Dieses Leben ist gelaufen

Christoph Hein präsentiert mit seinem Roman „Weiskerns Nachlass“ den Zustandsbericht einer beruflichen und privaten Sackgasse

Von Clarissa HöschelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Clarissa Höschel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Da ist sie wieder, die Erinnerung an miefige und überfüllte Seminarräume, an veraltete und vollgeschmierte Tische, heruntergerissene Gardinen, gelangweilte Dozenten, zu Tode langweilende Referate, kecke Kommilitoninnen, deren Hauptfach nicht im Vorlesungsverzeichnis steht – kurz: wer in den letzten zwei Jahrzehnten an einer deutschen Universität ein geisteswissenschaftliches Fach studiert hat, fühlt sich gleich wie zuhause; wer nicht, der kann dies im Schnelldurchlauf nachholen und den Protagonisten begleiten durch seinen vermeintlich spannenden Alltag, der sich sukzessive als triste Sackgasse entpuppt, denn nichts anderes ist das wenig befriedigende Leben des fast 60-jährigen Halbtagsdozenten Stolzenburg, glaubwürdiger Vertreter des akademischen Prekariats, dessen Leben dahinplätschert wie der lustlose Output einer Regenrinne im Spätherbst.

Beruflich ohne Perspektive (halben Stellen, Etat-Kürzungen und Bologna-Reform sei Dank), sonnt sich der Wissenschaftler der brotlosen Künste noch in den Aufmerksamkeiten der letzten Lolitas vor der Pensionierung. Zwar zeichnet sich zwischenzeitlich auch eine letzte Chance auf eine ernsthaftere Beziehung ab, doch da trifft Er (eingeschränkt beziehungsfähig) auf Sie (deutlich beziehungsgeschädigt) mit ihren diversen „Keine-Ahnung-ob-das-Sinn-macht“-Statements, und der so hoffnungsvoll eingefädelte Kuppelversuch verläuft nach kurzer Zeit im vielzitierten Sande. Überhaupt ist das mit den Frauen so eine Sache – Bett ja, Nähe nein – Stolzenburg ist am liebsten allein, außer, nunja, außer, wenn die noch vorhandene Männlichkeit ruft. Die ‚Strafe‘ für diesen nicht sehr sympathischen Umgang mit Frauen begegnet ihm in Gestalt einer garstigen Truppe noch nicht strafmündiger Mädchen, die dem ‚Alten‘ ordentlich eins über den Schädel zieht.

Auch Stolzenburgs letzte Hoffnung, einer wissenschaftlich zumindest beachteten Publikation das Leben zu schenken, zerschlägt sich gleich mehrmals und an verschiedenen Stellen, und das, obwohl hier sogar noch ein kriminalistischer Handlungsstrang eingeflochten wurde, der aber ähnlich farblos bleibt wie der Rest von Stolzenburgs Leben.

Ein paar lose Enden bietet das Buch zwar auch, doch im Grunde sind es keine losen Enden, denn obgleich man nicht weiß, was aus einigen Handlungssträngen wird, weiß man doch, dass es nichts wird – die Einzelheiten des Scheiterns sind da nur von marginaler Bedeutung.

Dieser Roman ist im Grunde keine Geschichte, sondern ein Zustandsbericht. Es ändert sich nichts, es geschieht nichts, es entwickelt sich nichts und niemand. Und das, was während der erzählten Zeit passiert, hat keine Konsequenzen und begründet keine Veränderungen – außer der, dass es immer enger wird und dass das Ende in nicht allzu weiter Ferne absehbar ist.

Anfang und Ende dieses Zustandsberichts der Stolzenburg’schen Welt bildet sein (Billig-)Flug nach Basel – doch von der Freiheit, die angeblich über den Wolken zu finden sein soll, ist weit und breit nichts zusehen. Stattdessen Beklemmung, Angst, Panik, Irrtum, Ungewissheit und, auf den letzten Seiten, die süffisante Zufriedenheit des Protagonisten, der sich, als Einäugiger im Reich der Blinden, mit umfassender Sehkraft ausgestattet glaubt und allein deshalb schon zur tragisch-komischen Figur wird, der man weder ihr Gesagtes noch ihr Gedachtes abnimmt. Eine solche Figur nimmt man zwar kurzzeitig wahr, aber nur, um sie im nächsten Moment schon wieder aus den Augen zu verlieren. Das Schemenhafte des Protagonisten verhindert dabei gerade noch, dass man ihm seine Existenz ernsthaft übel nimmt.

Titelbild

Christoph Hein: Weiskerns Nachlass. Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2011.
320 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783518422410

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