„Das war der Sommer in Berlin, wenn er gut war.“

Marc Schweskas Roman „Zur letzten Instanz“, gelesen als techno-kultureller Zettelkasten

Von Stefan HöltgenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Höltgen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Abkupfern“ ist nicht einfach das bloße Kopieren einer Vorlage; die Kupferstecher waren Handwerker mit großem zeichnerischen und technischen Talent. Sie übertrugen grafische Vorlagen auf Kupferplatten, die dann als Vorlage für die Erstellung originalgetreuer Kopien dienten. Blickt man aus historisch unbedarfter, westlicher Perspektive heute auf die Entstehung der Mikroelektronik und Computertechnik der DDR, so kommt einem der negativ gemeinte Begriff „abgekupfert“ allzu schnell in den Sinn. Angefangen bei der IBM 1401 aus dem Jahr 1959, die ab 1963 vom VEB Robotron als Großrechner R 300 nachgebaut wurde, über den Mikroprozessor U880, der mittels reverse engeneering (sorgsames Aufschleifen der Vorlage zum Freilegen der Siliziumchips) vom legendären Zilog Z80 nachgebaut wurde, bis hin zu den Homecomputern der Firma Amstrad, die in der DDR unter dem Namen KC Kompakt noch am 7.10.1989 im VEB Mikroelektronik „Wilhelm Pieck“ Mühlhausen das Licht der Welt erblickte.

Wer den DDR-Technologen vorwirft, sie hätten bloß „agekupfert“, vergisst – bei obigen Beispielen etwa –, dass es IBM-kompatible nicht nur aus der DDR gab, dass der Z80 auch von NEC, ST Electronics und anderen nachgebaut wurde und dass auch die westdeutsche Firma Schneider Amstrads CPC-Computer unter eigenem Namen verkaufte. Der einzige Unterschied: Sie alle taten dies nach den Regeln des Kapitalismus, also unter Lizenz. Dem Vater der DDR-Computertechnologie, Nikolaus J. Lehmann, der maßgeblich an der Entwicklung der dortigen Computerindustrie beteiligt war und zwischen 1950 und 1956 die erste Relais-Rechenanlage D1 für Ostdeutschland konstruierte, legt Marc Schweska, um dessen Roman „Zur letzten Instanz“ es hier gehen soll, folgende Definition von „abkupfern“ in den Mund: „Na, etwas wissenschaftlich benutzen, was vorher nicht rechtmäßig veröffentlicht wurde, wenig vornehm ausgedrückt.“ Schweskas Lehmann geht es also ebenfalls um etwas ganz anderes als bloßes Kopieren: Es geht ihm ums Stehlen von Ideen.

Der Roman, der kürzlich im von Bastei-Verlag übernommenen Eichborn Verlag erschienen ist und einen passenden Platz in der ansonsten für philosophische, soziologische und ähnliche Texte reservierten Reihe „Die Andere Bibliothek“ gefunden hat, ist angefüllt mit Reflexionen über die Geschichte der Mikroelektronik und Computertechnik der DDR. Er erzählt von seinem jugendlichen Helden Lem und seinen Freunden, die in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre ihren Weg in, durch und gegen die Kultur der DDR suchen. Musik, Theater, Drogen und immer wieder Elektronik säumen, ja: definieren diesen Weg geradezu. Lem, dessen Vater ein Kybernetiker der ersten Stunde war, welcher versucht hat, diese neue Wissenschaft an andere Disziplinen anzukoppeln – in seinem Fall an die Psychologie – hat diesen Keim in seinen Sohn gepflanzt. Doch der schert sich wenig um eine konventionelle Ausbildung, ist in der Schule nur dort gut, wo sein Interesse bedient wird, zeigt sich ansonsten renitent, schleicht sich in die Uni, um dort philosophische und Kybernetik-theoretische Vorlesungen zu hören, schwängert seine Freundin Ira – und lebt vor sich hin, durch die Berliner Jugendszenen wandernd.

Eine Romanhandlung im „klassischen Sinne“ kann man in „Zur letzten Instanz“ nur schwer finden. Vielmehr verdoppelt Schweska das (Er)Leben seiner Protagonisten auf der Textoberfläche, indem er deren Zerrissenheit und Ziellosigkeit in ein Pastiche aus Briefen montiert, Anekdoten, Partygesprächen – aber auch Stasi-Protokollen, elektrischen Schaltplänen von analogen und digitalen Musikequipment, Tonwellen-Abbildungen der Sputnik-Sonde, Assembler- und BASIC-Programm-Listings, Disketten-Hexdumps, faksimilierten Briefen und immer wieder protokollartig eingefügten Gesprächsnotizen von denjenigen, über die sich die Jugendlichen unterhalten.

Und diese Gespräche drehen sich vor allem um Kunst und Wissenschaft – und bei letzterer vor allem um Elektronik, Kybernetik und Computer. Schweska, selbst gelernter Elektrotechniker, ist auf diesen Feldern so bewandert, dass man einen tiefen Einblick in die „Szene“ bekommt. Er kennt sich aus in den verschiedensten wissenschaftlichen Diskursen – von der Literatur über die Physik bis hin zum Steckenpferd Lems, der Elektronik – und lässt seine Protagonisten in ausufernde Diskussionen darüber geraten.

Dass sich bei derartiger Materialfülle also keine „Handlung“ einstellen kann, Schweskas Roman damit recht schwer lesbar ist, ist einigermaßen verständlich, stellt den Text aber in einem (ge)wichtige Tradition. Mehr als einmal musste der Rezensent an seine Begegnungen mit Materialmonstern wie Thomas Pynchons „Die Enden der Parabel“ denken – nicht nur, weil Schweska ähnliche Themen in vergleichbarer historischer Tiefe ausbreitet (gegen Ende kommen seine Protagonisten auf Peenemünde, die A4 und deren Bedeutung für die Geschichte der DDR-Elektronik zu sprechen). Schweskas Roman steckt ebenfalls voller kulturhistorischer Allusionen aus der zeitgenössischen Popkultur seiner Protagonisten, aus der Literaturgeschichte und vor allem aus den vielen politisch-ideologischen Zwischenzeilen-Andeutungen der DDR. Ob es nun um die Unterschiede der Technik-Politik zwischen „Spitzbart“ Walter Ulbricht und seinem Nachfolger Erich Honecker geht oder darum, wie schwierig es war, die Theorie der Kybernetik mit dem dialektischen Materialismus zu versöhnen. Und das sind „nur“ auf der Oberfläche verhandelte Themen. Zwischen den Zeilen steckt mehr. Man kann „Zur letzten Instanz“ eigentlich gar nicht verstehen, wenn man nicht selbst dort und mit dabei gewesen ist. Das vom Autor angehängte Glossar dient daher weniger zur Erhellung des Verständnisses als vielleicht als ein Versprechen von Kryptik.

Gleichwohl liefert „Zur letzten Instanz“ einen tiefen Einblick in die Befindlichkeiten seiner Protagonisten, die so authentisch geschildert werden, dass jeder Verdacht von Retro-Nostalgie sofort abgeschmettert wird. Wenn Lem und Nick nachts Elektro-Schrottplätze plündern, um dort funktionierende Bauteile zu finden, später zum Lötkolben greifen, um sich Verstärker, Computerteile und anderes rares Elektronikgut selbst zu bauen, dann wird da keine Bastel-Notwendigkeit verherrlicht, sondern kultureller Alltag beschrieben. Diesen Alltag und seine kleinen Ereignisse in jene großen ideologischen und wissenschaftlichen Diskurse einzubetten, gelingt Schweska meisterhaft. Er liefert mit „Zur letzten Instanz“ ein notwendiges Addendum zur derzeit auf dem Literaturmarkt vielfältig aufgearbeiteten Nerd-Culture der 1980er-Jahre. Fast wünschte man sich, Schweska würde sich noch einmal zum selben Thema an den Schreibtisch setzen, dann mit mehr Mut zur Fiktion und weniger Verpflichtung zur Historie, welcher er hier ja bereits Genüge getan und Ehre erwiesen hat. Der finale Ausflug seiner Clique in den Berliner Weltkriegsbunker lässt erahnen, was dabei heraus kommen könnte, und die Geschichte der Ostberliner Jugendkultur scheint anekdotenreich genug für eine weitere Vorlage. Bis es vielleicht soweit ist, kann man „Zur letzten Instanz“ aber immer und immer wieder und dabei immer neu lesen.

Titelbild

Marc Schweska: Zur letzten Instanz. Roman.
Eichborn Verlag, Frankfurt a. M. 2011.
354 Seiten, 32,00 EUR.
ISBN-13: 9783821862446

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