Wie der Mensch gemacht wird

Zwei Studien unterschiedlicher Qualität untersuchen Reproduktionstechnologien in Literatur und Film

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In einer der jüngsten Ausgaben der Zeitschrift „FrauenRat“ berichtet die Gymnasiallehrerin Ulrike Sievert von einer klug ausgedachten Aufgabe, die sie ihrer Wikipedia-gläubigen Abitursklasse stellte: „Verfassen Sie einen – möglichst absurden – Eintrag in Wikipedia, den Sie frei erfinden und beobachten, dokumentieren Sie ihren Beitrag zum Weltwissen.“ Schon bald ließ sich auf den von vielen als Nachschlagewerk genutzten Seiten nachlesen, dass es in Birkenwerder bei Berlin ein „Rote Brücke“ gebe, die auch „Red Bridge“ genannt werde, dass schon die alten Römer Marmelade kannten, wie Pflaumenmusreste belegten, die in 1937 gefundenen Amphoren nachgewiesen worden seien, und der gleichen Unsinn mehr. Fortan waren die GymnasiastInnen von dem Irrglauben an die Verlässlichkeit des Internetportals geheilt.

Andere, selbst AkademikerInnen hängen ihm nicht nur nach wie vor an, sondern dokumentieren ihn in ihren wissenschaftlichen Qualifikationsarbeiten. So etwa Katja Kailer in ihrer nun publizierten Dissertation über Gen- und Reproduktionstechnologien in populären Spielfilmen, in der sie den Lesenden etwa anträgt, „Weiterführendes“ über den von ihr erwähnten SF-Autor Robert A. Heinlein bei der Internetplattform nachzulesen.

Kailer konzentriert ihre Studie über „gen- und reproduktionstechnologische Entwicklungen in der nicht-fiktionalen Öffentlichkeit sowie in populären Spielfilmen beziehungsweise Mainstream-Filmen“ namentlich auf die drei Filme „The 6th Day“, „Blueprint“ und „GATTACA“ und fragt nach den „grundlegenden Problemen und Mustern, die in diesen Filmen kommuniziert und bearbeitet werden“ sowie danach, wie sie „gängige Deutungsmuster“ aufgreifen. Kailer, die für sich in Anspruch nimmt, eine „Methode entwickelt“ zu haben, „die soziologisches und filmwissenschaftliches ‚Handwerkszeug‘ miteinander verbindet“, möchte zeigen, „dass es durchaus lohnenswert ist, das Medium Film in Hinblick auf gesellschaftliche Aspekte zu öffnen“, und hat sich zumindest damit sicherlich kein bahnbrechendes Forschungsunternehmen auf die Fahnen geschrieben.

Auch Tanja Nusser geht der Darstellung von Reproduktionstechnologien in Spielfilmen nach. Allerdings zieht sie nicht nur einen umfangreicheren cineastischen Quellenkorpus heran, sondern erweitert ihr Untersuchungsfeld zudem auf die Literatur. Doch sind das keineswegs der einzigen Unterschiede zu Kailers Arbeit. Vor allem zeichnet sich Nussers Werk dieser gegenüber durch den Verzicht auf dubiose Quellen wie Wikipedia aus. Das darf man von einer Habilitationsschrift allerdings auch erwarten. Überhaupt erfüllt Nusser alle methodischen und sonstigen Ansprüche, die an eine solche Qualifikationsarbeit zu stellen sind, ohne weiteres. Hingegen sollte man sich auch bei der Lektüre einer Dissertation nicht darauf gefasst machen müssen, auf Wikipedia verwiesen zu werden, wo man – wie Kailer empfiehlt – Näheres zu einem Thema oder einer Person in Erfahrung bringen könne.

Doch zurück zu Nussers weit gründlicheren und so auch erhellenderen Untersuchung. Die Autorin unterscheidet drei historische Phasen der „Behandlung von Kinderlosigkeit“ etwa durch „künstliche Befruchtung, die zunächst von der Literatur und später auch vom Film aufgegriffen wurden. Die erste, ein „Versuchsphase“ entwickelte sich in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts. Zwar habe sie in literarischen Texten „keine Spuren“ hinterlassen“, bemerkenswert aber sei, dass sich ein „biblischer Legitimationsdiskurs“ durch die einschlägigen medizinischen Schriften der Zeit zieht. Die wenige Jahre vor dem Ersten Weltkrieg anhebenden zweite Phase wissenschaftlicher Beschäftigung mit künstlicher Befruchtung wird Nusser zufolge nun schon von einem literarischen Diskurs begleitet, der allerdings in den Jahren der Nationalsozialistischen Herrschaft zumindest in Deutschland zum Erliegen gekommen sei. Erst in den 1980er-Jahren werden künstliche Befruchtung und nun auch neuere, weniger auf die Quantität als auf die Qualität der ins Werk zu setzenden Nachkommen bedachten Reproduktionstechnologien in der Literatur und nun eben auch im Film aufgegriffen.

Wie die Autorin betont, beabsichtigt sie nicht etwa eine Literatur- oder Kulturgeschichte der Reproduktionstechnologien selbst vorzulegen. Viel mehr geht es ihr darum, „dem biomedizinisch Imaginären in ausgewählten literarischen Texten nachzugehen“ und „die Technologien selbst als narrative Gegenstände in den Blick zu bekommen“. Ausgehend von einem „wissenschaftshistorischen Ansatz, der danach fragt, wie konkrete technische Entwicklungen zum Sujet von Texten und Filmen werden“, weist Nusser anhand von Einzelanalysen nach, dass Literatur und erzählendes Kino nicht nur als „Reservoir von Wissen“ gelten können, sondern darüber hinaus die „Potentialität der aktualisierten wissenschaftlichen Entwicklungen darstellen“.

Zu den Quellen, die Nusser einer intensiveren Analyse unterzieht, zählen Goethes „Wahlverwandtschaften“ und das Homunkulus-Thema im zweiten Teil des „Faust“ sowie die Zwischenkriegswerke „Alraune“ von Hanns Heinz Ewers und Konrad Loels weniger bekannte Reproduktionfhantasie „Züllinger und seine Zucht“. Aus jüngerer Zeit werden unter anderem Harry Mulischs „Die Prozedur“ und Carl Djerassis „Unbefleckt“ sowie die „Matrix“- und „Alien“-Filme herangezogen.

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Tanja Nusser: "Wie sonst das Zeugen Mode war". Reproduktionstechnologien in Literatur und Film.
Rombach Verlag, Freiburg im Breisgau 2011.
516 Seiten, 52,00 EUR.
ISBN-13: 9783793096665

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Titelbild

Katja Kailer: Science Fiction. Gen- und Reproduktionstechnologie in populären Spielfilmen.
Logos Verlag Berlin, Berlin 2011.
196 Seiten, 36,50 EUR.
ISBN-13: 9783832525453

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