Plastische „Kapital“-Lektüre

Zur neuen Rezeption von Karl Marx seit der Finanzkrise

Von Georg FülberthRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Fülberth

Marxismus als Überbau

In seiner Schrift „Marxismus und Philosophie“ (1923) gab Karl Korsch eine interessante Wirkungsgeschichte der Marx’schen Theorie. Diese sei in einer revolutionären Periode – vom Vormärz über 1848 bis zur Pariser Kommune – entwickelt und in einer nichtrevolutionären (1871 – 1917) breit rezipiert worden. In der Belle Epoque lief sie gleichsam leer, sodass Eduard Bernstein letztlich der angemessenere Interpret der realen sozialdemokratischen Reformpraxis gewesen sei. Erst in der neuen Revolutionsperiode ab 1917 wurde der ursprüngliche Marx wieder aktuell.

Diese Bemerkung kann Anlass sein, Überlegungen über das Verhältnis von Ursache und Wirkung anzustellen. Welchen Beitrag das Studium des „Kapital“ auf die politische Entwicklung genommen hat und heute etwa noch nimmt, lässt sich nicht exakt ermitteln. (Mao hat Marx kaum zitiert.) Der umgekehrte Weg ist leichter: die Rezeptionsgeschichte dieses Werks ist ein Stück Sozialgeschichte.

Die 530.466 Mitglieder, die die deutsche Sozialdemokratie im Jahr 1906 zählte, haben in der Regel das „Kapital“ nicht gelesen, ihr Bestseller war August Bebels „Die Frau und der Sozialismus“. In der akademischen Welt gab es in Deutschland zwar ein striktes Berufsverbot für Marxisten, doch zugleich wurde das „Kapital“ von prominenten National-Ökonomen gründlich studiert, und sei es zum Zweck der Widerlegung. Eugen von Böhm-Bawerk dürfte den dritten Band ausführlicher zur Kenntnis genommen haben als sogar Bebel. Diese Aufmerksamkeit hatte zwei Gründe: Erstens befand sich die universitäre Wissenschaft auf einer gewissen Höhe. Zweitens – und das war wichtiger – galt die ständig breiter werdende Arbeiterbewegung als eine Macht und Bedrohung, und an der Theorie, auf die sie sich berief, konnte nicht einfach vorbeigegangen werden. Die Hinwendung von Universitätsintellektuellen und Privatgelehrten – Bloch, Korsch, Lukác – (jetzt aber unter positivem Vorzeichen) nach dem Ersten Weltkrieg zum Marxismus hatte den gleichen Anstoß. Man kann annehmen, dass sie zuerst von der Revolution begeistert waren und danach die Theorie studierten. Auch die marxistische Episode in der Geschichte des Frankfurter Instituts für Sozialforschung hatte einen Bezug zur – scheinbaren oder tatsächlichen – revolutionären Weltentwicklung. Seine indirekt auch für die „Kapital“-Interpretation wichtige Abwendung im US-amerikanischen Exil resultierte aus einer pessimistisch gewordenen Einschätzung der Tatsachen des Kapitalismus und Sozialismus gleichermaßen.

Stalin mag ja ein arger Wüterich gewesen sein. Aber ohne die Erfolge der sowjetischen Waffen und die jahrzehntelange Selbstbehauptung der UdSSR wäre die Zurkenntnisnahme des Historischen Materialismus im Westen nach 1945 weit weniger intensiv gewesen. Wir müssten dann auch auf die blauen Bände der MEW verzichten. Selbst ein so zutiefst bürgerliches Unternehmen wie die Max-Weber-Gesamtausgabe wäre unterblieben ohne die vorgängige Marx-Engels-Gesamtausgabe, hinter der die Ressourcen des Realen Sozialismus standen. Lange vor der Ausrufung des Wandels durch Annäherung durch Egon Bahr hatten die Evangelischen Akademien die Nase im Wind und gaben in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre „Marxismus-Studien“ heraus, mit Betonung auf den Frühschriften.

Die Studierendenrevolte von 1968 hatte die „Kapital“-Lektüre nicht zur Voraussetzung, zog sie aber nach sich. Wer sich unmittelbar auf die Seite der Arbeiterbewegung schlagen wollte, hielt sich wohl eher an „Lohn, Preis und Profit“. In einem Teil der akademischen Rezeption dagegen setzte sich ein Abschied vom Proletariat fort, dem keine Ankunft vorausgegangen war. Es begann jene Neue Marx-Lektüre, die sich auf die Wertformanalyse beschränkte. Wieder können gesellschaftliche Voraussetzungen eines solchen Verständnisses angenommen werden: der Ist-Zustand der Klassenverhältnisse und des Bewusstseins der Lohnabhängigen ließ das Proletariat als handelndes Subjekt selbst da, wo es im „Kapital“ genannt wurde, als ein veraltetes Randphänomen des Textes erscheinen.

Die Zeiten, in denen die MEW-Bände von Ramsch-Tischen für lau abgegriffen werden konnten, um 1990, waren rasch vorbei. Das neueste Interesse am „Kapital“ knüpft an zwei Vorgaben an: die Globalisierung der kapitalistischen Verhältnisse und die Krise von 2008/09. Schon bei vorangegangenen Rezessionen seit den 1990er Jahren war der Seufzer schick geworden, Marx habe doch irgendwie Recht gehabt. Eric Hobsbawm berichtet von einem Gespräch mit dem Milliardär George Soros, dem eine Ahnung gekommen sei: „There’s definitely something to this man“ – da sei was dran. Wiederum war es zunächst nicht die „Kapital“-Lektüre, die solche Vermutungen hervorbrachte. Wer Marx als Propheten der Globalisierung akzeptierte, konnte sich hierfür auf das „Manifest der Kommunistischen Partei“ berufen. Und um zu merken, dass 2008 ein Crash passiert war, brauchte man nicht „Das Kapital“. Marx wurde als Theoretiker einer Krise aufgefasst, die man selbst gerade erlebte. Seine Analyse des (Über-)Akkumulationsprozesses wurde von der Mehrheit der für kurze Zeit Neubekehrten kaum zur Kenntnis genommen. Nur aufgrund dieser Verkürzung erschien er ihnen mit Keynes kompatibel.

So viel zur Basis. Die drei Bände Kritik der Politischen Ökonomie sind Überbau, aber ein nützlicher und auch vergnüglicher. Ein Teil der gegenwärtigen studentischen „Kapital“-Lesebewegung in der Bundesrepublik geht auf verdienstvolle Bemühungen des Verbandes „SDS. Die Linke“ zurück, der damit (was keine Schande ist) eigene Organisationsinteressen verbindet, die eben auch eine politische Tatsache sind. Als Einführungstext wird häufig Michael Heinrichs „Kritik der Politischen Ökonomie“ herangezogen. In diesem, was die Texterläuterung angeht, verdienstvollen Büchlein wird zugleich immer wieder der „Arbeiterbewegungs-“ und „Weltanschauungsmarxismus“ ausgeschimpft, und das wirkt merkwürdig anachronistisch. Diese Polemiken gehen auf die 1970er Jahre zurück, als es noch Menschen gab, die eine von ihnen eher suggerierte als realistisch erkannte pro-sozialistische Entwicklung des weltweiten und innenpolitischen Kräfteverhältnisses gleichsam für den natürlichen Lauf der Dinge hielten und diesen Glauben ins „Kapital“ projizierten. Doch wo gibt es die denn noch? Heinrichs Polemik geht also ins Leere. Viele seiner jungen Leserinnen und Leser werden sich fragen, wovon er überhaupt redet, allerdings nicht viele Gedanken darauf verwenden, weil sie ja etwas Anderes von ihm erwarten und auch bekommen: eine brauchbare Einführung ins „Kapital“. Gleiches gilt für seine Angriffe auf Engels und Karl Kautsky, die Marx (der selbst auch nicht immer mit sich im Reinen gewesen sei) angeblich zu einem Positivisten des 19. Jahrhunderts versimpelt hätten. Merkwürdigerweise haben sich Marxisten von Michael Heinrich zu Gegenpolemiken provozieren lassen, statt solcherart Kritik, da gegenstandslos, zu ignorieren. Die von ihm, Hans-Georg Backhaus und Helmut Reichelt vorgenommene Konzentration auf eine Theorie der Dialektik der Wertform ist ein großes Forschungsprogramm, das aber über die Jahrzehnte ein solches geblieben ist und von den grobschlächtigeren Anstößen, die immer wieder neue Generationen zur „Kapital“-Lektüre geführt haben, unberührt blieb. Gespräche mit Leserinnen und Lesern von Michael Heinrichs „Kritik der politischen Ökonomie“ zeigen, dass diese sich recht gut im „Kapital“ auskennen, doch auf die Frage, was „monetäre Werttheorie“ (und das ist immerhin sein Anliegen) sei, drucksen sie herum. Andere Arbeitsfelder erwiesen sich als fruchtbarer.

Befreite Arbeitswertlehre

Dies gilt für die Auseinandersetzung um die Arbeits- und Mehrwert-Theorie, die seit nunmehr 117 Jahren (seit dem Erscheinen des dritten Bandes des „Kapital“) geführt wird. Zeitweilig erschien sie völlig steril, aber sie belebt sich neu.

Der Kern des Problems ist die Transformation der Arbeitswerte im ersten Band des „Kapital“ in Produktionspreise sowie Marx’ Annahme, dass die Summe der Profite zugleich als Summe der Mehrwerte dargestellt werden könne. Die Lösung, die dieser hierfür vorschlug, erwies sich als falsch. Es wurden viele Korrekturversuche unternommen, bis Paul Samuelson in herablassender Weise die Angelegenheit liquidieren zu können meinte: „Betrachte zwei alternative, widersprüchliche Systeme. Schreib das eine hin. Zur Transformation nimm einen Radiergummi und radiere es aus. Schreib dann stattdessen das andere hin. Voilà! Damit ist der Transformationsalgorithmus beendet“.

Das war in den 1970er Jahren, als der Sozialismus als Gegenmacht noch Relevanz hatte, die Theorie, auf die er sich berief, deshalb Bekämpfung verdiente. Das Blatt wendete sich gerade. Schon vorher, 1960, war Marx gleichsam unter friendly fire geraten, durch Piero Sraffa: In dessen „Einleitung zu einer Kritik der [neoklassischen] ökonomischen Theorie“ entwickelte er das System einer „Warenproduktion mittels Waren“, in dem der Preis aller Waren simultan so bestimmt wird, dass eine einheitliche Profitrate gegeben ist, deren Höhe vom Lohnsatz abhängt, aber nicht mehr auf einen Mehrwert bezogen werden kann. Aus dieser – als „neoricardianisch“ bezeichneten – Sicht durfte die Mehrwerttheorie in der Folgezeit als redundant bezeichnet werden.

Zu den vielen Verdiensten Ernest Mandels gehört, dass er – gewiss nicht in erster Linie wissenschaftsimmanent, sondern politisch motiviert – schließlich eine Antwort auf diese Herausforderung zu organisieren unternommen hat. In dem von ihm mitherausgegebenen Band „Ricardo Marx Sraffa“ wurde 1984 – nach fast einem Vierteljahrhundert „Sraffa-Schock“ – ein Gegenangriff geführt. Hier veröffentlichte A. M. Shaik Überlegungen über eine weitgehende Rückkehr zur Arbeitswertlehre. Bereits ein Jahr vorher war ein Buch erschienen, das für die sehr Wenigen, die es früh rezipiert haben, als der Durchbruch in einer Debatte, die längst zum Stehen gekommen schien, begriffen wurde: „Laws of Chaos“ von Emmanuel Machover und Moshé Farjoun (1983). Sie verwarfen Marx’ Annahme von einer einheitlichen Profitrate. Diese sei empirisch nicht nachweisbar. Gebe man diese Voraussetzung auf, dann sei das, was bislang als einheitliche Profitrate galt, ausschließlich eine Wahrscheinlichkeitsverteilung. An die Stelle von deterministischen Zusammenhängen treten nun stochastische Gesetzmäßigkeiten. Als zentrales Ergebnis ihrer Untersuchungen ergibt sich, dass der Ansatz des ersten Bandes des Kapitals empirisch wie theoretisch tragfähig ist. Schlicht gesagt: die Profitrate ist die Mehrwertrate. Daraus folgt etwa, dass die anfallenden Profite mit der organischen Zusammensetzung korrelieren: ein hoher Lohnanteil sichert (im stochastischen Sinn) hohe Profite. Dies stimme mit dem Ergebnis empirischer Untersuchungen für Großbritannien aus den 1960er, 1970er und 1980er Jahren des 20. Jahrhunderts und den USA 1849 – 1952 beziehungsweise. 1949 – 1977 überein. Engels’ Frage von 1885, wie es sich erklären lasse, dass gleich große Kapitale mit unterschiedlicher organischer Zusammensetzung eine gleiche Profitrate abwerfen, beruhte demnach also auf einer Voraussetzung, für die statistisch erhebbare Tatsachen offenbar nicht vorlagen. Inzwischen gibt es weitere empirische Studien, die nach Auffassung ihrer Verfasser die Arbeitswertlehre stützen, allerdings meist auf recht kurzen Zeitreihen beruhen. Unabhängig von Farjoun/Machover veröffentlichte 1993 Fritz Helmedag unter dem provozierenden Titel „Warenproduktion mittels Arbeit“ (1992) eine „Rehabilitation des Wertgesetzes“. Schließlich erschien 2009 die Dissertation „Die Aktualität der Arbeitswerttheorie“ von Nils Fröhlich, der „die Standpunkte von Shaik sowie Farjoun und Machover als leistungsfähig“ empfahl.

Um irgendeine Marx-Apologie handelt es sich bei alledem nicht. Dessen Konstruktion einer einheitlichen Profitrate im dritten Band des „Kapital“ wird ja ausdrücklich zugunsten der Mehrwertlehre des ersten verworfen.

Erweisen sich diese Überlegungen als tragfähig, könnte dies das Ende der eklektizistisch-opportunistischen Auffassung über eine Pluralität der Gewinnquellen bedeuten, zu welcher auch der Verfasser der hier vorliegenden bescheidenen Zeilen längere Zeit neigte. Immerhin gibt es ja wirklich verschiedene Profitsorten: Aufschlag auf intransparenten Märkten, Nutzung eines zeitweiligen Übergewichts der Nachfrage über das Angebot, Schumpeters „Unternehmergewinn“ und Monopolpreise. Aber sie können als nachrangige Ausprägung des ihnen zugrunde liegenden Mehrwertes, der nicht in reiner Form in die Erscheinung treten muss, verstanden werden.

Die Rehabilitationen des Wertgesetzes in den vergangenen Jahrzehnten erfolgte – verglichen mit gewohnten „Kapital“-Rezeptionen – atypisch und antizyklisch: nicht durch irgendeine zeitgeschichtliche Evidenz angestoßen, sondern gerade im Gegensatz zu einem Trend, in dem Norbert Blüm mit seinem Diktum „Jesus lebt und Marx ist tot“ groß herauskam. Eine politische Konsequenz dieser Bemühungen und ihrer Ergebnisse ist gegenwärtig in keiner Weise absehbar.

Sogenannte ursprüngliche Akkumulation

Dichter an aktuellen gesellschaftlichen Wahrnehmungen befindet sich eine neue Aufmerksamkeit für das 24. Kapitel des ersten „Kapital“-Bandes, das die „sogenannte ursprüngliche Akkumulation“ behandelt.

Häufig wird es wie eine Erzählung gelesen, aus der man erfahren könne, wie das allererste Kapital – noch vor der Abpressung von Mehrwert in der Produktion und seiner Wiederanlage – entstanden sei. Das Wörtchen „sogenannte“ wurde oft übersehen. Durch seine Verwendung relativiert Marx den Begriff „ursprüngliche Akkumulation“: Dieser Terminus sei Teil einer Schöpfungslegende in der bürgerlichen Politischen Ökonomie, worin durch eine Art „Sündenfall“ eine nicht weiter erklärungsbedürftige Trennung in Reiche und Besitzlose entstanden sei. Durch die Beschreibung der Gewaltverhältnisse, unter denen dies tatsächlich geschah, treibt Marx zugleich Ideologiekritik.

Die sogenannte ursprüngliche Akkumulation darf überdies nicht als ein einmaliger, längst abgeschlossener Vorgang missverstanden werden. Rosa Luxemburgs Werk „Die Akkumulation des Kapitals“ wies bereits in eine andere Richtung. Seit den 1980er Jahren des 20. Jahrhunderts drängt sich die von David Harvey beschriebene „Akkumulation durch Enteignung“ als eine zentrale Tatsache auf, nicht nur in der Beseitigung des Staatseigentums der ehemals sozialistischen Länder, sondern auch in den Privatisierungen der altkapitalistischen Gesellschaften. Marx erzählt also nicht nur eine alte Geschichte. Das 24. Kapitel des ersten Bandes des „Kapitals“ hat im Kontext der jetzigen Reaktualisierung der Eigentumsfrage einen neuen Status der Interpretation angenommen.

Zins und Fetisch

Verständnishilfe durch aktuelle Erfahrung erfährt vielleicht sogar einer der sperrigsten Abschnitte des ganzen Werkes: „Der Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis“. Generationen haben sich daran abgearbeitet, vielleicht einen ungefähren Begriff erhalten und waren dann – zum Kummer der Vertreter der Neuen Marx-Lektüre – aber doch recht froh, wenn es anschließend relativ empirisch zuging. Der Umweg mag sich auch für ein Verständnis des Fetischs gelohnt haben. Manchmal kann Fleiß doch Genie ersetzen. Wer sich bis in den fünften Abschnitt des dritten Bandes vorgearbeitet hat, stößt im 24. Kapitel auf die Feststellung, mit dem zinstragenden Kapital erreiche „das Kapitalverhältnis seine äußerlichste und fetischartigste Form“.

In der Tat: hier wird deutlich, wie das Verhältnis von Produktionsprozess, in dem (Arbeits-)Mehrwert in Form von Geld entsteht, und der Zirkulation von Geld auf den Kopf gestellt ist, Letzteres als scheinbare Ursache des Ersteren: Produziert wird, um (entweder von Gläubigern oder von den Unternehmern als Eigenkapital) vorgeschossenes Kapital plus einen Zins plus einen darüber hinausgehenden Gewinn zu erwirtschaften – die in den Produkten verkörperte Arbeit ist die abhängige Variable des Geldes. Der Zins erscheint als von der Arbeit unabhängige Variable und als Ergebnis des Marktverhältnisses von Angebot und Nachfrage nach Kapital. Er generiert sogar eine besondere Kapital-Sorte, das fiktive Kapital. Verkörpert er sich in einem fixen Betrag, dann verringert sich dieses, wenn er steigt. Die „Kapitalisierung“ (ein von Marx verwendeter Begriff) des Zinses, die gegenläufige Beziehung von Börsenkurs und Prozentsatz der Dividende am fiktiven Kapital ist ein Fetischverhältnis im finanzmarktgetriebenen Kapitalismus. Diese Beobachtung kann es erleichtern, dem Fetischcharakter der Ware und seinem Geheimnis auch außerhalb der Zirkulation und Spekulation auf die Spur zu kommen.

Marx ist der Ansicht, dass „das zinstragende Kapital überhaupt die Mutter aller verrückten Formen ist, so dass z.B. Schulden in der Vorstellung des Bankiers als Kapital erscheinen können“. Als weiteres Beispiel hierfür sieht er die Behandlung der Arbeitskraft in den gängigen ökonomischen Auffassungen. „Ist z.B. der Arbeitslohn eines Jahrs = 50 Pfd.St. und steht der Zinsfuß auf 5%, so gilt die jährliche Arbeitskraft als gleich einem Kapital von 1000 Pfd.St. Die Verrücktheit der kapitalistischen Vorstellungsweise erreicht hier ihre Spitze, indem statt die Verwertung des Kapitals aus der Exploitation der Arbeitskraft zu erklären, umgekehrt die Produktivität der Arbeitskraft daraus erklärt wird, dass Arbeitskraft selbst dies mystische Ding, zinstragendes Kapital ist.“

So viel auch zum Verständnis des aktuellen Geredes vom „Arbeitskraftunternehmer“ und vom „Körperkapital“.

Kommunismus?

Wir sehen: Passagen, die zeitweilig etwas leblos gewirkt haben mögen, können neues Leben gewinnen. Andere dagegen sind zurzeit scheintot. Dies könnte für die da und dort eingeblendeten Ausblicke auf eine nachkapitalistische Gesellschaft, die sich im „Kapital“ finden, gelten. Aber sie wurden wohl meist ohnehin falsch verstanden (vielleicht in einem unbewachten Moment – auch einmal von Marx selbst). Im Allgemeinen jedoch gilt für sie: Wenn „[v]om Standpunkt einer höhern ökonomischen Gesellschaftsformation“ aus geurteilt wird, so befindet sich dieser nicht innerhalb einer historischen Zwangsläufigkeit, sondern außerhalb der politischen Ökonomie des Kapitals, die so entzaubert wird. „Stellen wir uns, zur Abwechslung, einen Verein freier Menschen vor, die mit gemeinschaftlichen Produktionsmitteln arbeiten und ihre vielen individuellen Arbeitskräfte selbstbewusst als eine gesellschaftliche Arbeitskraft verausgaben.“ Das ist keine kommunistische Utopie, sondern – ebenso wie die an gleicher Stelle im Fetisch-Kapitel des ersten Bandes vorgenommenen Verweise auf Robinson, den Feudalismus und die bäuerliche Familienwirtschaft – die Demaskierung einer anderen Utopie: der kapitalistischen Marktwirtschaft als einer angeblich natürlichen Ordnung. Mehr Kommunismus ist im „Kapital“ nicht enthalten – fürs Erste und gegenwärtig. Aber:Philologie ist eine solide Geisteswissenschaft, die auch für das Marx’sche Werk benötigt wird. Sie kümmert sich um eine notwendige, für Verständnis und Wirkung allerdings niemals (wie die Besseren ihrer Betreiber wissen) hinreichende Ebene: den Text. Es gibt eine andere, von der aus er immer neu erschlossen werden muss: die aktuelle zeithistorische Situation, in der er gelesen wird. Es kann angenommen werden, dass wir – oder unsere Nachfahren – in (sagen wir mal) 30 Jahren einen ganz anderen Text des „Kapitals“ wahrnehmen werden, obwohl der Wortlaut unverändert ist.

Anmerkung des Autors: Den ersten Hinweis auf Farjoun/Machover, vor Jahren, und neuerdings auf die Arbeit von Nils Fröhlich verdanke ich Ralf Blendowske.

Anmerkung der Redaktion: Dieser Essay erschien bereits in der jungen Welt Nr. 51. 2. März 2011. S. 10/11. Wir danken dem Autor für die Publikationsgenehmigung.

Von Georg Fülberth erschien im März 2011: „Das Kapital“ kompakt. Köln: PapyRossa Verlag Köln. 124 Seiten. 9,90 €.