Immerwährende Nähe

Nino Haratischwilis zweiter Roman „Mein sanfter Zwilling“ zeichnet die Stationen einer destruktiven Liebe nach

Von Monika StranakovaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Monika Stranakova

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sie heißen Stella und Ivo, kennen gelernt haben sie sich im Kindesalter, weil seine Mutter und ihr Vater eine Affäre hatten. Während sie im Garten spielten, liebten sich die Erwachsenen im Zimmer am Ende des Flurs. Die Kinder ahnten, was da vor sich ging, unbewusst missbilligten sie das Verhalten ihrer Eltern sogar, doch um notwendige Konsequenzen zu ziehen, waren sie noch zu jung. Eines Tages passiert das Vorhersehbare: Ivos Vater kommt zwei Tage früher aus der Schweiz nach Hause. Seine Mutter ist am nächsten Tag tot, vom Vater erschossen. Stellas Mutter lässt sich scheiden und zieht in die USA. Ivo wird von Stellas Vater adoptiert. Die Kinder leben fortan mit dem trinkenden Vater im Hamburger Haus der Mutter und in einem verschlafenen Küstendorf bei der Großtante Tulja. So lautet die im Text lange aufgesparte Vorgeschichte „eine[r] vergangene[n], niemals irgendein Glück verheißende[n] Beziehung“.

Ein Jahr ist es her, dass sich die im georgischen Tiflis geborene, mehrfach preisgekrönte Theaterautorin Nino Haratischwili, 28, als Prosaautorin zu Wort meldete. Ihr Romandebüt „Juja“, die Geschichte einer jugendlichen schreibenden Selbstmörderin, deren Text „Eiszeit“ eine Reihe unglücklicher Frauen ins Suizid trieb, schaffte es auf Anhieb auf die Longlist des Deutschen Buchpreises, die Shortlist des ZDF-aspekte-Literaturpreises und die Hotlist der unabhängigen Verlage. Trotz mancher Schwächen in der Konstruktion und des „Zuviel an Pathos“, die die Literaturkritik auf die Bühnenautorschaft der Verfasserin zurückführte, blieb nach der Lektüre zumeist die Erkenntnis, dass man es mit einer neuen, eigenwilligen Stimme der deutschen Gegenwartsliteratur zu tun habe, deren erster Prosatext einen unwiderstehlichen Sog entfalte.

Ähnlich ergeht es dem Leser auch bei der Lektüre des zweiten Romans. Wie schon in ihren Theaterstücken stellt Haratischwili auch in „Mein sanfter Zwilling“ lebensstarre Menschen dar, die, in ihrem Schmerz gefangen, nicht mehr in der Lage sind, das Leben, das sie leben, als ihr eigenes anzunehmen. Zwar scheint der Mittdreißiger Ivo seins im Griff zu haben – er ist ein erfolgreicher Journalist, veröffentlicht (Kriegs-)Berichte in führenden Zeitungen und Magazinen, BBC und CNN senden regelmäßig seine Reportagen –, und doch legt er von Zeit zu Zeit ein selbstzerstörerisches Verhalten an den Tag. Auch von Stella, die geheiratet hat und mit ihrem Mann, einem ebenfalls gefragten Dokumentarfilmer, und ihrem kleinen Sohn lebt, ist der Absturz nur einen Besuch entfernt: Nach sieben Jahren kehrt Ivo aus den USA zurück und will sich erinnern.

Erzählt wird diesmal aus der Perspektive lediglich einer Figur, Stellas, denn darüber, was vor Jahren passiert ist, wird in der Familie nicht mehr gesprochen. Alle wollen scheinbar die labile junge Frau schützen, der sie die Bewältigung dieser Erfahrungen – einschließlich der kurzen Liebesbeziehung mit Ivo und angesichts der früheren Drogenexzesse und ihres Selbstmordversuchs – nicht zutrauen. Sich in der Ahnungslosigkeit einzurichten, ist allemal bequemer. Dem Leser werden in ihrer Charakterzeichnung überzeugende Figuren dargeboten: Lauter vom Leben benachteiligte Kinder, die sich vor Jahren mit unterschiedlichen Begründungen ihrem Schicksal ergeben haben.

Strukturell besteht der Roman aus zwei Teilen („Dort“ und „Hier“). In den 17 Kapiteln des ersten Teils sind kleine Abschnitte mit Beobachtungen, Erinnerungen und Gesprächen der Figuren nebeneinander montiert, die durch Unterbrechungen, Aussparungen und Wiederholungen ein widersprüchliches Bild der vergangenen Zeit ergeben. Man schaut zwei von Schuldgefühlen geplagten und sich in Folge mit grausamer Lust gegenseitig zerfleischenden Menschen zu, denen nicht geholfen werden kann, weil sie die Nähe des jeweils Anderen brauchen, sie aber nicht ertragen können. Die leidenschaftlich-brutale Beziehung, das Begehren, das Gewalt produziert, ist ein bekanntes Motiv der Autorin. Und nun ja: Auch hier gehören Rausch, Pathos und die Überhöhung (manchmal sogar nebensächlicher Ereignisse) zum Grundtenor des Textes. Erst im zweiten Teil, in der die Handlung in die Gegenwart wechselt, wird zusehends auf die gesteigerte Ausdrucksweise verzichtet.

Was soll noch kommen, fragt sich der Leser, als Stella ihre Ehe und das gemeinsame Leben mit ihrem Sohn aufs Spiel setzt und Ivo zu einer Recherchereise nach Georgien folgt. Kann man diesem selbstquälerischen (Geschlechter-)Kampf ein befriedigendes Ende setzen? Was soll Stella in Georgien aus eigener Kraft sehen und verstehen? „Es geht immer um einen selbst. Ich nehme fremde Geschichten, um meine zu finden, das ist alles, was ich sagen kann“, hieß es schon in „Juja“. Und tatsächlich glaubt Ivo, durch die Aufdeckung eines blinden Flecks in der Lebensgeschichte des Komponisten und Musikers Lado aus den nicht weit zurückliegenden Bürgerkriegszeiten, die ihm seinen inneren Frieden zurückgeben soll, auch in ihren beiden Leben etwas gutmachen zu können. Dass unter diesen Voraussetzungen die während der georgischen Monate erlebte zumeist friedliche Nähe Ivos und der ahnungslosen Stella nicht mehr lange währen kann, liegt auf der Hand.

Titelbild

Nino Haratischwili: Mein sanfter Zwilling. Roman.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt a. M. 2011.
379 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-13: 9783627001759

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