterer Verlust nach dem frühen Tod erst ihrer Mutter, dann ihres Vaters, entzog ihr den Boden unter den Füßen und zerstörte den Willen, weiter für ihren künstlerischen Weg und ihr Leben als Frau zu kämpfen.

„Das zweitbeste Glück“ zeichnet auch ein gelungenes Gesellschaftsbild sowie den Konflikt von „Kunst“ und „Leben“ nach. Es beschreibt den Weg einer Frau, die aus vorgegebenen, sie festlegenden Mustern ausbricht und sich von allen an sie gerichteten Erwartungen emanzipiert. Ruhig, stringent und klar hat Margrit Schriber einen lesenswerten Roman geschrieben, der, wenn auch verschleiert, ihre Sympathie für die tragische Heldin nicht verbergen kann: „Die Möglichkeit, mir ein anderes Schicksal zu geben“, scheint Margrit Schribers poetischem Statement verschwistert, dass das Schreiben sie ihre „Rolle als Sandkorn“ vergessen lasse: „Ich kann meine Existenz vervielfältigen und die Zeit durchmessen. Schreibend lebe ich tausend Leben. Und mein viel zu kurzer Tag wird lang“.

Titelbild

Margrit Schriber: Das zweitbeste Glück. Roman.
Nagel & Kimche Verlag, Zürich 2011.
170 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783312004812

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