Von der Leine gelassen

Leif GW Persson plädiert in seinem neuen Krimi „Der sterbende Detektiv“ für Rache als Rechtsprinzip

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eigentlich ist dieses Buch ein Skandal, und es hilft wenig, dass klar ist, dass dem Autor das Skandalöse seines Krimis durchaus bewusst gewesen sein dürfte. Das Ganze wird auch nicht dadurch erträglicher, dass Rache als Rechtsprinzip anhand eines Verbrechens und eines Täters plausibel gemacht wird, über den es wenig zu diskutieren gibt. Ganz im Gegenteil: Gerade das Extrem sollte und müsste das Rechtsprinzip bestätigen und nicht dementieren.

Es geht dabei nicht einmal darum, dass auch einem Täter, so verabscheuungswürdig seine Taten auch sein mögen, das Recht auf ein faires Verfahren und die Unversehrtheit seines Körpers zustehen. Alle diese Prinzipien werden in diesem Krimi ja immer und immer wieder betont – um sie dann im Schluss ohne weiteres über den Haufen zu werfen.

Es geht vielmehr darum, dass ein Rechtssystem, das auch nur einigermaßen diesen Namen verdient, nicht auf Rache aufgebaut ist, sondern auf Strafe für ein konkretes Vergehen. Die Strafe bemisst sich nach dem Vergehen, ohne dass die Resozialisation des Täters damit suspendiert würde. Aber auch die steht nicht im Zentrum des Skandalons.

Skandalös an diesem Buch ist, dass Persson anhand eines verjährten Falles eines Kindesmissbrauchs zwar seinen lang bewährten Helden Lars Martin Johansson lauthals das Rechtssystem beschwören lässt und seine Erzählung sogar soweit vorantreibt, dass er eine Lösung für das Dilemma Tat ohne Strafe findet. Als es aber darauf ankommt, lässt er seinen Helden einfach seinen Tod sterben (am Anfang des Buches erleidet Johansson einen Schlaganfall, dem er am Ende erliegt). Der entlarvte Täter, den Johansson vor die Wahl gestellt hat, sich selbst zu stellen und sich einiger nicht verjährter Verbrechen zu bekennen oder von wild gewordenen Päderastenmördern umgebracht zu werden, entkommt seiner wahren und angemessenen Strafe danach aber nicht. Und das, weil er die richtige Entscheidung trifft. Richtig im Sinne des Racheprinzips, denn er entscheidet sich, sich nicht selbst zu bezichtigen.

Deshalb wird er auch von einem Handlanger Johanssons, der zudem Zögling eines russischen Kinderheims war, in dem Missbrauch an der Tagesordnung gewesen ist, zu Tode geprügelt. Ein langsamer Tode, wie es ausdrücklich im Buch heißt. Und wenn man den Beschreibungen Glauben schenken darf, dann kann man sich das einigermaßen vorstellen.

Persson lässt seine Protagonisten all die richtigen Dinge tun und sagen, die das Rechtsystem, an dessen Bestand nicht zuletzt unsere persönliche Sicherheit und Freiheit hängt, bestätigen: Distanz schafft die Möglichkeit, von Rache abzusehen. Nähe macht betroffen und Betroffene sind keine glaubwürdigen Akteure.

Aber schon diese Passagen werden umrahmt von zahlreichen gefragten und ungefragten Stellungnahmen, in denen es stets darum geht, „das Schwein, das das getan hat“, möglichst grausam umzubringen (erschlagen, eigenhändig, Augen auskratzen und dergleichen mehr).

Der Vater des Opfers, dem nach 25 Jahren nun endlich Gerechtigkeit widerfahren soll, hat sogar eine Stiftung gegründet, die Mörder von Päderasten rechtlich unterstützt. Das Verlogene an diesem Buch ist also, dass es in allem, was zitierbar ist, das Richtige tut und verlangt, aber die Erzählung die genau entgegen gesetzte Richtung einschlagen lässt. Am Ende siegt die Rache, ihr Protagonist wird noch belohnt, und der Gerechtigkeit ist Genüge getan. Nur das Recht ist demontiert, unrettbar.

Es ist keine Frage, und das soll noch einmal betont sein: Die Vergewaltigung und Ermordung eines Kindes ist widerlich. Dass die seligen 1970er-Jahre jede sexuelle Disposition, eben auch die Päderastie zu akzeptieren bereit war, ist heute kaum noch erklärbar.

Aber der Paradigmenwechsel, der in den letzten Jahren zu beobachten ist und für den die Kriminalliteratur einen sehr guten Index abgibt, ist kaum weniger befremdlich. Denn nach Vergewaltigung und Serienmord ist der Kindesmissbrauch zum neuen Kriminalparadigma geworden, an dem in Teilen der Gesellschaft Fragen von Recht und Gerechtigkeit diskutiert und entschieden werden.

Je extremer das Verbrechen, desto legitimer wird dabei für einen Teil der Beiträger die direkte Reaktion, die Rache, die den Täter möglichst grausam bestraft und das auch gegen das Rechtssystem, das auf seinen Verfahren bestehen muss. Eine Gesellschaft aber, die das zulässt, nimmt sich jede legitime Grundlage und damit am Ende ihre eigene Existenzgrundlage. Das, wohin das führt, will niemand, auch nicht Leif GW Persson, wie anzunehmen ist.

Titelbild

Leif GW Persson: Der sterbende Detektiv. Roman.
Übersetzt aus dem Schwedischen von Lotta Rüegger und Holger Wolandt.
btb Verlag, München 2011.
541 Seiten, 14,99 EUR.
ISBN-13: 9783442753079

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