Reisebriefe eines Artisten

Joachim Ringelnatz’ Kunterbunte Nachrichten an eine „muschelverkalkte Perle“

Von Bernd HeinrichRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd Heinrich

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Er war Schriftsteller, Kabarettist und Maler, Autor des geheimen Kinder-Verwirr-Buches, Vater der Kunstfigur Kuttel Daddeldu, Verfasser der Turngedichte und der Gedichtesammlung „Die Schnupftabakdose“. Sein Leben war voller Überraschungen und Wendungen, sein Drang zur Veränderung unbändig, abenteuerliches Umherschweifen ihm sehr genehm. Zeitweise verdingte er sich als Seemann und Korrespondent eines Reisebüros, als Bibliothekar und Dekorateur, verkleidete sich als Wahrsagerin und diente als Leutnant zur See.

Das unruhige, ebenso erlebnis- wie entbehrungsreiche Leben des 1883 im sächsischen Wurzen geborenen Hans Gustav Bötticher – viel besser bekannt als Joachim Ringelnatz – glich einer kunterbunten Achterbahnfahrt. Und so heißt denn auch das 32-seitige Heft der Friedenauer Presse „Kunterbunte Nachrichten“. Es enthält knapp vierzig Briefe Ringelnatz’ an seine Frau Leonharda Pieper, seine „muschelverkalkte Perle“. Liebevoll nennt er sie „Mein goldiger Muschelkalk, Liebstes, du liebes, gutes Hascherl, liebes Putthühnchen, geliebtes Kind, lieber Kalk, ach, Du Gold-vogel oder auch Du liebe einsame Laterne …“. Häufig ist in den Zeilen an seinen „goldigen Liebling“ die Rede von chronischem Geldmangel, von Auftritten vor fast leeren Stuhlreihen, schlechtem Nachtschlaf und Angst vor Wanzen, aber auch von Zusammentreffen mit dem Schauspieler und Regisseur Paul Wegener, mit dem Maler und Grafiker Rudolf Großmann, den Verlegern Gustav Kiepenheuer und Ernst Rowohlt sowie mit Heinrich Zille.

Nahezu jede Zeile der „ringelnatzschen Zärtlichkeiten“ zeugt von seiner poetischen Sprachphantastik, seiner innigen Liebe zu Muschelkalk, auch seinem wunderbar-wunderlichen Humor, einem gleichermaßen leisen melancholisch-sentimentalen wie gefühlvollen, ja geradezu philosophischen Grundton, auch wenn er nur von ganz banalen Alltäglichkeiten berichtet. Damit werden die Briefe zu einem wichtigen Zeitzeugnis des Freundes und zeitweiligen Weggefährten auch von Asta Nielsen, von Kurt Tucholsky, Claire Waldoff und Otto Dix im vielgerühmten Berlin der 1920er-Jahre. Finanziell ging es dem Ehepaar Ringelnatz in diesen Jahren zunehmend besser, vor allem durch Engagements im berühmten Kabarett „Schall und Rauch“, bis 1933 Auftrittsverbot und die Beschlagnahme seiner Bücher folgten. Dadurch völlig mittellos geworden, durfte er endlich ausreisen. Joachim Ringelnatz wurde nur 51 Jahre alt. Er starb 1934 in der Schweiz an Tuberkulose und ruht im Berliner Waldfriedhof unter einer Grabplatte aus Muschelkalk.

Der verdienstvolle Verlag Friedenauer Presse hatte es sich im Jahr seiner Gründung 1963 zur Aufgabe gemacht, uns Heutigen unveröffentlichte oder vergessene Lyrik, Novellen und Essays zugänglich zu machen, Kapitel aus noch nicht verlegten oder übersetzten Büchern zu drucken und damit die Öffentlichkeit auf Lesenswertes aufmerksam zu machen und schließlich sorgfältig gesetzte und gedruckte Schriften zu edieren, in denen die Schrift und Typographie dem Text und nicht der Exklusivität folgen sollte. Die vorliegenden 32 Seiten – also zwei Bogen – erfüllen diesen Anspruch auch nahezu ein halbes Jahrhundert später noch immer in dankenswerter Weise – ohne „ästhetischen Snobismus“ zu betreiben. Als Handsetzer alter Schule nimmt man das Heft achtsam zur Hand.

Titelbild

Joachim Ringelnatz: Kunterbunte Nachrichten. Briefe aus Berlin.
Friedenauer Presse, Berlin 2011.
31 Seiten, 9,50 EUR.
ISBN-13: 9783932109683

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