Alles ging von Euböa aus

Robin Lane Fox erzählt die Geschichte der dunklen Jahrhunderte im Homerischen Zeitalter

Von Stefan DiebitzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Diebitz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Ära der griechischen Geschichte zwischen dem Ende der mykenischen Epoche und der Mitte des achten vorchristlichen Jahrhunderts wird gern als die der Dunklen Jahrhunderte bezeichnet, weil aus dieser Zeit keinerlei schriftliche Quellen und dazu nur verschwindend wenige archäologische Zeugnisse vorliegen. Im Grunde sind diese Jahrhunderte bloß erschlossen, denn man braucht sie, um die griechische Geschichte und ihre Chronologie der mesopotamischen und ägyptischen anzugleichen. Eine Geschichte dieser stummen Jahrhunderte zu schreiben – und in nichts Anderem liegt der Ehrgeiz des renommierten britischen Althistorikers Robin Lane Fox – ist also ziemlich verwegen. Die Wissenschaft kennt schließlich allenfalls die Namen von Volksgruppen oder Siedlungsplätzen, aber keinesfalls die der tätigen und damit historisch gewordenen Personen, und erzählende Texte liegen auch nicht vor, sondern nur sehr wenige, meist schwer entzifferbare und eher kryptische Inschriften.

Fox, von dem erst 2010 im selben Verlag das ganz ähnlich ausgestattete und ebenso amibitionierte Werk „Die klassische Welt. Eine Weltgeschichte von Homer bis Hadrian“ erschienen ist, ist dank einer erstaunlichen Belesenheit und seinen erheblichen schriftstellerischen Fähigkeiten fast der ideale Autor für ein derartig weitgespanntes Unternehmen, aber fragwürdig wird die Geschichte einer Zeit, von der wir kaum etwas wissen, trotzdem immer sein. Allzuviel wird vermutet oder als wahrscheinlich angenommen.

Denn was weiß die Wissenschaft? Nicht eben viel. Fox berichtet über den Beginn der griechischen Kolonisation, der von der Insel Euböa ausging, und er verwendet dabei zweierlei Quellen, um die Fakten für seine Geschichte zusammenzustellen: die Ergebnisse von Ausgrabungen sowie eine Unzahl von nicht allein griechischen Mythen. Dabei vertritt er stets allseits akzeptierte Positionen der Wissenschaft, niemals originelle oder gar abweichende Thesen. Ein Beispiel ist der Name Theben, den eigenartigerweise sowohl eine griechische wie eine ägyptische Stadt trugen; im Ödipus-Mythos findet sich noch dazu die Sphinx als Leihgabe aus dem Land des Nils. Für andere Autoren ist das ein Grund, wegen Ödipus nach Ägypten zu schauen und darin die Geschichte des Echnaton zu erkennen oder die griechische Stadt als eine Kolonie der ägyptischen anzusehen, aber solche krummen Gedanken kommen Fox nicht in den Sinn: „,Theben‘ ist ein griechischer Ortsname, er basiert allerdings wahrscheinlich auf einem Wort, das in Ägypten verwendet wurde“. Mehr wird nicht zugelassen.

Eine Quelle sind – natürlich, möchte man sagen – „Ilias“ und „Odyssee“, und Fox findet als enthusiastischer Bewunderer Homers, dass sich seine Anstrengungen bereits lohnten, wenn er auch nur einen einzigen Vers erklären könnte. All sein wissenschaftlicher Eifer richtet sich aber nun nicht etwa auf so heiß umstrittene Orte wie die Säulen des Herakles oder Skylla und Charybdis, sondern auf die folgenden Verse aus der „Ilias“, die in der Übersetzung von Johann Heinrich Voß lauten:

„Sie dort zogen einher, wie wenn Glut durchs ganze Gefild hin
Loderte; dumpf aufhallte der Grund, wie dem Gotte der Donner
Zeus, wann des Zürnenden Strahl weitschmetternd das Land des Typhoeus
Arima schlägt, wo sie sagen, Typhoeus ruhe gelagert;
Also dort ertönte der Grund von der kommenden Völker
Mächtigem Gang; denn in Eile durchzog das Gefilde der Heerzug.“

Es wäre natürlich unfair, von diesem eminenten Gelehrten zu sagen, all sein Ehrgeiz ziele darauf, mit seinem über vierhundert Seiten starken Buch diese wenigen Zeilen zu erläutern und herauszufinden, was „Arima“ bedeutet, um welche Geräusche es sich handelt und welche Rolle Typhoeus spielt. Denn natürlich wird er für all das, was er vor dem Leser ausbreitet, den Rang einer Kultur- und Wirtschaftsgeschichte und überhaupt einen gewissen Eigenwert in Anspruch nehmen. Und wenn er die Taten der frühesten griechischen Kolonisatoren aus ihren höchst undeutlichen und verstreuten Spuren zu rekonstruieren versucht, ist das Ergebnis auch wirklich dies: eine Wirtschaftsgeschichte oder die Geschichte der Ausbreitung der griechischen Kultur.

Als ein Brennpunkt erweist sich dabei die Westküste Italiens, und so, mehr als dreihundert Seiten später, kommt Fox dazu, uns über das fragliche, von Zeus hervorgerufene Geräusch mitzuteilen, dass es wohl aus der Gegend um Neapel stammen müsse: „es hallte auf der Insel wider, die die Etrusker Arim(a) nannten, ihre Affeninsel, die heute den Namen Ischia trägt. Als Homer nach einem Vergleichsbild suchte, um den Klang seines griechischen Heeres für uns sinnfällig zu machen, griff er weit in den äußersten Westen der von Griechen besiedelten Welt aus.“

In seiner ganzen Anlage erinnert Fox’ Werk damit an das legendäre Hauptwerk des großen englischen Ethnologen James George Frazer, das erstmals 1890 erschienene „The Golden Bough“ (Der Goldene Zweig). Immer wieder aufgelegt, avancierte es zu den Ikonen des europäischen Bildungsbürgers in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Trotz seiner längst widerlegten Grundthese wird das Werk auch von seinen Kritikern bewundert – einfach deshalb, weil es so kunstvoll komponiert ist und unendlich viele Geschichten in einer mitreißenden Weise zu erzählen weiß. Zu Beginn seines Buches teilt Frazer dem Leser die Geschichte vom Goldenen Zweig mit, und dann folgen viele, viele hundert Seiten, die einzig und allein darauf ausgerichtet sind, diese Geschichte zu erklären. Der Bogen, den Frazer schlägt, ist gewaltig, aber die Spannung trägt den Leser, was wesentlich mit dem vorgetragenen Material zu tun hat, der Geschichte der Religion und besonders des Menschenopfers – viele Geschichten gehen dem Leser buchstäblich durch Mark und Bein.

Fox’ Geschichten tun dies aber nicht. Seine stupende Gelehrsamkeit bleibt Gelehrsamkeit; er argumentiert und erzählt in klaren und ausgewogenen Sätzen, welche die Übersetzerin in ein ausnehmend schönes Deutsch übertragen hat, aber die Erzählungen, Namenserklärungen und Überlegungen bleiben notwendig blass, und immer wieder möchte man auch ihre Richtigkeit anzweifeln; nicht, weil man es besser wüsste, sondern weil die Beweisketten so offensichtlich brüchig sind.

Aber noch anderes irritiert. Wird das ganze gewaltige Material aus Euböa aufgetischt, um einen Vers aus der „Ilias“ zu erklären, so muss der verblüffte Leser schließlich zur Kenntnis nehmen, dass „die mythologischen Entdeckungen der Euböer“, so Fox allen Ernstes, für Homer „überhaupt keine Rolle“ spielen: „Homers Gesänge schweigen sich aus bezüglich der Orte und Menschen, unten denen sich die Euböer, seine Zeitgenossen, bewegten.“ Wozu also der ganze Aufwand?

Über vierhundert Seiten lang wird Homer fast als historische Figur, ja sogar wie ein moderner Autor behandelt, der ganz bewusst mal hier, mal dort Anregungen aufgreift und Geschichten übernimmt. Aber dann gibt Fox endlich doch zu, dass auch er selbst sich nicht ganz sicher ist, ob Homer denn nun wirklich gelebt habe, ob also für „Ilias“ und „Odyssee“ ein einziger Verfasser verantwortlich zeichnet oder ob der Name Homers vielleicht für nicht mehr als den imaginären Vorfahren der „Homeridai“ steht, der Sänger also, die die Epen vortrugen. Da hat sich die Begeisterung des Lesers, der sich anfangs von dem ungeheuren Wissen des Autors und seinem Enthusiasmus gefangennehmen ließ, längst in Langeweile aufgelöst: Dieses ganze riesenhafte Unternehmen bringt kaum Erkenntnisgewinn. Allenfalls der Rolle von Euböa vermögen wir jetzt vielleicht gerecht zu werden.

Titelbild

Robin Lane Fox: Reisende Helden. Die Anfänge der griechischen Kultur im Homerischen Zeitalter.
Übersetzt aus dem Englischen von Susanne Held.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2011.
551 Seiten, 29,95 EUR.
ISBN-13: 9783608946963

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