Paradigmenwechsel in Reykjavík

Steinar Bragis Roman „Frauen“ beschwört auf alptraumhafte Weise das Island vor der Finanzkrise

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In Eva Einársdottirs Leben geht in letzter Zeit einiges schief. Die junge isländische Videokünstlerin, die sich vorgenommen hatte, in New York zu reüssieren, verliert nach dem plötzlichen Kindstod ihrer zweimonatigen Tochter nicht nur ihren Lebensgefährten Hrafn, sondern allmählich auch jeglichen festen Boden unter den Füßen. Da ist es gut, dass ihr just in diesen schweren Tagen ein Landsmann und Bankier anbietet, mietfrei in sein Reykjavíker Luxusappartement einzuziehen. Nur um die Katze und die Blumen soll sie sich in dem vornehmen Loft kümmern. Ansonsten glaubt sie, alle Zeit der Welt zu haben, den zu seinen bigotten Eltern geflohenen Hrafn für sich zurückzugewinnen.

Allein das Reykjavík, in das Eva kommt, ist nicht mehr die Stadt, die sie einst verließ, um die Welt der modernen Kunst zu erobern. Statt an der ersehnten heimatlichen Geborgenheit zu genesen, findet die junge Frau sich in einer bedrohlichen Szenerie wieder, in der sie immer mehr zur Spielfigur grotesker Gestalten zu werden scheint, den eigenen Willen verliert und in halluzinatorische Ereignisse verstrickt wird. Dunkle Wolken, aus denen Tag und Nacht Regen fällt, liegen über dem Land ihrer Kindheit und Unerklärlich-Bedrohliches rückt immer näher an sie heran.

Steinar Bragi lässt das Island der heraufdämmernden Finanzkrise zu einer wahren Gespensterkulisse werden. Nichts mehr ist hier hell und klar und durchschaubar. Und das Menetekel sich ankündigenden Unheils befindet sich in Form einer maskenhaften Wandvertiefung direkt in Evas neuer Wohnstatt. Legt die junge Frau ihr Gesicht in diese Einkerbung, wird sie in alptraumhafte Szenerien hineingezogen, pornografischen Inszenierungen ausgesetzt, in die alle Bewohner des Hauses verwickelt zu sein scheinen. Bald steht sie einsam einer Macht gegenüber, die von ihr verlangt, sich willenlos dem Unbekannten auszuliefern.

„Frauen“ beginnt wie ein Thriller und der Leser sucht unwillkürlich nach einer rationalen Erklärung für die Ereignisse, denen sich die Heldin ausgeliefert sieht. Will sie ihr Ex-Mann in den Wahnsinn treiben? Spielt der Banker Emil Thórsson ein falsches Spiel mit ihr? Oder ist es tatsächlich der frauenverachtende Performancekünstler Joseph Novak, der sie in eines seiner perfiden Happenings gelockt hat, in denen er vor Tod und Zerstörung nicht zurückschreckt? Erst allmählich stellt sich heraus, dass wir es wohl vor allem mit Projektionen von Evas Innenwelt zu tun haben, ihren bildgewordenen Ängsten und Bedrückungen begegnen, quälenden Schuldgefühlen hinsichtlich des Todes ihrer Tochter und nicht verarbeiteten, traumatischen Erlebnissen in ihrer Familie.

Kristof Magnusson hat vor gut eineinhalb Jahren mit „Das war ich nicht“ (Kunstmann 2010) einen eigenen Roman zur Wirtschafts- und Finanzkrise im ersten Jahrzehnt des dritten Jahrtausends vorgelegt. Der war recht launig und arbeitete das Thema im Stile einer Screwball-Comedy ab. Nun hat er sich mit seiner Übersetzung von Steinar Bragis in Island von Publikum und Kritik gefeiertem Roman auf die Nachtseite der Ereignisse begeben. „Frauen“ ist – weit weg von aller Situationskomik, die man in dem Bankencrash durchaus auch entdecken konnte – die Beschwörung einer der Rationalität entgleitenden Welt, in der der Einzelne zur Spielfigur wird, ohne das Spiel selbst oder die es Spielenden auch nur ansatzweise zu durchschauen.

Das Reykjavík, in welches Eva Einársdottir zurückkehrt, um ihrem Leben wieder eine Wende zum Guten zu geben, empfängt sie kalt, lieblos und voller Heimtücke. Als wäre sie in den falschen Film geraten, sieht sich die, die selbst Videokünstlerin ist, einer Wirklichkeit gegenüber, die sie mit Grauen und Ekel erfüllt. Dass sich in einer Atmosphäre von Unmenschlichkeit und gesichtsloser Brutalität Evas private Probleme lösen ließen, erweist sich nur allzu bald als falsche Hoffnung. So wird sie letzten Endes Opfer einer heraufdämmernden Realität, in die sie durch die Maske in der Wand erste Blicke werfen kann.

Titelbild

Steinar Bragi: Frauen. Roman.
Übersetzt aus dem Isländischen von Kristof Magnusson.
Verlag Antje Kunstmann, München 2011.
255 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783888977244

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