Nachspiel

Frank Göhre taucht in die glorreichen Zeiten sexueller Befreiung ab. Sein Roman „Der Auserwählte“ ist aber mehr als eine Abrechnung mit den guten, schlechten Zeiten

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es gab eine Zeit, lang, lang ist es her, als das Reich der Freiheit vor allem als Reich der sexuellen Befreiung von den Fesseln monogamer Einheitsbeziehungen galt. Zugleich sollten alle Fesseln der bürgerlichen Gesellschaft – Väter, Mütter und das Privateigentum gleich mit – abgeworfen werden, zum höheren Wohl der Allgemeinheit, die sich unter Führung eines Weisen und Gurus auf den Weg ins Licht begab.

Dass es dabei eine Reihe von Kollateralschäden gab, versteht sich von selbst. Das ist mittlerweile einigermaßen Gemeingut, auch wenn das Ganze auch nicht schlecht unter dem Label „Die bürgerliche Gesellschaft schlägt zurück“ verkauft werden kann. Hämisches Gelächter inbegriffen.

Und auch wenn Otto Mühl – um nur einen der bekannteren Akteure der damaligen Zeit zu nennen – heutzutage für ihr Lebenswerk halbwegs geehrt wird, der enge Zusammenhang zwischen Befreiungsversuch und Machtmissbrauch bleibt eines der großen Schreckmomente des gesellschaftlichen Aufbruchs. Im Extrem der absoluten Lösung von den gesellschaftlichen Konventionen ist die Gewalt des Stärkeren oder auch nur Anerkannteren als Möglichkeit inbegriffen.

Aber ohne den allgemeinen gesellschaftlichen Aufbruch, ohne auch die sexuelle Befreiung sähe die Gegenwart heute ganz anders aus. Und dass sie besser wäre, kann ausgeschlossen werden. Denn selbst wenn die Beliebigkeit sexueller Beziehungen, die sich unter dem Dickicht der permanenten gesellschaftlichen Rede über die Liebe verbirgt, nicht jedermanns Sache ist – die bigotte bürgerliche Gesellschaft, die kennerhaft lacht und zugleich errötet, wenn von einigermaßen ungewöhnlichen sexuellen Praktiken die Rede ist, will wohl niemand zurück.

Auf ein solches Muster greift auch Frank Göhre zurück. In seinem Roman „Der Auserwählte“ wird der Sohn einer erfolgreichen Unternehmerin, Bettina, entführt und schließlich nach einer chaotischen Geldübergabe ausgelöst. So gut, so knapp.

Das Ganze erhält dadurch etwas mehr Gehalt, dass die Dame diesen Sohn aus einer Kommune auf Gomera mitgebracht hat, in der sie einige Zeit lebte, bis zum Tod ihrer Tochter. Zurückgekehrt, übernimmt sie den Laden ihres Vaters und macht ihn erst richtig erfolgreich (Kosmetika). Um den Gepflogenheiten Genüge zu tun, heiratet sie einen Jugendfreund, der ein wenig langweilig ist und der den Ersatzvater stellt. Ihre sonstigen, etwas härteren Gelüste lässt sie von einem Lover bedienen, von dem der Ehemann nichts weiß. Ein weiterer Jugendfreund arbeitet als Sicherheitsexperte in der Firma. Das heißt, alles alte Freunde mit vielen alten Rechnungen, die zu begleichen sind.

Der Sohn, Eloi, freundet sich, wie es der Zufall will, mit einem jungen Afrikaner, David, an, der eben in jener Kommune gelandet ist, in der Bettina vor Jahren lebte. Nach einem Zwischenfall, der weitere Verwicklungen nach sich ziehen wird, kommt er nach Hamburg und lässt sich gelegentlich von Eloi retten. Der Beginn einer schönen Freundschaft, naja.

Die Kommunezeit auf Gomera ist, wie kann es anders sein, voller Erinnerungen und Erfahrungen, die dringend der Aufarbeitung bedürfen. Der Guru nimmt sich nicht nur jede der Frauen, die er will, er macht sich auch an Myriam heran, die zu diesem Zeitpunkt gerade mal 12 Jahre alt ist. Mit Folgen.

Ist das Geschwätz des ehemaligen Mittelschullehrers schon unerträglich und zugleich ungemein offenherzig, ist die Praxis schon deutlich jenseits der Appetitgrenze. So fragt man sich heute, wieso Leute so etwas ernst genommen haben (und es gelegentlich immer noch tun). Freilich, das Besondere an Göhres Roman ist nicht seine „Abrechnung“ mit den falschen Propheten der sexuellen Befreiung und ihren Selbstbereicherungsmaßnahmen. Der eigentlich Clou ist die Erzählweise.

Denn Göhre stellt seine Geschichte aus kleinen, teilweise gegen die Chronologie und die Abfolgelogik verstoßenden Teilerzählungen zusammen, die erst in der Zusammenschau einen Sinn ergeben. Das ist erkennbar als Parallelführung der fortschreitenden Erkenntnis des Lesers mit der steigenden Ordnung der Erzählung angelegt. Je länger die Geschichte dauert, desto mehr erfährt der Leser, bis ihm schließlich ein Schlusstableau präsentiert wird, das so etwas wie den wahren Kern der Kriminalhandlung enthält.

Lässt man beiseite, dass Göhre gelegentlich seinem Erklärungsdrang etwas weniger Raum bieten sollte, ist „Der Auserwählte“ ein außergewöhnliches Exemplar deutscher Krimierzählkunst. Kommt dann noch hinzu, dass man sich jederzeit gut unterhalten fühlt, bleibt kaum etwas zu meckern. Mit anderen Worten, erzählen kann man jede Geschichte, man muss es nur können. Und Göhre kann.

Titelbild

Frank Göhre: Der Auserwählte.
Pendragon Verlag, Bielefeld 2010.
258 Seiten, 9,95 EUR.
ISBN-13: 9783865322029

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