Vollendung im Aleatorischen

Der amerikanische Fotograf Joel Sternfeld zeigt sich in seinen frühen Werken von der besten Seite

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Joel Sternfeld gehört neben William Eggleston und Stephen Shore zu den bekanntesten Vertretern der New Color Photography, die seit der berühmten Ausstellung Egglestons mit New York Museum of Modern Art 1976 die Fotografie als Kunstgenre dominieren. Ähnlich wie Walker Evans die amerikanische Schwarzweißfotografie über Jahrzehnte beeinflusste, hat der spezifische fotografische Zugriff dieser Gruppe amerikanischer Fotografen ikonografischen Charakter angenommen, und dabei immer den Kontext, aus dem diese Fotografie stammte, erkennen lassen.

Jetzt, nach mehr als 30 Jahren, ist erst erkennbar, wie weit dieser Einfluss reicht: Formensprache, Bildaufbau und Farbe einerseits, die Motivik und der Umgang mit den Themen, die die Fotografen wählten, andererseits haben sich als belastbare Basis für eine Fotografie erwiesen, in der nicht mehr das Schöne und Erhabene, das noch in der Banalität des Alltags aufscheinen mag, im Vordergrund steht, sondern die extremen Widersprüche einer aleatorischen Gegenwart, die sich in der Fotografie ihren Widerpart sucht.

Das wird besonders dann erkennbar, wenn wie bei Sternfelds frühen Fotografien unter den zahlreichen asymmetrischen und brüchigen Kompositionen auf einmal Motive auftauchen, die sich nahtlos in die strengen symmetrischen, an den starren Strukturen interessierten Arbeiten der noch aus der sozialkritischen Reportage kommenden älteren Kollegen anschließen. Die Parallelen zwischen Walker Evans „Greek Revival House“ von 1935 oder ähnlichen Fotografien, die in das Bildgedächtnis als amerikanische Ikonen eingegangen sind (siehe Walker Evans: Decade by Decade), und Sternfelds „North Carolina # 2“ von 1975 sind verblüffend. Aber sie sind Ausnahmen, die freilich zeigen, wie bewusst den neuen Fotografen der 1970er-Jahre war, die den Schritt in die Farbfotografie machten, in welcher Tradition sie standen. Stephen Shore macht dies wohl am deutlichsten (siehe Kevin Moore: Starburst).

Diese Tradition bewahrten sie und wichen dennoch radikal von ihr ab. Die Radikalität Sternfelds zeigt sich freilich nicht darin, dass seine Fotografien stets wie Zeitkapseln (so Jessica May in ihrem Essay, der im Band abgedruckt ist) erscheinen, in denen die gesamte Geschichte, die es hier zu erzählen gibt, ebenso aufgehoben wird wie die Kultur jenes Jahrzehnts, aus dem die Fotografien stammen. Auch dass sein Blick in einem Maße ironisch gebrochen ist und auf die Absurdität dessen, was er zeigt, zu verweisen scheint, ist für die Radikalität der New Color Photography und Sternfelds nicht entscheidend. Erzählungen, ja ironische Erzählungen hat es in der Fotografie schon früher gegeben. Sternfelds Radikalität zeigt sich in der Struktur und im Aufbau seiner Fotografien, die gegen alle Gepflogenheiten der Kunstfotografie zu verstoßen scheinen – und die damit auf die Hartnäckigkeit eines Kunstideals verweisen, das auf Geschlossenheit, Symmetrie – mithin Schönheit verweist. Die Schönheit dieser Fotos hat einen anderen Charakter.

Sternfelds Sujets rücken aus dem Zentrum, die Fotografien geraten aus der Balance. Selten einmal, dass er eine waagrechte Horizontale wählt. Die harsche Aufhellung seiner Gegenstände setzt sie in ein denkbar ungünstiges Licht. Fotografien werden so beschnitten, dass irgendetwas mit aufs Bild gerät oder daraus zu verschwinden scheint. Flächen und Figuren werden in den vermeintlich falschen Proportionen zueinander gesetzt, so als ob der Fotograf noch im Aufbau seiner Arbeiten basale gesellschaftliche Strukturmerkmale aufnehmen und in die ästhetische Wahrnehmung habe einbringen wollen. Dadurch werden die Fotografien dynamisch, ja hektisch. Nicht Kontemplation ist die angemessene Haltung zu ihnen, sondern Aufmerksamkeit.

Ein großer Teil des „Rush Hour“ benannten Teils des Frühwerks, der 1976 in verschiedenen amerikanischen Großstädten aufgenommen wurde, steht allerdings in krassem Gegensatz zu der beinahe phlegmatischen Ruhe der Aufnahmen aus Nags Head, die aus dem Jahr 1976 stammen. Auch im Jahr 1980 durchgeführten Projekt „At the Mall“ scheint Sternfeld die Zeit stillstehen lassen zu wollen.

Die Käufer in einer Mall nach ihren Einkäufen zu fragen, unterbricht einen ansonsten schon wenig stringenten Vorgang: ankommen, parken, umherschlendern, einkaufen, wegfahren. Es sind freilich nicht die riesigen Wochenendeinkäufe, die Sternfeld hier festgehalten hat, sondern die Gelegenheitskäufe, die beim Schlendern möglich sind, Kleinigkeiten, die vor allem dem geschuldet sind, dass wer sich hier aufhalten will auch kaufen muss.

Damit aber kommen Struktur und Sujet schließlich doch auf den Punkt, in dem Sternfeld auch thematisch etwas Besonderes ist. Sternfeld, der später vor allem durch seine großformatigen Landschaftsaufnahmen berühmt wurde, gilt als Meister der kleinen Episode, des ironisch gebrochenen Erzählens. Eine Meisterschaft, die sich auch in den frühen Aufnahmen zeigt: Die Dame, die in einer New Yorker Straße die Faust ballt, die junge Frau, die – an einem Wagen konzentriert vorbei gehend – ins Seaside Cafet geht, die jungen Leute im Nachtleben von Nags Head, die beiden jungen, mit weißen Unterhemden bekleideten Männer, die sich mit ihrem Kaffebecher und ihrem Eishörnchen ins Bild stellen – immer sind es Momente in einem größeren Zusammenhang, die Sternfeld zeigt, und es bleibt dem Betrachter überlassen, aus der kryptischen Momentaufnahme eine in sich geschlossene Erzählung zu machen.

Was wohl nicht gelingen wird, denn wenn man dem Bildaufbau glauben darf, der eben sagt, dass es so etwas wie eine in sich geschlossene Geschichte nicht gibt. Was das angeht, ist die Fotografie der 1970er-Jahre in der Kunstgeschichte kein Anachronismus, sondern – trotz ihrer Gegenständlichkeit – auf der Höhe ihrer und auch noch unserer Zeit.

Titelbild

Joel Sternfeld: first pictures.
Steidl Verlag, Göttingen 2011.
326 Seiten, 48,00 EUR.
ISBN-13: 9783869303093

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