Der Horror lauert in der Tiefe

Friedrich von Borries’ neuer Roman 1WTC

Von Stefan HöppnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Höppner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie bitte? Ein Thriller bei Suhrkamp? Der Titel in großen roten Lettern, der Blick in den Himmel entlang der Türme des alten World Trade Center – hält man den neuen Roman des 1974 geborenen Autors in den Händen, ist man zunächst irritiert. Kommt dafür der nächste Habermas bei Heyne heraus? Auf den zweiten Blick passt „1WTC“ schon besser ins Verlagsprogramm, weil das Buch unter seiner reißerischen Oberfläche durchaus subtil ist und Fragen anreißt, an die die meisten konventionellen Bücher des Genres nicht im Traum rühren würden.

Borries’ Roman handelt, wie der Titel bereits vermuten lässt, von Amerika nach 9/11. Damit gehört „1WTC“ nicht nur in eine Reihe hochwertiger literarischer Auseinandersetzungen mit den Ereignissen, zu denen man etwa Kathrin Rögglas Protokoll „really ground zero“ und Romane wie Don De Lillos „Falling Man“, „Ghost Town“ von Patrick McGrath und „Man in the Dark“ von Paul Auster rechnen darf. Aber während diese Texte sich eher mit der Verarbeitung des Traumas auseinandersetzen, wirft Borries in seiner Fiktion einen Blick auf die Konsequenzen, die sich daraus ergeben – oder ergeben könnten. So ganz klar ist das in „1WTC“ nicht – denn als zweiter Autor wird ein anonym bleibender deutscher Künstler namens Mikael Mikael genannt, der den geschilderten Plot als Figur miterlebt haben will. Im Zentrum der Handlung stehen neben Mikael die Game-Designerin Syana, die für das US-Militär arbeitet, der Architekt Tom und die Künstlerin Jennifer. Mikael möchte in New York ein Kunstprojekt zum Thema Überwachungsstaat durchführen, für das sich Jennifer als Model zu Verfügung stellt. An allen möglichen Orten stellt sie sich vor Kameras und ruft: „Show you’re not afraid. Go shopping!“ – mit diesen Worten hatte der damalige Bürgermeister Rudolph Giuliani die New Yorker nach den Anschlägen aufgefordert, Normalität zu demonstrieren. Syana zapft die Überwachungskameras an, bis ihr Vorgehen Verdacht erregt. Jennifers Ex-Freund Tom wird unterdessen gezwungen, ein Paradies zu konstruieren, wie es sich muslimische Selbstmordattentäter vermeintlich vorstellen, in der Hoffnung, dass sie dort zwischen den ersehnten Jungfrauen offen über ihre „Heldentaten“ sprechen – bevor sie von den amerikanischen Geheimdiensten tatsächlich getötet werden. Und wo wäre ein solches Paradies sicherer versteckt als in einem der Bürotürme, die am zerstörten Ground Zero wiedererrichtet werden? Die Handlung steuert auf eine Katastrophe zu.

Borries zeichnet ein überaus düsteres Bild des Landes als paranoider, in Kriege verwickelter Überwachungsstaat. Das tut er überaus glaubwürdig und symbolträchtig – wer anders als ein Architekt und Designer, wie es Friedrich von Borries ist, könnte zudem so genial und präzise über Architektur schreiben? Das Ergebnis ist durchaus ambivalent: einerseits bestätigt es sämtliche Klischees über die USA, die seit George W. Bushs Präsidentschaft in Umlauf sind, und die teilweise arg eindimensional geraten. Zum anderen gibt es gute Gründe für diese Klischees, von Guantanamo über Geheimgefängnisse der CIA in Polen und Rumänien bis Abu Ghraib. Sprachlich ist das straight heruntererzählt, ein echter page-turner. Aufgebrochen wird das konventionelle Muster allerdings durch subtil eingesetzte Filmprotokolle und (zitierte?) Dokumentationstexte, die beide eingesetzt werden, um Authentizität zu suggerieren. Dazu dient auch der Einsatz des vermeintlich realen Mikael, der eben nur aus guten Gründen untertauchen muss, und unter dessen Namen Borries auf der Seite www.mikaelmikael.com eine höchst reale Kunstaktion veranstaltet. Auf der anderen Seite ist „1WTC“ klar als Roman gekennzeichnet, und höchstwahrscheinlich ist das Buch nicht mehr als das – ein beklemmender Roman, der die Finger in die richtigen Wunden legt. Bezeichnend ist aber, dass sich die Frage nach Authentizität und Fiktion des Textes in unseren Zeiten überhaupt stellt. Wie ging doch der alte Spruch? „Dass du paranoid bist, heißt noch lange nicht, dass sie nicht hinter dir her sind.“

Titelbild

Friedrich von Borries: 1WTC. Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2011.
204 Seiten, 13,95 EUR.
ISBN-13: 9783518462744

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch