Szientistische Verengung

Susanne Lettow legt die Schwächen der Bioethik nicht nur unter Gender-Aspekten bloß

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bio ist in. Allerorten. Wirklich? Auch in der Ethik? Ja, auch dort und zwar als Bioethik. Doch Susanne Lettow legt in ihrem Buch „Biophilosophien“ die nicht eben wenigen Schwächen eben dieser Bioethik bloß. Sie sei, so lautet einer ihrer zentralen Kritikpunkte, „durch eine Reihe von theoretischen Operationen bestimmt, die die Analyse und Diskussion von Geschlechterverhältnissen strukturell behindern.“

So zeige sie sich etwa nicht in der Lage, „Prozesse der Einschreibung von Geschlecht in Wissen und Technologien“ zu reflektieren. Mit letzterem schließt sich die Autorin dem schon früher konstatierten Befund an, „dass Bioethik zwar auf Wissenschaft und Technologie ausgerichtet ist, deren Entwicklungslogiken und -dynamiken aber nicht selbst zum Thema macht“. Dabei, so Lettow, seien es doch gerade soziale und somit auch „geschlechterpolitisch relevante Faktoren, die bestimmte technische Optionen begünstigen und ihnen damit konkrete Gestalt verleihen“. Diese Ignoranz, ja Blindheit, die bioethische Ansätze gegenüber „epistemischen und gesellschaftlichen Konstitutionsbedingungen von Wissenschaft und Technologien“ offenbaren, führten zusammen mit deren „Nicht-Thematisierung der theoretischen Praxis“ zu einer „szientistischen Verengung von Ethik“. Der Bioethik mangele es an einer „praxeologischen Wissenschafts- und Techniktheorie“, die wissenschaftliche bio-technologische Entwicklungen nicht als Ursache auffasst, sondern als „Dimension gesellschaftlich-kultureller Prozesse“ erkennt. Biotechnologische und andere wissenschaftliche Entwicklungen als nichthintergehbare Gegebenheiten hinzunehmen und sich alleine mit deren Auswirkungen zu befassen, lasse somit außer acht, „dass sie aus heterogenen und widersprüchlichen Prozessen hervorgehen und wissenschaftliche Felder immer auch ein Ensemble konkurrierender Positionen und Perspektiven sind“. Zudem sei allen bioethischen „Ausrichtungen“ der Blick „auf die Grenzen ethischer Problematisierung, die sich aus dem Paradigma der angewandten Ethik ergeben, verstellt“, lautet Lettows vernichtendes Urteil.

Ihr Verdikt zielt nun keineswegs in einen Elfenbeinturm, in dem sich kluge und weniger kluge Gelehrte fern ab gesellschaftlicher und sonstiger Wirklichkeiten nur um ihren eigenen Kopf und Kragen denken. Denn Bioethik ist „prinzipiell politische Ethik“, der es weniger um Fragen „individueller Moral“ geht, „sondern ganz zentral um die gesellschaftliche und politische Regulation von neu entstehenden Handlungsmöglichkeiten“. Dabei ist sie – wie könnte es anders sein? – stets „in Machtverhältnisse und daher auch in Geschlechterverhältnisse verstrickt“.

Letztere bilden nicht etwa einen „spezifischen gesellschaftlichen ‚Bereich‘“, der sich fein säuberlich von anderen trennen und separat untersuchen ließe, sondern werden von der Autorin zurecht als „konstitutive Dimension des Sozialen“ überhaupt aufgefasst und in den Blick genommen. Das heißt, sie untersucht, wie „biopolitische Artikulationen“ bioethische und andere „Strategien philosophischer Kompetenz“ einsetzen, um Geschlechterverhältnisse zu artikulieren – oder aber, fast noch wichtiger, zu „desartikulieren“, also aus dem Diskurs auszublenden. Als „Biophilosophien“ bezeichnet die Autorin diese Strategien, weil sie sich als Elemente einer Biopolitik erweisen, die nicht nur die staatliche Regulierung von Biowissenschaften und -technologien, sondern auch die Entstehung neuer Formen der Subjektivierung und Normalisierung umfasst“. Ihr Ziel ist es nun, nicht nur die „strukturellen Defizite“ biophilosophischer „Artikulationen“ herauszuarbeiten, sondern ebenso Möglichkeiten ihrer Transformation und Erweiterung biowissenschaftlicher und -technologischer Debatten.

Lettow nimmt immer wieder die „Perspektive feministischer Philosophie“ ein, um zu klären, ob und wie die biophilosophische Ansätze die Thematisierung von Geschlechterverhältnissen ermöglichen oder verhindern. Es geht ihr also nicht etwa nur darum, deren „manifeste und implizite Männlichkeits- und Weiblichkeitskonstruktionen in den Texten zu rekonstruieren“. Mindestens ebenso wichtig ist die Frage nach „strukturellen Ausblendungen und Entnennungen“. Es kann nämlich nicht nur „problematisch sein, wenn biophilosophische Diskurse und Geschlecht thematisieren und theoretisieren, sondern auch, wenn sie ebendies unterlassen. Denn es ist nicht nur möglich, „Praxen, Prozesse und Konzepte“ so zu vergeschlechtlichen, „dass hierarchische Geschlechterverhältnisse reproduziert werden“, sondern auch, dass sie „systematisch übergangen und einem philosophischen Schweigen überantwortet“ werden. Beides ist gleichermaßen fatal. Ebenso moniert Lettow die nahezu allgegenwärtigen Dualismen, deren Analyse und Kritik sie eine „strategische Bedeutung“ beimisst.

Lettows Studie untergliedert sich in vier Hauptkapitel, von denen sich nur das erste dem bioethischen Diskurs widmet. Im zweiten und dritten Abschnitt wirft die Autorin einen kritischen Blick auf die „Artikulation molekularbiologischer und informationstheoretischer Theoreme in poststrukturalistischen Philosophien“ respektive auf die „Artikulation von Neurowissenschaften in der Philosophie des Geistes“. Das abschließende Kapitel wendet sich der philosophischen Anthropologie zu.

Zu den Geistesgrößen, denen die Autorin unterwegs begegnet, zählen etwa Jacques Derrida, Gilles Deleuze, Félix Guattari und Jean François Lyotard. „Auch wenn Molekularbiologie, Informationstheorie und Kybernetik in den Texten“ der vier Autoren „durchaus präsent“ seien, befassten sie sich kaum mit diesen „Technikwissenschaften selbst, ihren Entwicklungsdynamiken und gesellschaftlichen Bedeutungen“, moniert Lettow. Zu Recht nicht minder kritisch fällt ihr Urteil über Thesen der Hirnforschung aus, wie sie etwa von Wolf Singer und Gerhard Roth vertreten werden. Im Abschnitt zur philosophischen Anthropologie befasst sich Lettow schließlich mit so unterschiedlichen AutorInnen wie Jürgen Habermas, Ludwig Siep und Elisabeth List sowie mit den steilen Thesen des in der philosophischen Zunft nicht eben gut beleumundeten Peter Sloterdijk.

Von besonderer Brisanz aber ist das erste, der Bioethik gewidmete Kapitel, in dem sie „die Frage der Geschlechterverhältnisse“ auf die „Frage nach der Artikulation von Fortpflanzungsverhältnissen“ zuspitzt. Dabei fasst sie unter diesen Begriff sinnvoller Weise „die Gesamtheit von persönlichen und sozialen, das heißt auch institutionell geronnenen Verhältnissen, die Menschen eingehen, um Kinder, also die nächste Generation hervorzubringen“. Dies ist im Gegenstand des Kapitels selbst begründet, denn von Beginn an war die „Regulation von Fortpflanzung“ eine wichtige Absicht der Bioethik. „Mit der zunehmenden Technisierung der Fortpflanzungspraxen“ seit der in den 1960er- und 1970er-Jahren geführten Abtreibungsdebatte „hat sich das bioethische von Verfahren der Verhinderung auf Verfahren der Herstellung beziehungsweise von der ‚Quantität‘ auf die ‚Qualität‘ von Schwangerschaften, Geburt und Nachwuchs verschoben“, wie die Autorin pointiert formuliert.

Auch setzt sich Lettow in diesem Zusammenhang kritisch mit diversen Diskursbeiträgen auseinander. So etwa mit Anton Leists Darlegungen über den „moralischen Status des Embryos“ und Johann Achs Dethematisierung feministischer Positionen. Letzterer vertrat 1993 die Auffassung, in der Abtreibungsdebatte sei eine „Diskussion feministischer Argumente“ überflüssig, weil sie sich „kaum direkt mit der Frage nach dem moralischen Status von Embryo-Föten auseinandergesetzt haben“. An anderer Stelle wendet sie sich gegen Tristam H. Engelhardt, der allen Ernstes glaubt, „die ‚angemessene Quantität und Qualität‘ eines Menschenlebens“ sei „‚in einem Algorithmus‘ ausdrückbar“.

Solchen und ähnlichen Positionen hält sie ganz grundsätzlich entgegen, dass es notwendig sei, „mit der Orientierung der Bioethik an den biowissenschaftlichen Objekten zu brechen“. Dabei gelte es nicht nur, „Frauenkörper und Frauenrechte“ zu thematisieren. Es sei darüber hinaus notwendig, die Veränderungen, „denen Fortpflanzungsverhältnisse im Kontext von Biowissenschaften, -technologien und -ökonomien unterliegen, sowie ihre Bedeutung für die Geschlechterverhältnisse, in denen Frauen und Männer vielfältig positioniert sind“, zu untersuchen.

Allen vier einander „überlappenden“ philosophischen „Strategien“ – der Bioethik, dem Poststrukturalismus, der Philosophie des Geistes und der philosophischen Anthropologie – weist Lettow drei ihre „Artikulationsweisen“ von Geschlecht und Geschlechterverhältnisse betreffende „strukturelle Defizite“ nach. Es handelt sich erstens um ein „[s]ubjekt- und gesellschaftstheoretisches Defizit“, zweitens um die Absenz einer „praxeologischen Perspektive“ und drittens um ein „philosophietheoretisches Defizit“. Daher, so fordert Lettow, wäre nicht nur Technikphilosophie als Praktische Philosophie zu betreiben, sondern auch Wissenschaftsphilosophie als Sozialphilosophie. Kurz, „dringend geboten“ sei nicht weniger als eine „Neubestimmung des Verhältnisses von Philosophie und Gesellschaft“.

Titelbild

Susanne Lettow: Biophilosophien. Wissenschaft, Technologie und Geschlecht im philosophischen Diskurs der Gegenwart.
Campus Verlag, Frankfurt a. M. 2011.
326 Seiten, 34,90 EUR.
ISBN-13: 9783593392950

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