Um eine neue Anthropologie von innen bittend

Das Internationale Jahrbuch für philosophische Anthropologie

Von Claudia SchmöldersRSS-Newsfeed neuer Artikel von Claudia Schmölders

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Lange hat es gedauert, aber nun scheint es etabliert: das neue Internationale Jahrbuch für Philosophische Anthropologie, erwachsen aus der Mitte der Helmuth Plessner-Gesellschaft, die seit 1999 existiert und mit Joachim Fischer soeben einen der Hauptvertreter dieser philosophischen Richtung zum Präsidenten gewählt hat. Zwei Bände sind seit 2008 erschienen, der erste mit einer Dokumentation der Tagung „Expression und Stil“, der zweite, 2010, mit Schwerpunkt auf der Geschichte, und man kann hoffen, dass die Frequenz noch etwas schneller wird.

Ausdruck, Körper, Leib, exzentrische Positionalität sind die Stichworte zu Helmuth Plessner für das allgemeine Publikum, aber hinter jedem verbirgt sich ein Diskurs im engsten Sinn des Wortes: ein mitgeführter, aber nicht offenbarer Subtext. In der neueren Kulturwissenschaft hat vor allem Helmuth Lethen für eine neue Plessner-Lektüre gesorgt, als er 1994 sein Buch über die „Verhaltenslehre der Kälte“ veröffentlichte. Hier wurde Plessner, der Biologe, Soziologe und Philosoph des 20. als Mann des 17. Jahrhunderts gezeichnet, dem nicht der „Ausdruck“ als genuiner Kundgabe am Herzen gelegen habe, sondern, von den Koordinaten der Sozialität gefordert, ganz im Gegenteil die Maske, also der verborgene Ausdruck. Natürlich hat Lethen nun auch einen eigenen Beitrag im ersten Jahrbuch beigesteuert.

Wozu aber nun ein neues Organ der Philosophischen Anthropologie? Die Herausgeber des ersten Bandes konstatieren ein neues Interesse an Anthropologie überhaupt, nachdem lange Jahre hoch spezialisierte Richtungen dominiert haben wie die sprachanalytische aus den USA, die soziologische im Anschluss an die Frankfurter Schule, die fortgeschriebene kantische Philosophie oder, last but not least, die unendlichen Anregungen aus der französischen Schule, sei sie ethnologisch, psychoanalytisch oder medientechnisch inspiriert. Hier nun kommt erneut die Tradition der deutschen Anthropologie zum Zuge, mit den Namen Max Scheler, Arnold Gehlen, Ernst Cassirer, aber auch Edmund Husserl mit seiner Phänomenologie. „Zusammenführung der Ergebnisse der Einzelwissenschaften“ ist das erklärte Ziel des Jahrbuchs, sowie „die Auseinandersetzung mit den klassischen Autoren, um die grundlegenden Annahmen und Begriffe der philosophischen Anthropologie zu schärfen“.

Das besondere Interesse und der Schwerpunkt des zweiten Bandes gelten daher dem Verhältnis von Plessner und Scheler, das bekanntlich von Misstrauen überschattet war, da Scheler sich von Plessner plagiiert glaubte. Dabei beginnt, wie die Herausgeber schreiben, die Geschichte der Philosophischen Anthropologie 1928 mit einem „Doppelschlag“: gleichzeitig erscheinen „Die Stellung des Menschen im Kosmos“ (Scheler) und „Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie“ (Plessner). Das Urheberproblem konnte nicht mehr gelöst werden, da Scheler schon 1928 starb und die große und seit Jahren angekündigte Ausarbeitung seiner Theorie nicht mehr erschien. Die Diskussion um die Unterschiede und die Gemeinsamkeiten der beiden Kölner Philosophen, von denen freilich nur Plessner zugleich auch Biologe war, umfasst im vorliegenden Band mehr als 200 Seiten.

Die Rubrik „Archiv“ – eine regelmäßige Einrichtung neben dem Rezensionsteil – bringt ein eher unbekanntes Scheler-Fragment über „das Problem der Struktur des Menschen und die sogenannten psychophysischen Theorien“ von rund 30 Seiten Umfang, datiert auf 1916 oder auch 1921. In der Rubrik „Biogramm“ wird dankenswerterweise Plessners engster Kollege aus dem Fach Verhaltensforschung, Frederik Buytendijk, porträtiert. Buytendijk sollte Plessner nach 1934 in Groningen Schutz bieten. Eine schöne Anekdote berichtet vom Kennenlernen der beiden in Köln; 1924 ergab sich eine Möglichkeit der Zusammenarbeit, weil das Budget ausreichte, aber der eigentlich vorgesehene Schimpanse dann doch ausfiel. „Für den sprang ich ein“, schrieb Plessner in einer biografischen Skizze 1957. Und aus dieser Zeit stammte das Grundlagenwerk über „Die Deutung des mimischen Ausdrucks. Ein Beitrag zur Lehre vom Bewußtsein des anderen Ichs“ (1925).

Nichts könnte der Idee der Maske, die Lethen 1994 für Plessner stark zu machen versucht hat, konträrer sein als dieser biologische Ansatz, der ja direkt auf Darwins großes Werk über den Ausdruck der Gemütsbewegungen beim Tier und bei dem Menschen (1872) zurückgeht, wenngleich eben die Einbeziehung der dialogischen Dimension ihn von jenem unterscheidet.

In seinem Beitrag zum ersten Band von 2008 hat Helmuth Lethen überrascht konstatiert, dass der Begriff des Ausdrucks aus der Kulturwissenschaft, seine Domäne als Institutsdirektor in Wien, weitgehend verschwunden sei. In den strukturalistischen oder konstruktivistischen Handbüchern der Literaturwissenschaft, Medientheorie oder Semiotik fehle er gänzlich. Statt von Ausdruck sei die Rede von Performanz, diskursiven Ereignissen oder gar „rhetorischen Listen“. Weggefallen aus diesen Diskursen sei die Idee des Subjekts, das etwas zum Ausdruck bringt oder bringen will. Auch Plessner verfahre erstaunlich distanziert mit dem Phänomen des Ausdrucks. Er sei eigentlich ein früher Medienphilosoph, da die menschliche Psyche eine „innere Affinität“ zur Künstlichkeit der Medien besitze, in denen sich der Ausdruck ausdrückt, ergo zur Maskenbildung. Doch auch Lethen muss zugestehen, dass sich Plessners Ausdruckslehre nicht in der Negation von unwillkürlichem Ausdruck erschöpft, dass seine bekannte Leitidee der „exzentrischen Positionalität“ immer bipolar denkt. Plessners Buch über „Lachen und Weinen. Über die Grenzen menschlichen Verhaltens“, das Joachim Fischer im selben Band zum Hauptwerk des Philosophen erklärt, exponiert den eigentümlichen Selbstverlust, dem der Mensch beim Lachen und Weinen unterliegt – und man erkennt unschwer darin die Figur der ekstatischen Entgrenzung, eben die „Exzentrik“, dem Gegenteil der beherrschten Kulturtechnik. „Man erkennt, warum Plessner eine solche artifizielle Kategorie für den Menschen entwerfen musste: Es ging ihm um das ganze Spektrum menschlicher Phänomene.“

Eben dieser Blick aufs komplizierte Ganze des Menschen, so kühn er im Zeitalter der Experten anmutet, soll vom neuen Internationalen Jahrbuch für Philosophische Anthropologie gefördert und angeregt werden; die Hermeneutik des nichtsprachlichen Ausdrucks sollen aufs Neue belebt, der Anschluss an die neurobiologische Forschung gefunden und die zentralen Konflikte der gegenwärtigen Selbstwahrnehmung in rebus corporis diskutiert werden. Der Ansatz ist zwingend, bedenkt man die oft so einfältige aktuelle Konjunktur des Darwin’schen Werkes in Psychologie, Kunstwissenschaft und Medienforschung.

Titelbild

Bruno Accarino / Matthias Schloßberger (Hg.): Internationales Jahrbuch für Philosophische Anthropologie Bd. 1: Expressivität und Stil. Helmuth Plessners Sinnes- und Ausdrucksphilosophie.
Akademie Verlag, Berlin 2008.
323 Seiten, 59,80 EUR.
ISBN-13: 9783050043340

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Titelbild

Joachim Fischer / Matthias Schloßberger / Ralf Becker (Hg.): Internationales Jahrbuch für Philosophische Anthropologie Bd. 2: Philosophische Anthropologie im Aufbruch. Max Scheler und Helmuth Plessner im Vergleich.
Akademie Verlag, Berlin 2010.
300 Seiten, 59,80 EUR.
ISBN-13: 9783050044033

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