Silhouetten

Anläufe, sich von Heinrich von Kleist ein Bild zu machen

Von Walter HindererRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Hinderer

Ein Jugendbildnis zeigt ein rundes, etwas aufgedunsen wirkendes Gesicht, sinnliche Lippen, in die Stirn gekämmtes Haar – und vor allem: große Augen. Ähnliche Merkmale enthält eine Miniatur und eine bekannte Kreidezeichnung aus dem Jahre 1806, nur daß hier sein Äußeres mit größerer Sympathie wiedergegeben ist: die Brauen scheinen hier energischer und die Lippen feiner gezeichnet. Auch in einem erst 1938 aufgefundenen, Heinrich von Kleist zugeschriebenen Porträt (aus dem Jahre 1811) beherrschen die Augen, hier noch besonders betont durch kräftige Bögen der Brauen, das Gesicht. Der Blick ist wie auf der Kreidezeichnung und einem 1801 gemalten Miniaturbild, das er seiner Braut Wilhelmine von Zenge verehrte, auf einen Punkt fixiert, wirkt aber durchaus offen, keineswegs melancholisch, eher amüsiert, sogar ein wenig spöttisch. Gerade diesen spöttischen Zug hat Kleist in einem Brief an die Braut kritisiert und dem Porträtisten vorgehalten: „ich wollte er hätte mich ehrlicher gemalt.“ Dabei habe er um ihr zu gefallen, „fleißig während des Malens gelächelt“, und so wenig er auch dazu gestimmt gewesen, „so gelang es mir doch, wenn ich an Dich dachte“. Das klingt fast kokett, doch solche Töne sind in den Briefen an die Braut ansonsten selten, es überwiegt in ihnen die pädagogische Tendenz; denn er will sie nach seinem Ideenprogramm zurechtbilden.

Obwohl Kleist das Porträt nicht gelungen fand, hielten es sowohl die Braut als auch die Zeitgenossen für „wohlgetroffen“. Der Freund Friedrich de la Motte-Fouque schildert ihn als „kräftig, aber nur im treuherzigen Lächeln seiner Augen anmutig“, ein Eindruck, den die überlieferten Bilder durchaus bestätigen. Der scharf beobachtende Brentano, später wie Adam Müller, Fouque, Arnim, Varnhagen und Bernhard Anselm Weber ein Mitglied der christlich-deutschen Tischgesellschaft in Berlin, stellt Kleist dem Briefpartner Wilhelm Grimm 1810 als einen „untersetzten Zweiunddreißiger“ vor, „mit einem erlebten runden, stumpfen Kopf, gemischt launigt, kindergut, arm und fest“. Der ansonsten so wohlmeinende Achim von Arnim dagegen, dem Kleist besonders zugetan war, schildert ihn überraschenderweise – um die gleiche Zeit wie sein Freund Brentano und dem gleichen Briefpartner – als „eine sehr eigentümliche, ein wenig verdrehte Natur, wie das fast immer der Fall, wo sich Talent aus der alten Preußischen Mondirung durcharbeitete“. Mag daraus noch eine besondere Einsicht in das problematische Amalgam von preußischer Erziehung und literarischem Genie sprechen, die folgenden Sätze entwerfen ein nicht eben positives Bild von dem Tischgenossen: „er ist der unbefangenste, fast zynische Mensch, der mir lange begegnet, hat eine gewisse Unbestimmtheit in der Rede, die sich dem Stammern nähert und in seinen Arbeiten durch stetes Ausstreichen und Abändern sich äußert, er lebt sehr wunderlich, oft ganze Tage im Bette, um da ungestörter bei der Tabakspfeife zu arbeiten.“

Wenngleich diese Äußerungen aus dem Jahre 1810 stammen, scheinen sich diese Züge auch schon früher zu finden. Seine Braut charakterisiert ihn in einem Brief an ihren späteren Mann, Professor Krug, einerseits als „sehr melancholisch und finster“, schweigsam, andererseits nennt sie ihn einen „herzlichen, guten Menschen“ mit „viel Geist“, „schneller Fassungskraft“ und einer „lebhaften Phantasie“, die „ihn oft zur Schwärmerei“ verleite. In dieser widerspruchsvollen Mischung aus kindlicher Heiterkeit, ja Ausgelassenheit, Humor, Selbstironie und jähem Ernst, Verschlossenheit, Selbstüberdruß haben viele Zeitgenossen den Kern von Kleists Persönlichkeit gesehen. Seine Stimmungen wechselten außerdem nach den äußeren Gezeiten von Erfolg und Mißerfolg, von Icherweiterung und Ichverkleinerung, von Momenten der Ekstase und der tiefen Depression. Hinter Erfolg wie Mißerfolg stand der Gedanke an den Tod, der Wunsch zu sterben – mit einem Freund, einer Frau oder auch allein. Wer – wenigstens theoretisch – auf Balance und Ausgleich bedacht war wie Goethe, konnte angesichts solcher Neigungen eigentlich nur „Schauder und Abscheu“ empfinden. Kleist kam ihm vor, so bekennt er, „wie ein von der Natur schön intentionierter Körper, der von einer unheilbaren Krankheit ergriffen wäre“. Über Kleists „Amphitryon“, den er am 13. Juli in Karlsbad las, verwunderte er sich „als über das seltsamste Zeichen der Zeit“, erkennt aber nichtsdestoweniger im Vergleich mit der Antike und Molière das Spezifische der Kleistschen Darstellung, formuliert es nur auffallend umständlich: „Der gegenwärtige, Kleist, geht bei den Hauptpersonen auf die Verwirrung des Gefühls hinaus.“

In Wirklichkeit jedoch handeln die Erzählungen und Dramen Heinrich von Kleists mehr noch als von solchen Gefühlsverwirrungen, was er auch eindrucksvoll in seinem Essay „Über das Marionettentheater“ erläutert, von den Verwirrungen des menschlichen Bewußtseins; denn seine Gestalten wissen nichts mehr von der göttlichen Selbstsicherheit der Person: sie sind sich selbst rätselhaft, erfahren Selbstidentität und Gewißheit nur noch im Traum, im Unterbewußtsein oder eben im Gefühl. Der Mensch bei Kleist lebt im Zustand der Täuschung und Orientierungslosigkeit, er kann „nicht entscheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaftig Wahrheit ist, oder ob es uns nur so scheint“ (Brief an Wilhelmine vom 22. 3. 1801). Wird Alkmene durch das göttliche Unerklärliche, hier die Erscheinung Jupiters in der Gestalt ihres Amphitryon, an ihrem „innersten Gefühl“ irre (und doch wieder nicht), so fühlt die Marquise von 0. unbewußt, was das Bewußtsein nicht weiß (oder bloß nicht wissen will). Weder der Graf F., der sich an der bewußtlosen Marquise vergangen hat, erscheint am Ende als Teufel noch Penthesilea, die ihren Achilles buchstäblich „vor Liebe“ aß, als „Scheusal“, sondern beide Fälle verweisen auf die „gebrechliche Einrichtung der Welt“ („Marquise von O.“) und des Menschen (so die Oberpriesterin am Schluß der „Penthesilea“). Wo das Gefühl versagt oder sich Kleists Figuren im Stadium der Gefühlsverwirrung befinden, ist die Katastrophe nah: sie verfallen blind dem Untergang, erzeugen wie Penthesilea im wiedergefundenen Gefühl „kalt wie Erz“ den eigenen Tod oder aber beweisen wie Käthchen von Heilbronn gegen alle äußeren Widerstände ihre innere Beständigkeit.

Obgleich Kleist deutlich genug die klassischen Ideale in Frage stellt und auch die Dramaturgie für seine eigenen Zwecke radikalisiert und verändert, hat ausgerechnet der Repräsentant des europäischen Klassizismus in Weimar, der damals einflußreiche Christoph Martin Wieland, seit der Bekanntschaft mit Stellen aus dem „Robert Guiscard“ entschieden, „Kleist sei dazu geboren, die große Lücke in unserer dermaligen Literatur auszufüllen, die (nach meiner Meinung wenigstens) von Goethe und Schiller noch nicht ausgefüllt worden ist“. Der Altvater des Weimarer Musenhofs, der in seinen „Briefen an einen jungen Dichter“ (1782-84) für eine notwendige Synthese in Sachen Drama plädiert und schon positive Vorzeichen in Goethes „Iphigenie“ gesehen hatte, nämlich eine „Verbindung der Natur, welche die Seele von Shakespeares Werken ist, mit der schönen Einfalt der Griechen, und mit der Kunst und dem Geschmacke, worauf die Franzosen sich so viel zugute tun“, sah nun endlich mit Kleists Stück seine Hoffnung erfüllt. „Wenn die Geister des Äschylus, Sophokles und Shakespeare sich vereinigen eine Tragödie zu schaffen“, so schreibt er dem Mainzer Arzt Dr. Wedekind am 10. April 1804 in ehrlicher Begeisterung, „so würde das sein was Kleists ,Tod Guiscards des Normanns’.“ Im Juli 1803 hatte er bereits den Dichter selbst mit einer für ihn ungewöhnlichen Direktheit ermuntert und ermahnt: „Nichts ist dem Genius der heiligen Muse, die Sie begeistert, unmöglich. Sie müssen Ihren Guiscard vollenden, und wenn der ganze Kaukasus und Atlas auf Sie drückt.“ Angesichts dieses Zuspruchs aus berufenem Munde ist es nur zu verständlich, daß Kleist flugs der Stiefschwester Ulrike die Zeilen Wielands weiterreicht und anmerkt: „Du kannst sie, wenn Du willst, verstehn.“ In der Familie nämlich hegte man von seiner poetischen Produktion keine hohe Meinung, man bezeichnete im Gegenteil 1811 den verlorenen Sohn insgesamt „als ein ganz nichtsnutziges Glied der menschlichen Gesellschaft, das keiner Teilnahme mehr wert sei“. Diese Verachtung der Schwestern raubte ihm schließlich „nicht nur die Freuden“, die er „von der Zukunft hoffte“, wie er in einem seiner letzten Briefe klagt, sondern sie vergiftete ihm „auch die Vergangenheit“. Dabei hätte gerade Ulrike, die ihm doch sonst so nahe stand, wissen müssen, was ihm Anerkennung, Erfolg und Ruhm bedeutete. „Die Hölle gab mir meine halben Talente, der Himmel schenkt dem Menschen ein ganzes, oder gar keins“, schrieb er der Schwester 1803 verzweifelt aus Genf.

Lebensspuren

Der subtile Psychologe Wieland hatte an Kleist, der neun bis zehn Wochen bei ihm wie ein Familienmitglied lebte, bald erkannt, daß das „Rätselhafte und Geheimnisvolle“ seines Charakters ebensowenig affektiert war wie die vielen anderen „Sonderlichkeiten“, die man an ihm beobachten konnte. Ihm, der so beredt „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“ zu schreiben wußte, fiel bezeichnenderweise das Reden schwer; manchmal stammelte er, zuweilen unterbrach er den plötzlich einsetzenden Redestrom, ließ Pausen im Raum stehen, vergaß sich wie sein Prinz von Homburg beim Aufnehmen des „Schlachtentwurfs“ (1,5), starrte vor sich hin, in „dumpfes Hinbrüten“ verfallend. Er forderte außerdem mit seiner „außerordentlichen Zerstreutheit“ nicht selten den Spott seiner Freunde heraus, in deren Lachen aber er selbst, einmal über seine „Schlafwandlereien“ aufgeklärt, am lautesten einstimmte. Auch unterhielt er sich einige Male, die Gegenwart seiner Freunde vergessend, mit sich selbst, murmelte etwa, wie Wieland berichtet, „bei Tische sehr häufig etwas zwischen den Zähnen“, womit er in der Tat ein wenig verrückt wirkte, was aber sein wohlmeinender Wirt in Oßmannstedt bei Weimar mit dem dergestalt „hohen und vollkommenen Ideal“ erklärte, das Kleist von seinem Trauerspiel im Geiste vorschwebte, daß es für ihn auch schwierig war, „es zu Papier zu bringen“. Deshalb schreibt er immer wieder um, revidiert, ändert, vernichtet; denn er will wie Goethes Tasso „sein Gedicht zum Ganzen runden“, höchste Vollendung und Vollkommenheit erreichen. Deshalb setzt er seine ganze Existenz auf die literarische Produktion, in der er sein Sein gleichsam zum Denkmal verklären möchte, um freilich gleichzeitig zu befürchten, daß er darüber beides, Sein wie Dichten versäumt, Die Problematik des idealistischen Perfektionswahns deutete Kleist in einem Brief an den Freund Otto August Rühle von Lilienstern (31. August 1806) an: „Die Wahrheit ist, daß ich das, was ich mir vorstelle, schön finde, nicht das, was ich leiste. Wär ich zu etwas anderem brauchbar, so würde ich es von Herzen gern ergreifen: ich dichte bloß, weil ich es nicht lassen kann.“ Aggressiver hatte er diese Ansicht bereits im Brief an die Stiefschwester (26. Oktober 1803) formuliert, in dem er den Entschluß, sich in den Tod zu stürzen, folgendermaßen begründet: „Ich habe in Paris mein Werk, soweit es fertig war, durchlesen, verworfen, und verbrannt: und nun ist es aus. Der Himmel versagt mir den Ruhm, das größte der Güter der Erde; ich werfe ihm, wie ein eigensinniges Kind, alle übrigen hin.“

In Heinrich von Kleist widerstreitet wie bei Goethes Tasso das Talent nicht nur dem Charakter, sondern auch der Welt. Die Symptome seiner psychisch-geistigen Erschütterungen stecken in einem ganzen Bündel von Motiven. Da ist einmal das Syndrom des sentimentalischen Dichters, das Schiller so zeitgemäß diagnostiziert hat: „Nicht genug, daß er oft mit dem Glücke zerfällt, weil er versäumte, den Moment zu seinem Freunde zu machen, er zerfällt auch mit sich selbst, weder sein Wissen noch sein Handeln kann ihm Genüge thun. Was er von sich fordert, ist ein Unendliches, aber beschränkt ist alles, was er leistet.“ Kleist leidet an „fixen Ideen“, an Exaltiertheit, Hypochondrie, Melancholie, allerlei Neurosen, auch an körperlichen Gebrechen. Doch es sind nicht bloß die eigenen geistigen, existentiellen und psychosomatischen Mängel, die ihn die Vollkommenheit in einem vorgestellten und erträumten Ideal oder die Beseitigung aller Individuation im Tod suchen lassen, sondern er blickt ebenso mit unbestechlicher, ja realistischer Schärfe auf Gesellschaft, Staat und Politik. Gewiß, es ist einerseits sein  „töricht überspanntes Gemüt, das sich nie an dem, was ist, sondern nur an dem, was nicht ist, erfreuen kann“, wie er gegenüber Heinrich Lohse (Dezember 1801) bekennt, das sich bewußt von den „Maßstäben der Welt“ abwendet und nach der „inneren Vorschrift“ in seiner Brust (so am 10. Oktober 1801 an die Braut) handelt, aber es spricht aus ihm andererseits auch eine gesellschaftskritische Rebellion gegen das, was ist, weil es eben nicht war, wie es sein sollte. Ja, wie sollte es denn sein? Sollte ein vereintes freies Germanien herrschen wie in der patriotischen „Hermannsschlacht“, ein „Kriegsgesetz“, das auch Spielraum ließ für „liebliche Gefühle“, wie Natalie dem Kurfürsten im „Prinzen von Homburg“ empfiehlt, eine weitsichtige „Staatskunst“, die um die Macht der Empfindung weiß (Kottwitz), oder ein „mündiger Staat“, wie ihn Penthesilea dem Griechen Achilles erklärt, bevor sie ihn aus Liebe tötet?

Es gibt von Kleist neben seiner literarischen Produktion hinreichend gezielte Auskünfte über seine politischen und gesellschaftlichen Vorstellungen, so daß man nicht auf Mutmaßungen angewiesen ist. Vom „Verstand der Deutschen“ hält er wenig und bemerkt 1804 kritisch über seine Landsleute: „sie reflektieren, wo sie empfinden oder handeln sollten, meinen, alles durch ihren Witz bewerkstelligen zu können, und geben nichts mehr auf die alte, geheimnisvolle Kraft der Herzen. Mit „unmäßiger und unendlicher Liebe“ hängen sie eigentlich nur an „Geld und Gut, treiben Handel und Wandel damit … und meinen, ein ruhiges, gemächliches und sorgenfreies Leben sei alles, was sich in der Welt erringen ließe“. Dieser Wohlstandsideologie hält er als „die höchsten Güter“ nicht eben revolutionär entgegen: ,Gott, Vaterland, Kaiser, Freiheit, Liebe und Treue, Schönheit, Wissenschaft und Kunst.“ Eine mögliche Herrschaft Napoleons über ganz Europa wird für ihn zu einem Alptraum, der ebenso seine Gesundheit untergräbt wie die Beschwerden des Lebens, Denkens und der Kunst. Politisch setzt er vergeblich zunächst auf  Österreich, dann auf Preußen und sieht „diesen Wüterich“ Napoleon schon ein „großes System von Reichen“ gründen, viele Fürstendynastien, die alle von Frankreich abhängig sind. „Wir sind die unterjochten Völker der Römer“ (ohne daß freilich ein Hermann zur Befreiung bereit stünde), ruft er nicht ohne Empörung aus und nennt die Symptome, mit der sein Körper auf die politische Situation reagiert: „Ich leide an Verstopfungen, Beängstigungen, schwitze und phantasiere, und muß unter drei Tagen immer zwei das Bette hüten. Mein Nervensystem ist zerstört.“ Er kann und will es nicht verstehen, daß so wenige Zeitgenossen begreifen, „was für ein Verderben es ist, unter [Napoleons] Herrschaft zu kommen“, und urteilt bitter in einem der letzten Briefe an seine Lieblingskusine Marie von Kleist, die er wie seinen Freund Pfuel vor Henriette Vogel zum Gemeinschaftstod verführen wollte: „Die Allianz, die der König jetzt mit den Franzosen schließt, ist auch nicht eben gemacht mich im Leben festzuhalten. Mir waren die Gesichter der Menschen schon jetzt, wenn ich ihnen begegnete, zuwider, nun würde mich gar, wenn sie mir auf der Straße begegneten, eine körperliche Empfindung anwandeln, die ich hier nicht nennen mag.“

Gleich dem von Schiller porträtierten Idealisten mißt er seine Umwelt an seinen Idealen, was zu dem Ergebnis führt, wie er selbst beobachtet, daß ihm die Menschen bald nicht mehr gefallen und sich bei ihm „Verachtung der Welt und Ingrimm entwickelt“. Weil er diese Ideale nicht realisieren kann, werden ihm Leben und Wirklichkeit fragwürdig, obwohl er andererseits schon früh zwischen der Welt der Wünsche und der Realität zu unterscheiden weiß und außerdem bei ihm so mancher Glaube an so manche dieser Ideale erschüttert wird. „Aber um Himmels willen“, so warnt er eine gute Bekannte recht einsichtsvoll, „wenn wir von den Dichtern verlangen wollen, daß sie so idealisch sein sollen, wie ihre Helden, wird es noch Dichter geben?“ In die idealistischsten Tendenzen fällt bei Kleist im persönlichen Leben wie in seiner Dichtung immer wieder eine geradezu rücksichtslose, schroffe realistische Hellsichtigkeit, die sowohl die klassische Form des Dramas als auch der Novelle bis in die Satzfügungen aufsprengt, um die Teile mit eleganter Gewalt desto imponierender aufs neue und in eigener Weise wieder zusammenzuzwingen. Selbst als Kleist den Glauben an das Ideal und die Autonomie der menschlichen Vernunft verloren hatte, hielt er es noch hartnäckig mit dem Ideal der Kunst, dem „Gebiet der Einbildungskraft“, nicht zuletzt in der Hoffnung, sich dort dereinst „den Kranz der Unsterblichkeit zusammenzupflücken“ wie sein Prinz von Homburg. Denn nicht an der Kunst verzweifelte er am Ende, sondern an seiner Fähigkeit, sie so zu verwirklichen, wie sie seinem Geist vorschwebte; denn für ihn ist primär „Erfindung …, was ein Werk der Kunst ausmacht“.

Doch so sehr man Kleist als dichterischen Außenseiter innerhalb seiner alten militärischen Familientradition und einer im Grunde unmusischen zeitgenössischen Gesellschaft interpretieren mag, interesselos entfernt von Politik und Zeitgeschichte lebte er so wenig wie Friedrich Hölderlin. Während der Zeit seiner französischen Gefangenschaft korrigierte er gegenüber Marie von Kleist im Juni 1807 eine solche Einschätzung: „Was sind dies für Zeiten. Sie haben mich immer in der Zurückgezogenheit meiner Lebensart für isoliert von der Welt gehalten, und doch ist vielleicht niemand inniger damit verbunden als ich.“ Aber ist damit das Rätsel von Kleists Existenz gelöst? Oder liegt die Lösung des Rätsels gerade im Rätselcharakter dieser Person und dieser Dichtung? Was die Person betrifft, so ließe sich dazu eine einleuchtende Auskunft des Betroffenen zitieren. Sie steht in einem Brief an Ulrike (13./14. März 1803): „Ich weiß nicht, was ich Dir über mich unaussprechlichen Menschen sagen soll. – Ich wollte ich könnte mir das Herz aus dem Leibe reißen, in diesen Brief  packen, und Dir zuschicken. – Dummer Gedanke!“ Ein ungewöhnlicher Gedanke, ein radikaler Gedanke, gewiß, aber bestimmt kein dummer. Auch die Freundin Caroline von Schlieben gestand ratlos im April 1803 Heinrich Lohse: „im ganzen ist Kleist aber doch ein wunderbares Wesen, ich kann ihn nicht begreifen; sollte ich Dir sagen wie er mir … vorgekommen ist, so würde ich nicht fertig werden.“ Er wirbt nicht ohne Erfolg um Verständnis für sich als „unaussprechlichen Menschen“ bei Freunden und bei Freundinnen. Einmal ist es Brockes, der ihn ganz versteht, was er auch der Braut in einem Brief (31. 1. 1801) leicht vorwurfsvoll in erzieherischer Absicht auseinandersetzt, einmal Rühle, dann wieder Ulrike oder Marie und am Ende gar die Todesgefährtin Henriette Vogel.

Ausgerechnet die bis zum Schluß getreue Kusine Marie, die ihn nicht nur „ganz ohne eignes Interesse“ liebt und versteht, sondern ihn auch, ohne daß er es freilich weiß, finanziell unterstützt, muß er darüber belehren, daß eigentlich die Frauen an dem Verfall der Bühne in Deutschland schuld sind. Er plädiert deshalb für ein getrenntes Theater, eins für Männer, eins für Frauen, und stellt in Bezug auf die letzteren nicht eben charmant fest: „Ihre Anforderungen an Sittlichkeit und Moral vernichten das ganze Wesen des Drama, und niemals hätte sich das Wesen des griechischen Theaters entwickelt, wenn sie nicht ganz davon ausgeschlossen gewesen wären.“ Die kluge Marie widerlegt ihn, ohne offenbar zu dem Vorwurf Stellung zu nehmen, stehenden Fußes durch ihre Urteilskraft; sie hat nämlich, so schreibt er ihr jubelnd, seine „Penthesilea“ “wie eine Seherin aufgefaßt“ und verstanden.

Bernd Heinrich Wilhelm von Kleist wurde am 18. Oktober 1777 nachts um 1 Uhr in Frankfurt an der Oder geboren. Er stammte aus einem bekannten alten preußisch-pommerschen Adelsgeschlecht, das viele Offiziere, Generäle, Marschälle und auch einen Dichter, Ewald von Kleist, den Freund Lessings, hervorbrachte, und hielt trotz allem wenig von seiner Klasse. Er hätte gern „den ganzen prächtigen Bettel von Adel und Stand und Ehre und Reichtum“ drangegeben, um Liebe und sein Glück zu finden. Auf dem Boden des deutschen Idealismus hielt er sich an die inneren Werte, da ihm die äußeren verwehrt waren: er sprach von „moralischer Schönheit“, von Bildung und Wissenschaft, einem Lebensplan, und verwies auf die „höheren Freuden“; denn das „Gefühl, im Innern schön zu sein“, so ermahnte er ein wenig philisterhaft im Oktober 1800 die offenbar putzsüchtige und tanzfreudige Braut, „und das Bild das uns der Spiegel des Bewußtseins in den Stunden der Einsamkeit zurückwirft, das sind Genüsse, die allein unsere heiße Sehnsucht nach Glück ganz stillen können“. Er war 10, als ihm der Vater, 15, als ihm die Mutter starb, und trat, keineswegs der militärischen Neigung seiner Vorfahren, vielmehr der äußeren Notwendigkeit folgend, nach der Konfirmation in das Garderegiment zu Potsdam ein. Früh verwaist, außerhalb der Familie erzogen, pochte er auch beim Militär, wo er immerhin bis zum Sekondeleutnant avancierte, auf seine Individualität, stellte den „eigenen Zweck“ gegen den „Staat“, die „Aussprüche seiner Vernunft … gegen den Willen seiner Oberen“. Er strebte nach Bildung und Wissenschaft, nach geistigen und seelischen Werten, und lehnte alle bürokratischen Wertvorstellungen, die ein Staatsbeamter brauchte, ab. „Ordnung, Genauigkeit, Geduld, Unverdrossenheit“, so argumentierte Kleist schon im November 1800 (als denke er bereits an seinen Prinzen von Homburg), „das sind Eigenschaften die bei einem Amte unentbehrlich sind, und die mir doch ganz fehlen“.

Hochmusikalisch, geistig vielseitig interessiert, der Literatur und der Kunst zugetan, „allen Zwang und alle Pedanterie verabscheuend“, wie eine unbekannte Freundin überliefert, „hatte er sich denn auch bald den Ruf eines schlechten Soldaten zugezogen“, zumal ihm der damals so wichtige „Kamaschendienst… in tiefster Seele anekelte“. Auf der anderen Seite musizierte und diskutierte er angeregt mit einigen gleichgesinnten Freunden. „Ohne Noten zu kennen“, so heißt es in einem Bericht, „komponierte er Tänze, sang augenblicklich alles nach was er hörte, spielte in einer von Offiziers zusammengesetzten Musikbande die Klarinette und zog sich, der Musik zuliebe, sogar einmal Arrest wegen einer Vernachlässigung im Dienste zu“. Man erinnerte sich an eine unglückliche Liebe zu einem Fräulein von Linckersdorf, danach an eine wachsende „Vernachlässigung seines Äußeren“, eine bewußte Isolation von der Gesellschaft und einen Rückzug in sich selbst, an Kollisionen mit seinen Vorgesetzten, schilderte ihn allerdings auch als einen „guten, sehr sittlichen Menschen, von viel Geist und Bildung, aber auch mit vielem Hang zur Schwärmerei“. Er war außerordentlich reizbar, überempfindlich, hypersensibel, überspannt, dabei nicht ohne Sinn für die komischen Aspekte des Lebens. Früh nährte er in sich ein starkes Gefühl der Unabhängigkeit und Freiheit und wollte sich weder den beruflichen Rollenerwartungen der Familie noch der Gesellschaft unterwerfen. In der Überzeugung, „nur als ganz freier Mensch könne er sich und den Wissenschaften genügen“, reichte er bereits mit 21 Jahren um seinen Abschied vom Militär ein.

Befreit von der verachteten „militärischen Disziplin“, warf er sich in Frankfurt an der Oder mit großem Eifer auf das Studium von Physik, Mathematik, Philosophie, Griechisch und Latein, „lebte in heiterer Geselligkeit mit seinen Freunden und Geschwistern, welche letztere, mit ihm zusammen, ihr elterliches Haus bewohnten“. Obwohl man ihm eine stille, ernste, nicht selten zerstreute Natur bescheinigte, hatte man offenbar Grund, ihn ebensooft als ausgelassen, heiter und gesellig zu charakterisieren. In Frankfurt lernt er auch seine zukünftige Braut, Wilhelmine von Zenge, kennen, die geduldig seine brieflichen Denkaufgaben entgegennimmt und sich von ihm zum Zwecke höherer Menschenbildung schulmeistern läßt. Zwar bestimmt er ihr Ziel als Mutter, sein eigenes als Staatsbürger, aber noch mehr entzückt ihn die „große Idee“, aus Wilhelmine dereinst „ein vollkommnes Wesen“ zu bilden. Dieser Gedanke erwärmt nicht nur „jede Lebenskraft“, bewegt „jede Fähigkeit“ in ihm, setzt „jede Kraft … in Leben und Tätigkeit“ um, sondern entfacht so recht das Feuer seiner Liebe. Dabei meint er einmal etwas forciert: „Ich fühle, daß es mir notwendig ist, bald ein Weib zu haben. Dir selbst wird meine Ungeduld nicht entgangen sein – ich muß diese unruhigen Wünsche, die mich unaufhörlich wie Schuldner mahnen, zu befriedigen suchen“. Warum erklärt er dann Liebe und Bildung zu geradezu identischen Größen? Etwa aus Erwägungen der Kulturmoral, wegen eines angeblich körperlichen Defekts oder gar aus homoerotischen Neigungen?

Kleist selbst berichtet davon, daß es in seiner Seele „wie in dem Schreibtische eines Philosophen“ aussehe, „der ein neues System ersann“, und rühmt dann gezielt der Braut gegenüber (Januar 1801) die aufopfernde Uneigennützigkeit seines Freundes Ludwig von Brockes, bekennt gar (im Januar 1805) in einem Brief an Ernst von Pfuel den „lieblichen Enthusiasmus der Freundschaft“ und schwärmt: „Du stelltest das Zeitalter der Griechen in meinem Herzen wieder her, ich hätte bei Dir schlafen können, Du lieber Junge.“ Außerdem ergeht er sich in Andeutungen über seine „mädchenhaften Gefühle“, nennt aber dann neben einem „schönen Gedicht“ und einer „großen Tat“ auch „ein Kind“ als das Ziel seiner Bemühungen, und hüllt alle verfänglichen Themen gleich wieder in Schleier und Nebel, verwischt die sensualistischen Spuren oder stilisiert sie idealistisch. Er war vermutlich nicht so radikal spirituell, wie er in seinen Briefen den Anschein gab, und gewiß nicht so exzessiv sensualistisch, wie manche Seelen- und Körperkundige heute meinen, sondern suchte nach den Vorstellungen der Zeit eine Art Ganzheitsbeziehung: sowohl bei Frauen als auch Männern. Obwohl in seiner Persönlichkeit etwas „Beängstigendes“ lag, soll er „doch, besonders für Frauen, höchst anziehend gewesen sein“; das beweist die Beziehung zu Wilhelmine, zu der männlichen Schwester Ulrike, zu der ihm besonders vertrauten Kusine Marie von Kleist, zu Henriette Vogel und nicht zuletzt zu Luise Wieland, die sich auf Anhieb leidenschaftlich in ihn verliebt hatte. Doch wie er zeitweilig mit aller Macht ein Amt anstrebte und instinktiv wußte, daß er für keines taugte, so malte er sich nicht selten eine bürgerliche Idylle aus, wo der Mann ausschließlich für sein Weib da war und umgekehrt, obwohl er andererseits jede Art von Bindung ablehnte. Verlobung, Ehe, das war mehr ein Gedankenspiel, eine Idee, die bald ebenso in sich zusammenstürzte wie der schöne Traum von Wissenschaft, Wahrheit und Bildung.

Am 10. Oktober 1801 berichtet er der Braut, daß er die Wissenschaften „ganz aufgegeben“, daß ihm ,,ein wissender Mensch“ ekelhaft sei, daß er selbst „eine Art von verunglücktem Genie“ wäre, nur sein „Herz“ noch als einzigen Wert besitze, und am 20. Mai 1802 empfiehlt er ihr, als sie ablehnt, ihm in die Schweizer Idylle auf das Land zu folgen: „Liebes Mädchen, schreibe mir nicht mehr. Ich habe keinen andern Wunsch als bald zu sterben.“ Er scheint die Angelegenheit einerseits als eine Art Probe ihres Vertrauens verstanden, andererseits die Absage erwartet, vielleicht sogar erhofft zu haben. „Ihr Weiber versteht in der Regel ein Wort in der deutschen Sprache nicht, es heißt Ehrgeiz“, schreibt er alsbald etwas hochfahrend. Dabei berichtet er der Schwester schon am 1. Mai nahezu zärtlich von einem „freundlich-lieblichen Mädchen“, einer Schweizerin, die ihm „Blumen in den Garten“ pflanzt und ihm die Küche bereitet. Wie dem auch sei, es kann keine Frage sein, daß ihn die Trennung von der Braut weniger beschäftigt hat als die Auseinandersetzungen mit Schwester Ulrike oder mit seinem Freund Pfuel. Für das Familienidyll, von dem er träumte, mit eigenem Bauernhof, war er ohnedies nicht geboren; nicht umsonst begab er sich regelmäßig auf die Flucht, wenn er hätte seßhaft werden können wie in Oßmannstedt, wo er seinen Worten zufolge „mehr Liebe gefunden … als die ganze Welt zusammen aufbringen kann“.

Der ehemalige Offizier zeichnet sich auch als Zivilist durch eine unerhörte geographische Beweglichkeit aus. Findet man ihn nach dem Abschied vom Militär 1799 in Frankfurt an der Oder, so trifft man ihn im August 1800 kurz in Berlin, dann schon wieder mit seinem Freund Ludwig von Brockes auf einer geheimnisvollen Reise, die ihn unter anderem nach Wittenberg, Leipzig, Dresden und Würzburg führt. Er verpflichtet seine beiden Vertrauten, die Braut und die Schwester, zu strengster Verschwiegenheit, ohne freilich Zweck und Grund der Reise zu enthüllen. Man weiß, er steht in Verbindung mit dem preußischen Minister Struensee, will es also doch noch mit dem Staatsdienst versuchen, und kann als sicher annehmen, daß er von der Regierung zu Spionagezwecken, wie er selbst in einem Brief vom 25. November deutlich genug signalisiert, mißbraucht worden ist. Es handelt sich wahrscheinlich um eine Art Werkspionage für Preußen, denn Struensee stand auch dem Kommerzial- und Fabrikwesen vor. Ob er wirklich so wenig von der Rolle wußte, die er für seinen König zu spielen hatte, bleibe dahingestellt; eine Zeitlang scheinen die Freunde das politische Theaterstück, sich unter anderen Namen an der Universität Leipzig zu immatrikulieren, um zu falschen Pässen zu kommen, nicht ohne Hingebung aufgeführt zu haben. Auch kündigt er der Braut selbstbewußt an, daß er im Fabrikwesen Karriere machen könne, ohne freilich die Nachteile zu verschweigen, die mit einem solchen Amt verbunden wären. Das, was er will, läßt sich ohnedies im Staatsdienst nicht erreichen, wo man von den Untergebenen auch noch „Schmeichelei, Heuchelei, kurz Betrug“ fordert.

Auf der Reise nach Würzburg hatte er aber vermutlich nicht bloß für Preußen spioniert,[1] sondern auch entdeckt, daß ihn „ein höheres Feuer erwärmt[e]“, daß eine „seltnere Fähigkeit“ in ihm steckte. Preußen, König, Politik und Genie schlossen sich seiner Ansicht nach aus, da konnte es keinen Kompromiß mehr geben. „Am Hofe teilt man die Menschen ein“, so erläutert Kleist seiner Schwester brieflich, „wie ehemals Chemiker die Metalle, nämlich in solche, die sich dehnen und strecken lassen, und in solche, die dies nicht tun. – Die ersten, werden dann fleißig mit dem Hammer der Willkür geklopft, die andern aber, wie die Halbmetalle, als unbrauchbar verworfen“. Deshalb drängt es ihn nach der Rückkehr auch bald vom Ministerium weg. Er überlegt, ob er nicht in Paris die Franzosen mit der „neuesten Philosophie“ Deutschlands bekannt machen solle, fängt an, sich konsequent „für das schriftstellerische Fach“ auszubilden und legt ein „Ideenmagazin“ an, aus dem er dann in seinen Briefen wie in seiner literarischen Produktion eifrig zitiert. Die Erschütterung seines idealistischen Glaubens war ebenso ein Syndrom einer allgemeinen Existenzkrise wie umgekehrt die Existenzkrise den plötzlichen Zusammenbruch seiner Weltanschauung einleitete. Er selbst stellte in einem Brief vom 21. Juli 1801 die negative Erfahrung in den Zusammenhang von Kants Philosophie und faßte die Situation dergestalt zusammen: „Verwirrt durch die Sätze einer traurigen Philosophie, unfähig mich zu beschäftigen, unfähig, irgend etwas zu unternehmen, unfähig, mich um ein, Amt zu bewerben, hatte ich Berlin verlassen, bloß weil ich mich vor der Ruhe fürchtete, in welcher ich Ruhe gerade am wenigsten fand; und nun sehe ich mich auf einer Reise ins Ausland begriffen, ohne Ziel und Zweck, ohne begreifen zu können, wohin das mich führen würde.“

In der Tat verläßt er Berlin, reist mit der „Männin“ Ulrike über Dresden, Halberstadt, Göttingen, Mainz, Straßburg nach Paris, wo er am „Robert Guiskard“ arbeitet. Er fühlt schon um diese Zeit, daß er einem Abgrund entgegentreibt, spricht davon, daß Leben nur dann etwas wert sei, „wenn wir es nicht achten“, philosophiert über den Widerspruch der eigenen Existenz, fragt sich bereits, ob es nicht seine Pflicht“ sei, Wilhelmine zu verlassen. „Ach, was ist das Leben eines Menschen für ein farbenwechselndes Ding!“ behauptet er etwas altklug in einem Brief an Frau von Werdeck und fährt im Stile seines „Ideenmagazins“ fort: „Sechs Jahre! Wie viele Gedanken, wie viele Gefühle, wie viele Wünsche, wie viele Hoffnungen, wie viele Täuschungen, wie viele Freuden, wie viele Leiden schließen sechs Jünglingsjahre ein!“ Er hält die „zyklopische Einseitigkeit“, die „an dem Busen eines Mädchens nicht anderes“ sieht „als eine krumme Linie“, gegen den „ganzen Zusammenhang der Dinge“ und räsoniert über die Relativität allen Fortschritts auf dem Gebiet der Wissenschaft. So wenig wie die Sprache dazu tauge, die Seele zu malen (alles „was sie uns gibt sind nur zerrissene Bruchstücke“), so wenig reiche „die menschliche Vernunft“ hin, „sich und die Seele und das Leben und die Dinge um sich zu begreifen“.

Das Erlebnis der Großstadt Paris hatte für Kleist eine symptomatische Wirkung. Er begann sich nach dem Gegenteil zu sehnen: nach einer rousseauistischen Naturidylle, die er dann auch 1802 nach einigen Exkursionen in der Schweiz auf der Delosea-Insel bei Thun fand. Hier will er sich ankaufen und mit Wilhelmine das zufriedene Leben eines Landmanns führen, hier arbeitet er am „Zerbrochenen Krug“, „Robert Guiskard“, stellt die „Familie Ghonorez“ fertig, fühlt er sich „bei weitem heitrer“, frei von den drückenden Erwartungen der Menschen, und kann „zuweilen wie ein Dritter über [sich] urteilen“. Er verkehrt mit Heinrich Zschokke, Wielands munterem Sohn Ludwig, der ihn bald nach Oßmannstedt mitnehmen wird, und Heinrich Geßner. In der Antizipation eines solcherart zurückgezogenen Lebensstils schreibt er der Schwester aus Bern (12. Januar 1802): „Ich bin so sichtbar dazu geboren, ein stilles, dunkles, unscheinbares Leben zu führen, daß mich schon die zehn oder zwölf Augen, die auf mich sehen, ängstigen.“ Doch auch dieser Versuch, seßhaft zu werden, scheitert; gewiß nicht wegen der Absage Wilhelmines, vielmehr wegen des drohenden Einmarsches der Truppen des verhaßten Napoleon. Als Ulrike von der Erkrankung ihres Bruders hört, reist sie sofort in der gewohnten Männerkleidung in die Schweiz und begleitet ihn und Ludwig Wieland über Basel, Erfurt nach Jena und Weimar. In Oßmannstedt verbringt Kleist auf Einladung des berühmten Dichters Christoph Martin Wieland einige glückliche Wochen in dessen Haus. Obwohl er hier ganz unerwartet Heimat und Liebe gefunden, begibt er sich wieder auf die Flucht, vielleicht auch wegen „einer geheimen Wunde“, eines „heimlichen inneren Leidens“, eines „Zweifelns und Verzweifelns an den höchsten Geistesgütern“, wie der Schweizer Zschokke einmal vorsichtig, allerdings in anderem Zusammenhang, andeutet.

Er hält sich in Leipzig auf, nimmt Unterricht in der Deklamation, dann sieht man ihn in Dresden, wo er mit Ernst von Pfuel zusammentrifft, mit dem er im Sommer 1803 über Leipzig, Bern und Thun bis nach Italien und wieder in die Schweiz zurück und von dort nach Paris reist. Hier verwirft er seinen „Guiscard“, fordert Pfuel wieder einmal vergeblich auf, mit ihm zu sterben; es kommt zum Bruch mit dem Freund, er verbrennt sein Drama, seine Papiere und flieht aus Paris. Er verflucht seine „halben Talente“, verzweifelt am Leben, da ihm der „ Himmel … den Ruhm, das größte der Güter der Erde“, versagt, und beschließt in einem Anfall von „Gemütskrankheit“, französische Kriegsdienste zu nehmen und sich in den Tod zu stürzen. Von diesem Selbstmordversuch aus unerfülltem Absolutheitsanspruch oder von der standrechtlichen Erschießung als (was wahrscheinlicher war, da er keinen Paß hatte) Spion konnte ihn allerdings gerade noch ein Bekannter retten, indem er ihn beschwor, sich beim preußischen Gesandten in Paris einen Paß ausstellen zu lassen. Dieser Gesandte schickte jedoch den verdächtigen ehemaligen Offizier sofort nach Preußen zurück, wo ihm der Generaladjutant des erzürnten Königs, Karl Leopold von Köckeritz, eine gehörige Abreibung erteilte. Was konnte auch einen abgedankten preußischen Offizier bewegen, ausgerechnet für Frankreich und gegen England in den Krieg zu ziehen? Man kann es von daher leicht verstehen, daß man ihm sein Verhalten mit strengen Worten vorhielt, während er – durchaus zutreffend – anhaltend beteuerte, die ganze „Einschiffungsgeschichte“ im Dienste Napoleons „gehöre vor das Forum eines Arztes weit eher, als die des Kabinetts“. Nicht nur sein Freund Pfuel berichtet von einer Geistesverwirrung auf Grund der „fürchterlichen Krise“, sondern er selbst schildert im Rückblick (24. Juni 1804) seinen Zustand ganz ähnlich: „Ich hatte bei einer fixen Idee einen gewissen Schmerz im Kopfe empfunden, der unerträglich heftig steigernd, mir das Bedürfnis nach Zerstreuung so dringend gemacht hatte, daß ich zuletzt in die Verwechslung der Erdachse gewilligt haben würde, ihn los zu werden.“ Wenn er, der erklärte Feind des Tyrannen Napoleon, den er als Urheber allen zeitgeschichtlichen Unheils brandmarkt, bei diesem anderen Römer und Völkerunterjocher Kriegsdienste nehmen will, dann handelt es sich in der Tat um eine „Verwechslung der Erdachse“. Auch der Freundin Henriette von Schlieben teilt er am 29. Juli 1804 mit, daß er nicht imstande sei, diesen „rasenden Streich“ zu erklären; er habe seit  seiner Krankheit die Einsicht in die Motive dieser seltsamen Reise verloren „und begreife nicht mehr, wie gewisse Dinge auf andere erfolgen konnten“.

Nach der Krankheit begibt er sich wieder auf Reisen. Eine Zeitlang spielt er mit dem Gedanken, in Koblenz Tischler zu werden, dann bewirbt er sich in Berlin wieder einmal um eine Anstellung in den Staatsdienst und nährt schließlich Hoffnungen, daß er als Legationsrat oder Attaché mit Major Gualtieri, dem Bruder seiner (angeheirateten) Kusine Marie nach Madrid gehen könne. Doch wie so viele Pläne scheitert auch dieses Vorhaben, aber er findet schließlich doch noch eine sichere berufliche Unterkunft im Finanzdepartment des verständnisvollen Ministers Karl Freiherr von Stein zum Altenstein. Dieser entsendet ihn als Diätar an die Domänenkammer nach Königsberg, wo Kleist außerdem finanz- und staatswissenschaftliche Vorlesungen hört, weil ihm für die zukünftige Laufbahn noch „die Kenntnisse fehlten“, wie seine Schwester Ulrike sich später erinnert. Aber auch dieser Versuch der Resozialisierung mußte bei jemand mißlingen, der so auf Unabhängigkeit bedacht war wie eben Heinrich von Kleist. Im Grunde wußte er schon am 23. April 1805, als er in einem Brief im Hinblick auf seine „Tätigkeit im Felde der Staatswirtschaft“ fragte, ob diese auch sein Beruf sei, daß nicht in diesem Amt, sondern in der Kunst seine Zukunft lag. Außerdem beschäftigten ihn um diese Zeit die politischen Zustände, der Siegeszug Napoleons und die drohende Neuordnung Europas, auf eine Weise, daß er wieder krank wurde. Er klagte über sein zerstörtes „Nervensystem“ und rief aus: „Was ist dies für eine Welt? Jammer und Elend so darin verwebt, daß der menschliche Geist sie nicht einmal in Gedanken davon befreien kann.“

Am 30. Juni 1806 bittet er seinen Vorgesetzten, den Freiherrn von Stein zum Altenstein, in der Sprache seiner Dramen um Beurlaubung, und zwar mit folgender Begründung: „Ein Gram, über den ich nicht Meister zu werden vermag, zerrüttet meine Gesundheit. Ich sitze, wie an einem Abgrund, mein edelmütiger Freund, das Gemüt immer starr über die Tiefe geneigt, in welcher die Hoffnung meines Lebens untergegangen ist: jetzt wie beflügelt von der Begierde, sie bei den Locken noch heraufzuziehen, jetzt niedergeschlagen von dem Gefühl unüberwindlichen Unvermögens.“ Es sind keineswegs nur strategische Gründe, wenn er die momentane Krise und Krankheit auf den früheren „unglücklichen Zustand“ während seines französischen Abenteuers zurückführt, denn das Gefühl, sich existentiell und politisch in einer Sackgasse zu befinden, schlägt sich auch jetzt in entsprechenden körperlichen Symptomen nieder. Was schon bestimmte Wendungen in den Briefen an seinen Vorgesetzten und an seinen Freund Otto August Rühle von Lilienstern andeuten, spricht er dann schließlich am 31. August 1806 aus, daß er den Staatsdienst quittieren möchte, weil es ihn mit Macht zur Dichtung zurückzieht und er jetzt vorhat, koste es, was es wolle, sich durch seine „dramatischen Arbeiten zu ernähren“. Er arbeitet noch in Königsberg intensiv am „Zerbrochenen Krug“, beendet den „Amphitryon“ und beginnt mit der „Penthesilea“.

Trotz der Enttäuschung über Napoleons Sieg bei Jena trifft er Anfang Januar 1807 voller Pläne in Berlin ein und will nach Dresden weiterreisen, als er von den Franzosen als angeblicher Spion verhaftet und schließlich nach Fort de Joux bei Pontarlier geschafft wird. Er ist wiederum ohne Paß gereist und hat nur seinen Abschied als Leutnant in der Tasche. Da es ungewiß bleibt, ob er als Staats- oder Kriegsgefangener einzustufen sei, erhält er längere Zeit keinen Sold. Obwohl er die ganze Situation als degradierend empfindet und sich über die illegale Verhaftung beschwert, fühlt er sich in der Gefangenschaft seltsamer- oder auch bezeichnenderweise „gesunder als jemals“ und führt seine „literarischen Projekte aus (vor allem Penthesilea)“, während er im preußischen Staatsdienst an „fortwährender Unpäßlichkeit“, „an Verstopfung, Beängstigungen“, Schweißausbrüchen und Fieberanfällen litt. Nichtsdestoweniger kann er es kaum erwarten, bis der von Ulrike erwirkte Befehl des Generals Clarke eintrifft, ihn nach Berlin zu entlassen, wo er auch endlich im August 1807 auftaucht, um von dort aus nach Dresden aufzubrechen.

Hier scheinen sich alle angestauten Kräfte explosionsartig zu entladen. Er bewegt sich in einem größeren Kreise alter und neuer Freunde, zu denen Rühle, Pfuel, Adam Müller, die Familien von Schlieben und Körner gehören, und entfaltet eine nahezu hektische Betriebsamkeit. Neben der Konzeption und Vollendung verschiedener dramatischer und erzählerischer Arbeiten steckt er voller journalistischer Projekte. Zunächst will er eine „Buch-, Karten- und Kunsthandlung“ kaufen, Verleger werden, und bietet Schwester Ulrike an, mit ihm und seinen Freunden alles in dieses Unternehmen zu werfen, „was man auftreiben kann“. Der eingeschworene Napoleon-Feind denkt sogar aus merkantilen Gründen daran, „den Kodex Napoleon zum Verlag [zu] bekommen“, und hält es nicht für ausgeschlossen, daß [seine] Buchhandlung überhaupt von der französischen Regierung erwählt wird, ihre Publikationen in Deutschland zu verbreiten“. Er bittet aber seine Schwester gleichzeitig, aus solchen gewiß seltsamen Hoffnungen „keine politischen Folgerungen zu ziehen“, was zweifelsohne ein großes Verständnis bei der Briefpartnerin voraussetzt. Es war also durchaus nicht immer ein Zeichen von „Gemütskrankheit“ oder exzessivem Schmerz, wenn er „in die Verwechslung der Erdachse“ einwilligte. Um diese Zeit notiert er stolz – an die Adresse der Geschwister gerichtet – seine gesellschaftlichen Erfolge, die in der Krönung zum poeta laureatus beim österreichischen Gesandten gipfeln.

Als sich der Plan mit der Buchhandlung zerschlägt, begründet er am 17. Dezember 1807 mit seinem Freund Adam Müller, der wie ein Amphibium manches politische Wasser und Festland durchfährt, das Kunstjournal Phöbus, für das er u. a. Wieland, Goethe, Jean Paul, Johannes von Müller um Beiträge angeht. Man kann nur staunen, wie der von den Zeitgenossen häufig als zerstreut und introvertiert geschilderte Kleist neben seiner emsigen literarischen Produktion noch Zeit und Kraft findet, für das Journal immer wieder die nötigen Geldmittel aufzutreiben, bis er es dann Ende Februar 1809 beim letzten „Phöbus“-Heft belassen muß. Er schreibt einige seiner wichtigsten Erzählungen, vollendet die „Penthesilea“, die für „Frauen … im Durchschnitt weniger gemacht“ ist „als für Männer“, „Käthchen von Heilbronn“ und die „Hermannsschlacht“. Außerdem produziert er politische Schriften, Essays, Gelegenheitsgedichte, Kriegslieder, beginnt mit Vorarbeiten zum „Prinzen von Homburg“, den er 1811 abschließt und gehört daneben einem politischen Geheimbund an, der für die Emanzipation Preußens von der „Napoleonischen Tyrannei“ tätig ist. Als Österreich gegen Frankreich rüstet, setzt er seine ganze politische Hoffnung auf Wien und bietet deshalb 1809 dem Wiener Burgtheater – allerdings erfolglos – die „Hermannsschlacht“ an.

Der Krieg treibt den Dresdner Freundeskreis auseinander, und Kleist läßt sich nicht lange nach dem Friedensschluß (14. Oktober 1809) in Berlin nieder, wo es nicht nur zu vielen neuen Bekanntschaften (Rahel Varnhagen, Fouqué, Eichendorff, Theremin, Wilhelm Grimm), wozu auch die Mitglieder der am 18. Januar 1811 gegründeten christlich-deutschen Tischgesellschaft gehören, sondern auch zu bitteren Auseinandersetzungen kommt. Gereizt spielt er auf Ifflands Homosexualität an, als dieser ihm sein „Käthchen von Heilbronn“ mit dem Hinweis zurücksendet, daß sich das Stück „auf der Bühne … unmöglich halten könne“.

Geradezu ein Michael Kohlhaas wird Kleist, als er von der preußischen Regierung sein Recht in Sachen Berliner Abendblatt fordert. Das von ihm ab 1. Oktober 1810 redigierte „halbministerielle Blatt“ hatte wegen seiner aktuellen Informationen sofort Anklang beim Publikum gefunden, aber dann wegen eines staatlich erzwungenen Rückzugs der offiziellen Beiträge wieder Abonnenten verloren, so daß Kleist empört den König und den Staat um Entschädigung anging und sein Recht forderte. Nach einem zähen Briefkampf erhielt er am 11. September 1811 eine Audienz beim König, der ihm angeblich eine Anstellung beim Militär versprach, woraus freilich nichts wurde. Zusammen mit dem unentschlossenen Verhalten Preußens gegenüber Napoleon trug das alles zu seinem Entschluß im November 1811 bei, gemeinsam mit der Bürgerlichen Henriette Vogel zu sterben. Er war mit seinen Kräften am Ende, schwur brieflich seiner Kusine Marie, die ihn von dem Vorsatz abbringen wollte, daß es ihm „ganz unmöglich [wäre] länger zu leben“, und schilderte mit der gewohnten schonungslosen Radikalität seine verzweifelte Situation: „meine Seele ist so wund, daß mir, ich möchte fast sagen, wenn ich die Nase aus dem Fenster stecke, das Tageslicht wehe tut, das mir darauf schimmert. Das wird mancher für Krankheit und überspannt halten; nicht aber Du, die fähig ist, die Welt auch aus anderen Standpunkten zu betrachten als aus dem Deinigen.“

So theatralisch auch die Wannseer Veranstaltungen des gemeinsamen Todes mit Henriette Vogel, deren Grab ihm nach seinen Worten „lieber ist als die Betten aller Kaiserinnen der Welt“, wirken mochten, es lagen andererseits ein zu großer Ernst und eine zu hellsichtige Sachlichkeit darin, als daß man sie für“Affektationen“ hätte halten können. Man darf die „sonderbaren Gefühle, halb wehmütig, halb ausgelassen“ durchaus glauben, welche die beiden Lebensmüden bewegten, wie er noch am 20. November 1811, einen Tag, bevor er Henriette und sich durch zwei Pistolenschüsse tötet, protokolliert, „in dieser Stunde, da unsere Seelen sich, wie zwei fröhliche Luftschiffer, über die Welt erheben.“

„Das seltsamste Zeichen der Zeit“

So sehr man auch verschiedene Motive namhaft machen kann, die den Freitod Kleists begründen, das Rätsel seines Charakters ist damit nicht gelöst. Man spricht von seiner Exaltiertheit, seiner Hypochondrie oder erinnert an seinen eigenen Ausspruch: „[…] die Wahrheit ist, daß mir auf Erden nicht zu helfen war“, und trifft damit höchstens Einzelzüge (in diesem Fall zitiert nach der Ausgabe: Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke und Briefe in vier Bänden, herausgegeben von Ilse-Marie Barth, Hinrich C. Seeba, Stefan Ormanns und Klaus-Müller Salget, Deutscher Klassiker Verlag, Frankfurt am Main 1987-1997, fortan zitiert mit der Sigle „K“ samt Band- und Seitenzahl, hier: K 4, 513). Goethe nahm sich das Recht heraus, ihn zu tadeln, weil er ihn „geliebt und gehoben habe“, und stellte nicht eben rücksichtsvoll fest: „[…] genug er hält nicht, was er zusagt“. Luise Wieland, die ihn wirklich liebte, rechnete ihn zwar nicht „zu den ganz edlen Menschen die ja ohnehin eine Ausnahme machen“, hielt aber seinen Charakter für „gut“. Tieck soll „von des unglücklichen Dichters fixen Ideen“ gesprochen, ihn aber „treu, wahr, bieder, aufrichtig“ genannt haben, „aber den sonderbarsten Stimmungen unterworfen“, während ihn der ebenso scharf wie kritisch beobachtende Brentano um 1810 folgendermaßen porträtierte: „Er ist ein sanfter, ernster Mann von zweiunddreißig Jahren, ohngefähr von meiner Statur; sein letztes Trauerspiel Arminius darf nicht gedruckt werden, weil es zu sehr unsere Zeit betrifft; er war Offizier und Kammerassessor, kann aber das Dichten nicht lassen, und ist dabei arm“.[2] Er scheint sich wie in den Briefen auch im persönlichen Umgang auf die verschiedenen Partner eingestellt und sein Verhalten entsprechend verändert zu haben. Kein Wunder, daß es deshalb zu konträren Beurteilungen kommt, was seine Person und seinen Charakter betrifft. Bezeichnet ihn Brentano als „gemischt launigt, kindergut, arm und fest“, so Achim von Arnim als „eine sehr eigentümliche, ein wenig verdrehte Natur, wie das fast immer der Fall, wo sich Talent aus der alten Preußischen Mondirung durcharbeitete“. Arnim, den Kleist besonders schätzte, ergänzte diese Beschreibung noch um folgende Details: „[…] er ist der unbefangenste, fast zynische Mensch, der mir lange begegnet, hat eine gewisse Unbestimmtheit in der Rede, die sich dem Stammern nähert und in seinen Arbeiten durch stetes Ausstreichen und Abändern sich äußert, er lebt sehr wunderlich oft ganze Tage im Bette, um da ungestörter bei der Tabakspfeife zu arbeiten“.[3]

Wie in Tasso, mit dem ihn auch Tieck verglich, widerstreitet in Kleist das Talent mit dem Charakter, die Dichtung mit der Welt und entwickeln sich aus dieser Dissonanz Krankheitssymptome. Ganz ähnlich wie Goethes Modell für den modernen Dichter („Wenn ich nicht sinnen oder dichten soll, / So ist das Leben mir kein Leben mehr“ [Tasso, V. 3081 f.]) gesteht auch Kleist: „[…] ich dichte bloß, weil ich es nicht lassen kann“ (K 4, 362). Die existentielle Notwendigkeit der Poesie und die Unmöglichkeit, in  der Gesellschaft seiner Zeit ein ihm dafür gemäßes Amt zu finden, trieben ihn ständig in Konflikte, die für ihn nicht zu lösen waren. Es war außerdem das Schicksal des Idealisten, das Kleist neben anderen seiner dichtenden Zeitgenossen traf und Schiller in seiner Abhandlung „Über naive und sentimentalische Dichtung“ dergestalt beschrieben hatte: „Nicht genug, daß er oft mit dem Glücke zerfällt, weil er versäumte, den Moment zu seinem Freunde zu machen, er zerfällt auch mit sich selbst, weder sein Wissen noch sein Handeln kann ihm Genüge thun. Was er von sich fordert, ist ein Unendliches, aber beschränkt ist alles, was er leistet.“[4]

In der Tat: Kleist denunzierte die Wissenschaft und das Handeln, verzweifelte an sich selbst, seiner Umwelt und seiner Zeit und verleugnete nicht die „Strenge, die er sich selbst beweist […], auch nicht in seinem Betragen gegen andere“[5], und führte ihn die Selbstverachtung oft zu einer allgemeinen Menschenverachtung. Noch 1801 gibt es für ihn nichts, was „den Menschen wahrhaft erheben kann“, als eben Ideale (K 4, 181); an diesen mißt er auch seine Umwelt, was zu dem erwarteten Ergebnis führt, daß ihm die Menschen nicht gefallen (K 4, 198) und sich „bei ihm Verachtung der Welt und Ingrimm entwickelt“.[6] Weil er diese Ideale nicht verwirklichen kann, werden ihm Leben und Wirklichkeit (K 4, 358f., 360ff.) fragwürdig, obwohl er auf der anderen Seite schon früh zwischen der Wunschwelt der Dichtung und der Realität zu unterscheiden weiß. „Aber ums Himmels willen“, so warnt er eine gute Bekannte, „wenn wir von den Dichtem verlangen wollen, da sie so idealisch sein sollen, wie ihre Helden, wird es noch Dichter geben?“ (K 4, 279). In die idealistischen Tendenzen dringt im persönlichen Leben Kleists wie in seiner Dichtung eben immer wieder jene realistische Scharfsichtigkeit ein, die auch die klassische Form  des Dramas bis in die Sprache hinein aufsprengt. Selbst als er den Glauben an das Ideal und die Autonomie der menschlichen Vernunft verloren hatte, setzte er immer noch auf die Kunst, auf das „Gebiet der Einbildungskraft“ (K 4, 283) auf dem er sich dereinst  „den Kranz der Unsterblichkeit zusammen zu pflücken“ (K 4, 316f.) erhoffte. Im Gegenteil: „Je bodenloser das Kleistsche Weltgefühl wird, je hoffnungsloser dunkle, bösartige Dämonen – man mag sie Zufall oder Schicksal nennen – das Irdische und das Ewige verdunkeln“, so erläutert Benno von Wiese, „um so fanatischer ist Kleist um den Boden im Bodenlosen, um die Wahrheit im Schein, um das Unbedingte im Bedingten bemüht.“[7] In seinen Dramen und seinen Erzählungen zeigt er wieder und wieder, wie der Mensch durch sein Bewußtsein getäuscht, ein Opfer des Scheins wird und nur das Unbewußte, das spontane Gefühl, die Anmut des Marionettentheaters, das wahre Sein trifft.

Das Mißtrauen treibt die Liebenden Gustav und Toni in Die Verlobung in St. Domingo ebenso auseinander wie die vermeintlich heile Familie in der Marquise von O. Überhaupt verkörpert die gefährdete Familie oder die gestörte Beziehung zweier Liebenden in nuce den Riß, der durch Kleists Welt- und Gesellschaftsbild geht.[8] In der Familie Schroffenstein illustriert der Familienhaß, der zur Vernichtung von Agnes und Ottokar führt, diese „entzweite Welt“; aber auch die komische Handlung um den entzweigegangenen, zerbrochenen Krug bringt sie zum Ausdruck. Die Spannungen zwischen dem Kurfürsten und dem Prinzen von Homburg sind nicht nur ein Konflikt zwischen Onkel und Neffen, d. h. zwischen Vater und Sohn, sondern mit und in ihnen befragt Kleist die Wirklichkeit und Möglichkeit des preußischen Staates auf seine menschlichen Qualitäten hin. Wird hier der Traum zur Wirklichkeit oder die Wirklichkeit bloß zu einem Traum verklärt? Als sicher kann gelten, daß sich im „Prinzen von Homburg“ wie in der Konfrontation von Griechen- und Amazonenstaat und dem individuellen Konflikt der Helden in Penthesilea „zwei Wirklichkeiten darum streiten“, „welche wirklicher ist“.[9] Was sich in diesen Dramen zuträgt, wird mindestens aus zwei Perspektiven geschildert. Der Blick wird so auf eine mehrdimensionale Realität hin geöffnet, wobei die Widersprüche dieser Realität schon von der Form her zurückgespiegelt werden. Nicht zuletzt dieser radikalen Optik seiner Dichtung verdankt Kleist seinen Ruf der Modernität, der er sich übrigens zu einem gewissen Grad selbst bewußt gewesen zu sein scheint; denn er spricht davon, daß er nicht nur „eine gewisse Entdeckung im Gebiete der Kunst [.. .) völlig ins Licht“ stellen möchte (K 4, 316), sondern wertet als wichtigste Errungenschaft eines literarischen Werkes „die Eigenthümlichkeit des Geistes“ (K 4, 483).

Die künstlerische Tätigkeit ist für Kleist, wie schon Brentano erkannte, eine existentielle Notwendigkeit, so daß seine psychologischen und anthropologischen Erfahrungen und Einsichten ebenso in den Zusammenhang seines literarischen Werkes gehören wie seine gesellschaftskritischen und politischen Äußerungen. Der Prozeß[10] oder das Verhör, mit dem der Dichter seine Figuren auf die Probe stellen läßt, seien es Alkmene in Amphitryon, Adam im Zerbrochnen Krug, Friedrich von Homburg, das Käthchen von Heilbronn, Thusnelda in der Hermannsschlacht oder die Marquise von O., soll nicht zuletzt auf die „Unfehlbarkeit des Unbewußten“[11] hinweisen, aber auch ebenso auf die „gebrechliche Einrichtung der Welt“, vor allem des modernen Menschen, dessen Erkenntnis erst wieder  „durch ein Unendliches gegangen“ sein muß, um aufs neue die verlorene natürliche Anmut und Sebstidentität zu erreichen (K 3, 563).

Dem Sproß aus altpreußischem Adel war es durchaus bewußt, daß es zu einer „neuen Ordnung der Dinge“ kommen würde: er fürchtete nur, daß man dabei nichts „als bloß den Umsturz der alten erleben“ werde (K 4, 352). Seine politische Skepsis blieb auch nicht ohne Konsequenzen für seine Kunst, welche die Erfahrung der zeitgeschichtlichen Situation in den Konflikten der fiktionasilierten Figuren ausdrückt.  Oft schienen ihn allerdings die äußeren Spannungen dergestalt zu erdrücken, daß er einmal ausrief: „Wo soll die Unbefangenheit des Gemüts herkommen, die schlechthin zu ihrem Genuß nötig ist, in Augenblicken, wo das Elend jeden […] in den Nacken schlägt“. Die Schwierigkeit der Kunstproduktion in solcher Zeit ist aber nicht nur ein Thema Kleists, der in der Tat meinte: „Wirklich, in einem so besondern Fall ist noch vielleicht kein Dichter gewesen“ (K 4, 498), sondern die symptomatische Erfahrung einer ganzen Generation. In dieser Hinsicht ist er also keineswegs das „seltsamste Zeichen der Zeit“, höchstens eines der radikalsten. Das, was man später, wie er voraussah, für Krankheit und Überspannung hielt, entstammte dem extrem empfundenen Syndrom der „widerwärtigen Verhältnisse“, in denen er leben mußte (K 4, 485). Jeder Kompromiß im Hinblick auf die Umwelt konnte nur zu künstlerischen Mißgriffen führen: Auch die Dichtung mußte sich seiner Auffassung nach entschlossen auf die Unfehlbarkeit des „unendlichen Bewußtseins“ besinnen, das nur der Gliedermann oder Gott besitzt (K 3, 563). „Kurz, ich will mich von dem Gedanken ganz durchdringen“, so schrieb er im Sommer 1811 an Marie von Kleist, „daß, wenn ein Werk nur recht frei aus dem Schoos eines menschlichen Gemüths hervorgeht, daßelbe auch nothwendig darum der ganzen Menschheit angehören müße“ (K 4, 484). Er stürzte sich, wie es ähnlich in Goethes Drama Alfons dem Dichter Tasso prophezeit hatte, in den „Abgrund seines Herzens“ und wollte durchaus nicht als Mensch gewinnen, was der Poet nach dem Maßstab der Welt verlieren sollte.[12]

Anm. der Red.: Bei dem Text handelt es sich um einen Auszug aus Walter Hinderers Monografie „Vom Gesetz des Widerspruchs. Über Heinrich von Kleist“, Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2011. Wir danken dem Autor für die Publikationsgenehmigung.

Anmerkungen:

[1]Vgl. dazu Eberhard Siebert: War Heinrich von Kleist als Idustriespion in Würzburg? In: Jahrbuch Preußischer Kulturbesitz 22 (1985), S. 185-206. Andere Möglichkeiten des Reiseziels finden sich bei Dirk Grathoff: Heinrich von Kleists Würzburger Reise – eine erweiterte Rekonstruktion. In: Kleist-Jahrbuch 1997, S. 38-56, und Uffe Hansen: Der Schlüssel zum Rätsel der Würzburger Reise Heinrich von Kleists. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft, Bd. XLI, 1997, S. 170-209. Ausführlich diskutiert Gerhard Schulz in einem mit musikalischen Variationen gespickten Kapitel seiner Kleist-Biographie die verschiedenen Erklärungsversuche, um sie alle mehr oder weniger mit einem Fragezeichen zu versehen. Am ehesten scheint ihm noch die Industriespionage als These einzuleuchten. Er selbst hält sich mit neuen Versuchen, die Reise zu erklären, zurück, merkt allerdings grundsätzlich an: „Alle Versuche, Kleists Geheinmis zu lüften, kollidieren irgendwann mit den Worten seiner Briefe, in denen er über eben dieses Geheimnis spricht“ (Gerhard Schulz: Kleist. Eine Biographie. München 2007. S. 115-163; bes. S. 158, 551 [Anm. 116]).

[2]Heinrich von Kleists Lebensspuren, Dokumente und Berichte der Zeitgenossen. Hrsg. von Helmut Sembdner. Frankfurt am Main 1977, S. 79, 228, 226, 289.

[3]Bd., S. 290f.

[4]Schillers Werke.  Nationalausgabe. Bd. 20: Philosophische Schriften. Unter Mitwirkung von Helmut Koopmann hrsg. von Benno von Wiese. Weimar 1962, S. 498.

[5]Ebd.

[6]Lebensspuren (Anm. 2) S. 226 .

[7]Benno von Wiese: Die deutsche Tragödie von Lessing bis Hebbel. Hamburg 1967, S. 286f.

[8]Vgl. dazu besonders Walter Müller-Seidel: Der rätselhafte Kleist und seine Dichtung. In: Die Gegenwärtigkeit Kleists. Hrsg. von Wieland Schmidt. Berlin 1980, S. 18ff.

[9]Max Kommerell: Die Sprache und das Unaussprechliche. In: Geist und Buchstabe der Dichtung. Tübingen 1940, S. 189f.

[10]Ebd., S. 195ff.

[11]Ebd., S. 205.

[12]Herzog Alfons warnt seinen gefährdeten Hofdichter in Goethes Tasso folgendermaßen: „Dich führet alles, was du sinnst und treibst, / Tief in dich selbst. Es liegt um uns herum / Gar mancher Abgrund, den das Schicksal grub; / Doch hier in unserem Herzen ist der tiefste, / Und reizend ist es, sich hinabzustürzen. / Ich bitte dich, entreiße dich dir selbst! / Der Mensch gewinnt, was der Poet verliert“ (V 2, 3072-78).