Randgänge des Essays an feuilletonistischer Belanglosigkeit

Marina Marzia Brambilla und Maurizio Pirro haben den Band „Wege des essayistischen Schreibens im deutschsprachigen Raum (1900-1920)“ herausgegeben

Von Sebastian SchreullRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sebastian Schreull

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Traum einer Literaturwissenschaft: Dem Vorwurf der zügellosen Plauderei entraten, trennscharfe Definitionen vorlegen, die es auch dem Zoologen oder Teilchenphysiker erlaubten, endlich die Gewissheit der Wissenschaftlichkeit diesem Treiben zuzusichern. Doch ihr Objekt hat Tücken, besonders als Essay ist es ein Ärgernis: Er hat seit den Tagen Montaignes Grenzziehungen nie sonderlich genau genommen. Vielleicht hätte deshalb eine Literaturwissenschaft, die an seiner Definition scheiterte, wenig zu verlieren – letztlich könne ja Wissenschaft nicht für jeden Unfug verantwortlich gemacht werden, der ausgerechnet und irgendwie in ihrem Gegenstandsbereich lande.

Nennen wir dies mal einen Fehlschluss: Käme die Literaturwissenschaft nämlich zur eindringlichen Beschäftigung mit dem Essay, hätte sie nicht nur einen Begriff dieser Gattung vorzulegen, ginge es um ihr Wesentliches: Denn wo fängt Literatur an, wo hört sie auf? Und was wäre ihre Wissenschaft – als eine auf Wahrheit Anspruch haben wollende Tätigkeit? Was wäre eine Wissenschaft der Literatur, wenn sie nicht bestimmen könnte, ob der Essay in ihrem Gegenstandsbereich liegt oder nicht? So als ob es für den Chemiker unklar wäre, dass Brom ein Element ist oder eben nicht?

Gut, solche Diskussion lässt man besser ruhen. Arbeiten zum Essay als Gattung sind auch eher selten – die Kapitulationserklärung, dass es eben keine Definition des Essays geben könne, wird allgemein anerkannt. Daher ist es aufregend, einen neuen Sammelband vor sich zu haben, der genau jenen Zeitraum untersucht, in dem mit der Gattungsbestimmung ‚Essay‘ noch Erregung verbunden war (und der Ausspruch ‚welscher Tand‘ zumeist folgte). In dieser Gattung wurde damals im gütlichen Sinne spekulativ philosophiert, oder zumindest vermischte sich die vermeintliche Selbstbezüglichkeit des schönen Schreibens gern auch mit anderen Ansprüchen. „Wege des essayistischen Schreibens im deutschsprachigen Raum (1900-1920)“ zu untersuchen ist also dringend geboten. Und wenn nun auch noch die von diesem Sammelband behandelten Essayisten betrachtet werden: von Karl Wolfskehl bis Hugo Ball, von Hermann Broch bis Herwarth Walden – eine viel versprechende, nicht nur Wiener Melange. Die Polyphonie des Essays im frühen 20. Jahrhunderts wird würdig repräsentiert. Die Voraussetzungen für eine Gattungsbestimmung, die sich nicht in leeren Abstraktionen verliert, sind schon einmal erfüllt.

Umso beruhigender erscheint jedoch, dass die „Vorbemerkung“ Maria Marzia Brambillas und Maurizio Pirros direkt alle Hoffnung fahren lässt, eine Definition der Gattung vorzulegen. Der „damit einhergehende analytische Verlust“ soll „durch extensive Beschreibung der einzelnen Modi ausgeglichen werden, auf denen die Praxis der essayistischen Diskursführung bei jedem berücksichtigten Schriftsteller beruht“.Die Gefahr eines solchen Verlustes benennen die Herausgeber auch deutlich, dass nämlich  „die fehlende Grundlage zu einer allgemeine Geschichte des Essayismus […]  keinesfalls eine bloße Geschichte der Essayisten als Aneinanderreihung von disparaten Einzelfällen legitimieren“ dürfe. Sonst wäre allein schon fraglich, weswegen sie denn nun als Essayisten bezeichnet werden. Also muss es doch irgendwie eine Grundlage geben. Interessanterweise benennen ja die Herausgeber Allgemeines: Triftig verweisen sie auf eine bestimmte Praxisform, auf den „Hang“ der Essays Schreibenden „zum Entwurf diskursiver Antworten auf die Krise der Moderne“. Was aber dort in die Krise gezogen, warum genau in dieser Gattung die Grenzziehungen der unterschiedlichen Wissensformen wie Literatur, Philosophie oder Wissenschaft so stark verhandelt wurden, dies wäre doch ein Ausgangspunkt.

Ein Symptom dieser Krise jedoch, eine „Ansammlung von disparaten Einzelfällen“ zu stiften, wird durch diesen Sammelband nicht gebannt. Ein Gros der Beiträge übergibt nämlich die Einzelfälle den etablierten Routinen der Literaturwissenschaft: Meist historiografisch, nicht etwa begrifflich, werden hier Synopsen der jeweils behandelten Œuvres versucht. Dies geschieht meist entlang der Fragen, welche Gegenstände behandelt werden, welche biografischen Pfade hin zur Sinnstiftung vom Autor betreten, wie er in ein ideengeschichtliches Panorama der Jahrhundertwende einzutragen sei.

Andrea Pinottis „Dingsuche. Der Essayist Georg Simmel“ ist dabei eine Verdichtung des Problematischen einer solchen Vorgehensweise: Sie erwähnt emsig Titel für Titel des Œuvres, benennt etwa eingestandene und uneingestandene Schülerschaften, aber über die Konstatierung einer Wechselwirkung als Strukturmodell dieses essayistischen Schreibens geht der Text nicht hinaus. Irgendwie kommt einem das alles sehr bekannt vor.

Nur der Borniertheit des Rezensierenden, seiner gattungstheoretischen Fixiertheit wäre die Subsumtion all dieser Beiträge unter solche Routinen geschuldet. Und dort, wo feine Auslotungen am essayistischen Schreiben erfolgen, ist Nietzsche ein Knotenpunkt der Fäden dieser Gattung: Marco Rispolis Ausarbeitung zu Hofmannsthal legen das Fragmentarische als Forderung zum Dialogischen frei, „als ein menschliches Zusammenkommen“. Die Lektüre selbst wird so in ihrer Performativität wesentliches Moment dieses Literarischen. Auch Luca Zenobis „‚Herr Doktor, ich höre, Sie besteigen auch den Pegasus?’ Gottfried Benns frühe Essays“ stößt eben auf den „Perspektivismus“ des Essays als Aufhebung der wissenschaftlichen Beschränktheit.

Und Autoren werden hier wieder eingespeist, die für eine angemessene Bestimmung der Essayistik wesentlich, aber doch dem Vergessen übergeben worden sind: Joachim Gerdes wendet jene geschärften Kritiken an Stefan Zweigs Werken gegen die Kritiker selbst, während Maria Grazia Nicolosi jene Kunst der Gattungsvermischungen bei Hermann Broch untersucht. Hieran das Scheitern essentialistischer Gattungstheorien zu demonstrieren ein Naheliegendes. Und auch Ausgrabungen finden statt: Die Kuriosität von den vitalistischen Faschismuskritiken Carl Dallagos durch Maurizio Pirro eröffnet Ausblicke auf die Heterogenität des Politischen um 1900, auf jene unheilvolle Scheidungen von Natürlichkeit und Zivilisation.

Und doch: Man wird beim Durchstreifen des Bandes den Eindruck nicht los, dass die irgendwie erfolgte Markierung der Werke als Essayistische bloß Entre Billet für diesen Sammelband. Eine Darlegung, weswegen nun dieses Schreiben als Essayistisches zu bestimmen sei, vermisst man bei vielen Autoren. Und in jenen Texten, wo die Not der Abwesenheit einer allgemein anerkannten Gattungsdefinition zumindest Erwähnung findet, da wird daraus keine Tugend gemacht: Bis dato geleistete, methodologisch zueinander in Unverträglichkeit stehende Versuche in der Bestimmung werden dabei wie fixe, kriterielle Checklisten gebraucht. Dies verliert nicht den Charakter einer Pflichtübung, denn substanziell tragen sie zur Interpretation der betreffenden Werke wenig bei; in der Bestimmung der Gattung bleiben sie konfus, da sie sich auf unterschiedliche Modellierungen beziehen, die nicht ob ihrer Angemessenheit als Modellierungen betrachtet werden.

Und dann sind da noch solche Aufsätze zu nennen, die sich einer Modellierung verpflichtet haben. Ihnen wird die Grenzverletzung des Essays zum Ausweis eines besonderes Typs der Erfahrung oder Erkenntnis, der dem Wissenschaftlichen oder systematisch Philosophischen längst entglitten sei. Sie lassen dem alten Ressentiment gegen das Essay ein bisschen Wahrheit widerfahren, dass mit begrifflichen Mitteln etwas dort versucht werde, was freilich der Kunst vorbehalten sei. Die untersuchten Werke werden so ‚Rettungskapseln‘ gegen eine immer noch im Verfall begriffene Gesellschaft, die „die Einbildungskraft tötet und auf diese Weise dem modernen Menschen jede Möglichkeit entzieht, sich gegen die durch die Informationsorgane manipulierte Wirklichkeit zu wehren“. Solche Sätze bürden der Autorin freilich eine gewaltige Bringschuld auf: Irgendwie darf sie nicht zu jener Spezies des modernen Menschen zählen. Mag sein, dass ein Mittel dazu die besondere Lektüre ist. Roberta Bergamaschis „Karl Kraus und das frühe 20. Jahrhundert“ mutet auch dem Untersuchten nicht wenig zu: Bei Kraus werde die Sprache zu etwas anderem als dem üblichen Gerede, dem die „Beziehung zur absoluten Wahrheit, zum kulturellen Ursprung“ längst verloren gegangen sei: „Um die Wörter aus bedeutungsleeren Syntagmen zu befreien und ihnen Sinntiefe und evokative Macht zurückzugeben, […], versucht Kraus die interne Syntax der Phrasen aufzulösen – in der Hoffnung, ein neues sprachliches System und damit auch eine neue Welt aufzubauen“.

Scherze à la ‚Weltrettung und Österreicher sind keine gute Mischung‘ bleiben auch trotz solcher Vorlagen deplatziert. Wer das Sprechen der von Kraus wie auch immer zu Recht Kritisierten als außerhalb der absoluten Wahrheit denkt, der hat nicht nur einen dogmatisch-religiösen Begriff der (absoluten) Wahrheit, sondern verfrachtet Kraus in ein Jenseits von gesellschaftlichen Auseinandersetzungen, so dass er als Einzelner an einem neuen sprachlichen System basteln darf. Und sind ein bisschen Montage und Zitatismus schon die Auflösung der „interne[n] Syntax der Phrasen“ hin zu einer „evokative[n] Macht“? Es kann ja nicht nur die Irritation gewisser Gebräuche des Sprechens sein, nein, es muss hier anscheinend ein Sprachbegriff investiert werden, der der Gipfel des vermeintlich kritisierten Instrumentalismus ist: Indem Kraus nach Bergamaschi „des Lebens wahres Gesicht enthüllt“, ist er keiner mehr, der um den angemessenen Ausdruck ringt, missverstanden werden könnte oder missversteht. Kraus wird zum alles durchschauenden, weit über den Niederungen des gegenwärtigen Sprechens schwebender Heros – oder aber durch ihn spricht die ‚wahre‘ Sprache. Solche Figuren wollen wir mythischen Erzählungen oder Stipendiumsanträgen vorbehalten.

Ja, was war das frühe 20. Jahrhundert doch reich an „unerreichte[n] Meister[n]“! Milena Massalongo verfertigt in ihrem Ausatz „Kritisches Schreiben als ‚historisches Experiment’. Walter Benjamins ‚esoterisches Essay‘“ wieder einmal jenen Theoretiker zu einem theologischen Zwerg. Darstellung und Form eben nicht als Beiwerk oder Hülle zu denken, sei Agenda der Benjamin’schen Sprachphilosophie, argumentiert die Autorin, was ein treffliches Beginnen ist. Ein rechter Ausweg aus dem zugegeben kryptischen Traktat „Über die Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen“ will Massalongo nicht gelingen.

Benjamins Insistieren darauf, dass „wenn im folgenden das Wesen der Sprache auf Grund der ersten Genesiskapitel betrachtet wird, so soll damit weder Bibelinterpretation als Zweck verfolgt noch auch die Bibel an dieser Stelle als offenbarte Wahrheit dem Nachdenken zugrunde gelegt werden“, bleibt doch ungehört. Zwar erkennt sie an, dass die Genesis hier nur als Modell für etwas gebraucht wird – aber nicht etwa, um die Medialität der Sprache begrifflich zu entfalten, sondern „weil wir die theologische Dimension als Erlebnis, d.h. ganz und gar untheologisch, ausschließlich modern verstehen können, nicht mehr als Erfahrung“. Damit ist aber dieses Traktat als offenbarte Wahrheit gelesen.

Und so ‚lebt’ nach der Autorin etwas in dieser Textform, was die Aufklärung abgetragen hätte. Benjamins Diktum„Es gibt keine Verfallszeiten“ ist hier wirkuungslos, sein Denken der Historizität gerät in Massalongos Deutung ins metaphysisch Delirierende: „Wer nicht auf seinen Stil achtet, der hinterlässt Spuren, die zu unbewussten ‚Erkenntnisverbrechen’ führen: Sie werden erst in einem anderen Zusammenhang, in einem anderen Zeitalter erkennbar.“

Nein, so leicht kommt die Autorin nicht davon. Im Schreiben über Benjamin haben sich gewisse ‚Erkenntnisverbrechen’ etabliert. Sie bestehen meist darin, die Sprünge Benjamins noch überbieten zu wollen, so dass die Präsuppositionen der eigenen Deutungen gar nicht mehr befragt werden. Und genau dies, das Irritieren des Gesetzten, sei ja Anspruch des Traktats nach Benjamin. Man sieht, wie es auf die Lektüre als seine Einlösung verwiesen ist.

Soll der einen der Essay noch die theologische Erfahrung bewahren, so muss dem anderen eine wind- und wetterfeste Flaschenpost draus werden – Markus Ophälders Beitrag „Der Essay als Form im Schaffen des jungen Lukács“ wartet mit der Gattungsbestimmung auf, dass die Vertracktheit, die Assoziativität des Essays eine konter-konterrevolutionäre Maßnahme zur Bewahrung des richtigen Lebens sei: „Wie alles wahrhaft Lebendige in der falschen Welt hätte es keine Möglichkeit zu überleben und deshalb wird es versteckt.“

Ophälder bleibt zwar die Darlegung schuldig, was denn nun das Lebendige sei, aber es muss sich wohl um ein Unentfremdetes handeln. Nur folgerichtig also, wenn er gegen Theodor W. Adornos Unterscheidung von Kunst und Philosophie ihre Vereinigung nicht nur fordert, sondern das Ticket des romantischen Projekts löst. Auch wenn Ophälder hier jenseits der Grenzen denkt, die von ihm herausgestellten Ähnlichkeiten oder Mischungen von Philosophie und Literatur lassen nicht den Schluss zu, dass es nicht auch sinnvoll ist, ein Erzählen der geschichtlichen Wirklichkeit von einem Interpretieren der wirklichen Geschichte zu unterscheiden. Denn die ausstehende Begründung, weswegen Kunst wie Philosophie der gleiche Anspruch auf Wahrheit eine, bleibt aus. Genau dort müsste jedoch eine Gattungsbestimmung des Essays anfangen, die weder durch die sterile Scheidung von Fiktivem und Faktischen, noch durch die Auflösung des Begrifflichen zu erwirken ist.

Aber Ophälders Beitrag reißt es zumindest an, was ein untergründiges Versprechen des Sammelbandes war. „[E]xtensive Beschreibungen der einzelnen Modi“ als einzelne Fäden der Gattung hält man gewiss in den Händen. Und inwieweit methodologisch der Frage Vorrang gebührt, ob eine Gattungsbestimmung zu leisten ist, um triftig über deren Momente zu sprechen, so findet sich dies widerlegt, desgleichen bestätigt. Aber eines ist gewiss Verdienst des Bandes: Die Gegenstände der Essayistik in ihrer Vielheit zu situieren. Die Aufgabe intensiver Bestimmungen ist damit noch ausstehend.

Titelbild

Marina Marzia Brambilla / Maurizio Pirro (Hg.): Wege des essayistischen Schreibens im deutschsprachigen Raum (1900-1920).
Rodopi Verlag, Amsterdam 2010.
442 Seiten, 88,00 EUR.
ISBN-13: 9789042028616

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