Dekonstruktion als Politik

Susanne Lüdemanns Einführung sucht nach dem lebensweltlichen Jacques Derrida

Von Simone HirmerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Simone Hirmer und Stefan SchukowskiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Schukowski

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jacques Derrida auf dem Titelfoto, staunend, bewegt, womöglich in hitzigen Diskussionen. Mit einem Schnappschuss beginnt die neue Monografie „Derrida zur Einführung“ des Junius Verlags, bei dem zuvor 23 Jahre lang Heinz Kimmerle den Erfinder der Dekonstruktion vorgestellt hatte – dort war Derrida als Schöngeist in affektierter George-Pose zu sehen.

Kein Professor, sondern ein junger Wilder – das passt nun zu Susanne Lüdemanns Vorhaben, einen der Welt zugewandten Denker vorzustellen, der von seiner ersten Zeile an politisch war. Dies herauszustellen ist immer noch nötig, wurde und wird Derrida doch verkürzend als Denker der différance wahrgenommen, dessen Überlegungen bestenfalls die akademische Literaturwissenschaft, Linguistik oder innerdisziplinäre Philosophen-Streitigkeiten beträfen.

Lüdemann nun bemüht sich für ihr Ziel auch um die späteren und späten Texte, die sich auf unübersehbar lebensweltliche Themen verlagern und mit Gerechtigkeit und Freundschaft beschäftigen, und dann, geprägt von den Eindrücken des 11. Septembers 2001 und den ‚Anti‘-Terror-Reaktionen, mit Demokratie, Globalisierung und Kosmopolitismus.

Allerdings war sich bereits Kimmerle der politischen Implikationen schon des frühen Derrida durchaus bewusst – was außer einem Politikum sollte die Dekonstruktion all der Ethno-, Logo-, Andro- etc. zentrismen denn sein? –, wie auch der verkürzenden Rezeption zumal in Deutschland. Auch seine „Einführung“ nimmt all die Texte wahr, die anderswo als Marginalien der ‚Kerndekonstruktion‘ betrachtet wurden. Acht Neuauflagen waren seit 1988 nötig, um Derridas Arbeiten aktualisierend weiter zu verfolgen. Studierende hatten damit ein solides wie also stets aktuelles Kompendium zur Hand – mit dem einzigen ,Fehler‘, den Kompendien haben: die Kürze ihrer Ausführungen.

Kimmerle hat diesbezüglich im Vorwort zur letzten Auflage selbst Kritik formuliert – und der Junius Verlag zog mit Lüdemann die Konsequenzen: Mehr Platz für den späten Derrida; außerdem sollte neben dem Titelbild der gesamte Zugang verjüngt werden, was nichts anderes heißt, als sich der mit der Bachelorisierung veränderten Gattung der Einführung (à la „Für Ihren sicheren Studienerfolg“) anzupassen.

Und ein wenig catchy sollte es auch sein. Lüdemann verzichtet etwa in ihrem Aufbau auf die herkömmliche Systematik und unterteilt ihre „Einführung“ stattdessen in vier „Zugänge“. Das lockt mit einer vervierfachten Chance auf Verstehen der schwierigen Materie.

Ein an die gehobene Alltagssprache angelehnter Stil macht denn auch im Vorwort hoffen, dass der der Nachvollziehbarkeit oft abträgliche akademische Duktus (wie er auch Kimmerle zuweilen eigen war) endlich Geschichte ist. So beginnt Lüdemann mit nicht weniger als einem Donnerhall: „Es ist meine eigene Interpretation, wenn ich dieses ,Worumwillen‘ der Dekonstruktion als den Versuch beschreibe, eine verantwortliche Form des Philosophierens ,nach Auschwitz‘ zu finden.“ Zu solch hilfreichem Klartext findet die Autorin jedoch erst wieder in ihrem letzten Teil, dem vierten Zugang, zurück. Dazwischen wird sie den geweckten Erwartungen nicht gerecht.

Das Kernproblem mit vielen Folgemängeln ist ein methodisches: Sie muss, so lautet ihr Auftrag, in Derridas Denken einführen. Sie will aber bezüglich ihrer Materie weder gewichten noch (aus-)sortieren noch sonst eine der von Derrida als brachial entlarvten Gesten ausführen. Und gleich eingangs – und immer wieder – bekundet sie die, sensu Derrida, Unmöglichkeit des Kommentars.

Eine zündende Idee für eine alternative Vermittlungsart jedoch fehlt Lüdemann, was sich nicht zuletzt darin zeigt, dass sie, auch um nicht hinter der Mehrfachberedtheit von Derridas Worten zurückzubleiben, wie Derrida selbst schreibt. Benutzerfreundlich ist das nicht: Um diese Textstellen verstehen zu können, muss der Einzuführende bereits verstanden haben.

Lüdemann will vor allem keinen ,Anfang‘ definieren: Was Derridas Denken selbst betrifft, ist eine solche Ursprungsbestimmung tatsächlich verzichtbar bis unerwünscht. Was dagegen nach der Setzung eines Anfangs verlangt, sind der Akt des Verständlichmachens wie die logikbasierte Form der Erklärung. So aber streift der erste Zugang „Generationen, Genealogien, Übersetzungen und Kontexte“ Hegel, Husserl, Heidegger, Marx, Nietzsche und Freud – subsumiert unter dem Label „Kränkung der menschlichen Eigenliebe“ –, ohne Befunde funktionalisieren zu können. Daher findet man Derrida auch nicht wieder in diesem Sammelsurium sich netzartig ausbreitender Voraussetzungen und Bezüge.

Über Saussure, der diesen Kränkungen eine „Sprachkrise“ hinzufügte, gelangt Lüdemann zur „Grammatologie“ und damit zum zweiten Zugang. Dieser baut auf den ersten Zugang auf und ist – wider die gesteckten Erwartungen – kein eigenständiger Weg zu Derridas Denken. Nun kreist Lüdemann um „[d]ie Metaphysik der Präsenz und die Dekonstruktion des Logozentrismus“, und die windschiefe Systematik korrespondiert mit verwirbelten Ausführungen. Immerhin aber sind zuletzt alle bekannten Begriffe und Figuren der „Grammatologie“, von logos bis différance, angesprochen.

Auch der dritte Zugang stützt sich auf das Vorhergehende; à la manière derridienne sagt/fragt Lüdemann dort: „Es gibt – Undekonstruierbares (gibt es)?“. Dieser Teil ist als Hilfe gedacht, um Derridas spätere und späte Texte als Fortsetzung oder Konsequenz seines bisherigen Denkens und nicht als Bruch, gar als presentic turn, verstehen zu müssen. Allerdings kumulieren hier die Mängel.

Wenn Lüdemann Denkfiguren Derridas der 1990er-Jahre wie ‚Gerechtigkeit’, ‚Gabe‘, und ‚Gastfreundschaft‘ beschreibt, unterbricht sie Ausführungen für Voraussetzungen und diese für Vor-Voraussetzungen, ohne jeden begonnenen Gedankengang zu Ende zu führen. Bezugnehmend auf Formulierungen Derridas in Gesetzeskraft wie „Die Dekonstruktion ist die Gerechtigkeit“ und seine Rede von der „Unmöglichkeit einer Dekonstruktion der Gerechtigkeit“ sollte gleichzeitig die Diskussion über eine metaphysische Wende Derridas sowohl nachvollzogen als auch entkräftet werden. Nachdem aber Lüdemann auf (die in ihren Augen) falsche Fährte gelockt hat, fehlen ihr die Mittel – etwa Texte, in denen Derrida sich erklärt –, den Leser zurück auf die gewünschte Spur zu bringen. Rhetorisch geschickter und für eine Einführung ausreichend wäre eine allgemeinere Skizze von Derridas ,Arbeitsgebiet‘ gewesen: Er setzt seinen dekonstruierenden Blick vor allem dort ein, wo folgenreich Wertgegensätze konstruiert worden sind; er greift nur dort an, wo Konzepte Verdrängung und Gewalt produzieren. Weniger Problematisches lässt er undekonstruiert, neben zahlreichen anderen Begriffen etwa die,Gerechtigkeit’, womit in seinem Denken abstrakt die Bedingung der Möglichkeit von Recht(ssprechung) gemeint ist. Er sieht in ihr sogar Potential bezüglich einer Problemminimierung: Da er sie an die irreduzible Singularität des Einzelnen koppelt, kann die Gerechtigkeit zwar nie erreicht werden – als Leitidee verwendet könne sie aber dabei helfen, nur den geringstmöglichen Schaden anzurichten.

Als überaus gelungener Teil dieser „Einführung“ überrascht dann der vierte Zugang, „Dekonstruktion und Demokratie“. Ihre Ankündigung, dem politischen Derrida Raum zu geben, löst Lüdemann anhand der dezidiert politischen Schriften nun tatsächlich ein. Sie leistet eine verständliche Zusammenfassung, die der Komplexität der behandelten Texte angemessen ist. Die Argumentation nimmt an Fahrt auf, und ein wirkliches Lesevergnügen ist ihr Unterkapitel „Jenseits der Brüderlichkeit (Politiken der Freundschaft)“.

Lüdemann präsentiert eine zweite Leitidee Derridas: Demokratie. Sie hängt zusammen mit der Gerechtigkeit und ist ebenso geeignet für die Zukunftsplanung. Als ,Herrschaft‘ aller hat auch Demokratie das Potential, dem Einzelnen möglichst wenig Schaden zuzufügen. In ihrer bestehenden Konzeption allerdings dekonstruiert er sie: Der demokratische Bruderbund ist weniger natürlich, als er sich gibt. Vielmehr ist ,Brüderlichkeit‘ eine die Demokratie naturalisierende Basismetapher, die politisch hergestellt wird – Basis der Politik ist selbst schon Politik, also menschengemacht. Zudem arbeitet Derrida, entgegen der Vorstellung von Demokratie als inkludierender Verbrüderung aller, ihre gleichzeitig fundamental exkludierende Seite heraus: Frauen, Schwestern, Fremde dürfen nicht partizipieren.

Eine ,zu kommende Demokratie‘ (une démocratie à venir), wie Derrida sie sich wünscht, schlösse dagegen – anstatt nur den Bruder, den Freund, den Ähnlichen – jede und jeden „Erstbeste(n)“ ein. Hiervon ausgehend und die ,zu kommende Demokratie‘ weiterdenkend, stellt Derrida als Zukunftsprojekt eine „Mondialisierung“ in Aussicht (entgegen einer auf europäisch-‚westliche‘ Werte ausgerichteten „Globalisierung“). Sie hat das Ziel „einer über die Grenzen des Staates und der Nation hinausgehenden Universalisierung, die nichts anderes universalisiert als die Berücksichtigung der namenlosen und irreduziblen Singularität des Einzelnen“ („Philosophie in Zeiten des Terrors“).

Haben nun die Einzuführenden nach der Lektüre verstanden, weshalb das Worumwillen der Dekonstruktion als „verantwortliche Form des Philosophierens ,nach Auschwitz‘“ beschrieben werden kann? Kaum. Dazu hebt Lüdemann in den ersten drei Zugängen zu wenig den Zusammenhang zwischen hierarchisch-binär codierten Oppositionen des abendländischen Denksystems und ihren Folgen in der Lebenswelt hervor. Und auch im vierten Zugang, so gelungen er ist, findet Lüdemann wenige eindringliche Beispiele – sie scheint vielmehr einen Hinweis auf Guantánamo oder die Assimilation der Juden geradezu vermeiden zu wollen.

Es bleibt die Frage: Was ist eine Einführung und was soll sie leisten?

So viele Vorbehalte gegen vereinnahmende oder beschneidende Gesten Lüdemann zu Recht hegt, sie hätte doch eines tun sollen: Das Karussell einmal kurz anhalten und den Einzuführenden einsteigen lassen. Wo sich Kimmerle gewissen Sachzwängen des Einführens beugte und einen (von mehreren möglichen) Mittelwegen fand, wird Lüdemann durch ihren Respekt vor Derridas Texten schlicht handlungsunfähig.

Eine Einführung muss nicht mehr und nicht weniger tun, als sich möglichst schnell überflüssig zu machen. Diese hier aber ist, was das Verstehenmachen betrifft – und um ebenfalls mit Derrida zu sprechen –: ein performierter Aufschub.

Titelbild

Susanne Lüdemann: Jacques Derrida. Zur Einführung.
Junius Verlag, Hamburg 2011.
200 Seiten, 13,90 EUR.
ISBN-13: 9783885066866

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