Was ist Drama? Was Lyrik? Was Epik?

András Horn erklärt Studierenden die literarischen Gattungen

Von Stefan NeuhausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Neuhaus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Selbst in Zeiten des Booms von Nachschlage- und Standardwerken hat ein Handbuch über die literarischen Gattungen bisher gefehlt. Man konnte zu diversen Literaturlexika oder zur Spezialliteratur greifen, fundiertes Grundlagenwissen in einem Band suchte man vergebens. Hat András Horn es geschafft, diese Lücke zu füllen? Die Antwort lautet Ja und Nein.

Horns Büchlein besticht durch eine verständliche, nicht zu technische, aber immer anspruchsvolle Wissenschaftsprosa. Nach der differenzierten Erläuterung von "Problemen der Gattungstheorie" folgen drei Kapitel mit den anspruchsvollen Titeln "Theorie der Lyrik", "Theorie der Epik" und "Theorie des Dramas". In diesen führt Horn kundig durch das Dickicht der verschiedenen Erklärungsmodelle von Aristoteles bis heute. Besonders zu begrüßen ist, dass Horn klar erkennbar einen eigenen, ausgewogenen Standpunkt vertritt, auch wenn er im Vorwort ausdrücklich "keinen Anspruch auf inhaltliche Originalität" erhebt. Auswahl und Bewertung der Theoreme, sowie die Auswahl der zahlreichen Beispiele aus bekannten und unbekannteren Texten der Weltliteratur sind aber durchaus originell. Wer keiner extremen theoretischen Position huldigt, etwa dekonstruktivistischen Thesen größere Plausibilität als hermeneutischen Erklärungsmodellen zubilligt, der wird des öfteren unwillkürlich mit dem Kopf nicken, während ihm viel Bekanntes und Unbekanntes begegnet. Die 'mittlere' Position Horns illustriert beispielsweise folgende klare Aussage zur Diskussion über die Frage, was Erzähler und Autor miteinander zu tun haben: "Es gibt eben nicht nur naive Undifferenziertheit, die bedenkenlos vom fiktiven Erzähler auf den realen Autor schliesst: es gibt auch allzu raffinierten Unterscheidungsfimmel."

Allen, die aus dekonstruktivistischer, rezeptionsästhetischer, empirischer oder sonstiger Sicht einer Beliebigkeit der Literatur-Interpretation huldigen, hält Horn mit Eco entgegen, dass literarische Texte Strategien entfalten, Lektüreinstruktionen geben und das Bild eines "idealen Lesers" entwerfen. Somit ist es durchaus möglich, das "semantische Potential" eines Textes zu beschreiben. Mit anderen Worten: Es gibt zwar Möglichkeiten verschiedener Aktualisierungen, doch sind diese begrenzt: Man kann einen literarischen Text auch falsch lesen. Zu dem über engere Gattungsfragen hinausgehenden Mehrwert gehören des weiteren die interessanten Überlegungen zur Bewertung von Literatur oder zur gesellschaftlichen Bedeutung fiktionaler Texte. Der Lektüre-Begegnung mit sich selbst und mit anderen, auch mit Menschen anderer Kulturkreise, schreibt Horn eine positive Wirkung auf Toleranz und Solidarität zu.

Die Probleme des Bandes bestehen in dem, was er trotz seines Titels nicht leistet. Zunächst fehlt der Handbuch-Charakter: Die innere Gliederung stimmt, sie wird aber nicht durch eine äußere Gliederung entsprechend hervorgehoben. Es handelt sich um eine am besten von vorn bis hinten zu lesende Abhandlung mit Inhaltsverzeichnis, Namen- und Sachregister, aber nicht um ein Werk, das zum Blättern verführt. Der zweite Punkt ist, dass Horn unter Gattungen offenbar nur die Großgattungen Epik, Lyrik und Dramatik versteht. Informationen zu Untergattungen, etwa zur zwischen den Großgattungen angesiedelten und deshalb besonders exponierten Ballade, sucht man vergebens. Es handelt sich also nicht um eine "Theorie der Gattungen", sondern um eine "Theorie der Großgattungen". Letzter inhaltlicher Kritikpunkt: Es fehlt ein Schluss, der die wichtigsten Ergebnisse noch einmal bündelt. Bei einem Handbuch würde man ihn nicht vermissen; bei einer solchen Abhandlung steht man aber unmittelbar vor dem Ende, respektive dem Literaturverzeichnis, und fühlt sich, mitten in der spannenden Lektüre, vom Autor alleingelassen.

In Zeiten schwindender Lektoratsstellen gehören Tipp- und sonstige Flüchtigkeitsfehler leider zum 'normalen' Erscheinungsbild von wissenschaftlichen Büchern. Das trifft auch in diesem Fall zu, doch kommt erschwerend hinzu, dass es größere Probleme mit dem Seitenumbruch gibt. Noch verschmerzen lässt sich, dass des öfteren die letzten Zeilen einer Seite am Anfang der nächsten wiederholt werden. Ärgerlich aber ist, dass die Seite 173 textidentisch mit der vorherigen ist. Da der Anschluss an die nächste Seite nicht hergestellt wird, fehlt offenbar die originale Seite 173 - eine schmerzhafte Lücke.

Trotz aller Mängel ist die "Theorie der literarischen Gattungen" insgesamt ein verdienstvolles Büchlein, das wohl aus Gründen des Aufbaus und Inhalts für das Grundstudium eher ungeeignet ist. Im Hauptstudium und im wissenschaftlichen Diskurs über Gattungsfragen kann es allerdings sehr nützlich sein.

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Andras Horn: Theorie der literarischen Gattungen. Ein Handbuch für Studierende der Literaturwissenschaft.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 1998.
207 Seiten, 19,40 EUR.
ISBN-10: 3826015444

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