Unvollständige Überblicke

„Die Kultur des 20. Jahrhunderts im Überblick“ von Werner Faulstich

Von Alexander PreisingerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexander Preisinger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Vermessung des abgeschlossenen 20. Jahrhunderts ist in vollem Gang, wenngleich abschließende Bewertungen schon seit den 1990er-Jahren erscheinen. Der vorliegende Band ist der neunte und letzte Band der „Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts“, erschienen im Wilhelm Fink Verlag und herausgegeben von Werner Faulstich. Während die vorherigen Bände jeweils einem Jahrzehnt gewidmet waren, bietet der Abschlussband thematische Längsschnitte von 1900 bis 2000, untergliedert in Kapitel wie Religion, Literatur oder Recht. Damit richtet sich die Reihe, was der Herausgeber in der Einleitung als Problem markiert, an der scheinbaren Zäsur der Jahrzehnte aus. Dass die Projektgrenze (1900 bis 2000) ihre Berechtigung durch „fundamentale mediengeschichtliche ‚Sprünge‘“ haben soll, muss unverständlich sowie konsequenzenlos für die Beiträge bleiben – denn welche Grenze sollte eine Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts denn sonst haben? Mit der Formulierung eines projektübergreifenden gemeinsamen kulturtheoretischen Rahmens hält sich der Herausgeber erst gar nicht lange auf: „Dabei wurde Kultur im Kern pragmatisch verstanden als die Ausbildung von Sinnkonzepten und handlungsorientierten Wertemustern und Leitbildern.“ Auch der Titel entspricht nicht ganz dem, was der Leser von dem Buch erwartet: „Die Kultur des 20. Jahrhunderts im Überblick“ bezieht sich ausschließlich auf Deutschland.

Günter Bentele und Jens Seiffert erarbeiten zunächst einmal eine Definition dessen, was Kultur im unternehmerischen Kontext sein könnte; ein geschichtlicher Abriss deutscher Unternehmenskultur führt sie vom „Stählernen Gehäuse“ (Max Weber) zum „Kristallpalast“ (Peter Sloterdijk), von der Betriebsgemeinschaft zum flexiblen Individuum und zur zunehmend reflexiver werdenden globalisiert-unternehmerischen Kommunikationskultur. Der Beitrag ist insofern hervorzuheben, als dass ihm auf kleinem Raum eine erstaunlich verdichtete Darstellung gelingt, von der auch das beachtliche Literaturverzeichnis zeugt. Dirk Stegmanns Beitrag ist soziologisch orientiert und präsentiert die Trends gesellschaftlicher Entwicklung, deren Stationen unter anderem Deutschland als Einwanderungsland, die Krise der Familie, der Wandel der Geschlechterbeziehung und die Jugendprotest-Bewegungen sind. Stegmanns Beitrag hätte angesichts der im Fließtext verpackten Dichte an Zahlen die eine oder andere grafische Darstellung gut getan.

Wie der Herausgeber schreibt befasst sich Gerhard Ringshausens Beitrag mit den beiden christlichen Konfession „unter Bezugnahme vor allem auf politische Veränderungen“, was nichts anderes heißen will, als dass kulturgeschichtliche Aspekte zugunsten einer traditionellen Institutionsgeschichte weitgehend ausgespart wurden. Auch für Nichtrechtswissenschafter verständlich ist Stephan Meders Artikel zum Wandel der deutschen Rechtskultur. Detlef Gaus’ Beitrag zur Erziehung und Bildung im 20. Jahrhundert zeichnet nicht nur einen geschichtlichen Abriss der Jugend als eigene Phase nach, sondern auch der Bildungskonzepte und der Pädagogik als wissenschaftliche Disziplin, wobei seine Einschätzung für die Zukunft Letzterer erstaunlich pessimistisch ausfällt.

Mit Ricarda Strobels („Essen – Kleiden – Wohnen“) und Hans-Dieter Küblers („Jugend- und Kinderkulturen“) Beiträgen liegen zwei klassisch-kulturgeschichtliche Beiträge vor, denen es, wie der Herausgeber im Vorwort schreibt, gelingt, „Kernwissen oder einen Wissenskanon auf knappem Raum zu formulieren“. Einen aus kulturtheoretischer Sicht anspruchsvollen Beitrag hat Karlheinz Wöhler verfasst. Unter Verwendung von spatialen Kategorien beschreibt er den historischen Wandel von Reichs- und Staatsräumen, der Milieus und der massenkulturellen Felder. Von Karin Knop stammt ein Beitrag über die Geschichte der Wirtschaftswerbung; die nach Werbemedien differenzierten quantitativen Daten verbindet sie mit mentalitätsgeschichtlichen Aspekten und einem historischen Abriss der Werbekritik.

Vom Herausgeber stammt ein Artikel über literarische Kulturen, der auch das Drama umfasst. Faulstichs Beitrag ist ein anschaulicher Beweis dafür, wie unterschiedliche sozioökonomische, rezeptionsästhetische, gattungstheoretische Einflussfaktoren in einem komplexen Wechselspiel aufeinander bezogen werden können. Carola Schormanns Beitrag beschäftigt sich mit den Transformationsprozessen bildungsbürgerlicher Musikkultur und mit der Geschichte bildender Kunst setzt sich Siegfried Gohr auseinander. So informativ und gut akzentuiert der Beitrag auch ausfällt, eine stärkere Gliederung wie auch eine Bibliografie hätten dem Basisartikel-Konzept des Bandes stärker entsprochen. Der letzte Beitrag ist dem „Jahrhundert der Medien“ gewidmet; Knut Hickethier gelingt es, unter Einbezug unterschiedlicher Aspekte, eine großflächige Skizze medialer Transformationsprozesse zu zeichnen.

Welches Resümee über das 20. Jahrhundert lässt sich also ziehen? Die in den Beiträgen beschriebenen Transformationsprozesse sind sich allesamt sehr ähnlich: Nach einer ersten Dynamisierung während der Weimarer Republik und ihrem jähen Ende durch die nationalsozialistische Katastrophe kommt es zur Akzeleration kultureller und gesellschaftlicher Dynamik. Von den Ernährungsgewohnheiten über Lebensstil und Musikkultur findet eine Individualisierung, Pluralisierung und letztlich Globalisierung statt. Bürgerliche Bildung und Lebenskultur, die bis tief in das 20. Jahrhundert noch als Orientierungsrahmen dienten, lösen sich zugunsten postmoderner Heterogenität auf.

Es versteht sich von selbst, dass die Beiträge in der gebotenen Kürze des Bandes bestenfalls große und grobe Überblicke bieten können. Dies tun sie aber auf durchwegs hohem Niveau – wenngleich, auch dies ist freilich selbstverständlich, je nach Autor mit unterschiedlicher Akzentuierung. Es scheint müßig, fehlende Themen zu monieren, passieren soll es mit Verweis auf die Relevanz dennoch: Gerade im Zeitalter der schwelenden ökonomischen Krisen scheint es unklar, warum kein wirtschaftsgeschichtlicher Artikel aufgenommen wurde. Der insgesamt sehr gute Eindruck des Sammelbandbandes soll damit aber nicht geschmälert werden; mit der „Kultur des 20. Jahrhunderts im Überblick“ liegen eine Reihe weitgehend gut geschriebener Aufsätze vor, die kompakt wesentliche kulturgeschichtliche Überblicke zu vermitteln vermögen. Dass der Überblick vielleicht anders hätte akzentuiert werden können, markiert selbstreferenziell der Buchrücken: Dort wurde bei „Überblick“ nämlich ein „b“ vergessen.

Titelbild

Werner Faulstich (Hg.): Die Kultur des 20. Jahrhunderts im Überblick.
Wilhelm Fink Verlag, München 2011.
240 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783770551446

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