Leben und Erleben

Philipp Lersch schrieb als ein Zeitgenosse über die Lebensphilosophie

Von Stefan DiebitzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Diebitz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Für Georg Simmel und andere große Denker in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts war der Begriff des Lebens noch zentral, aber seitdem haben sich die Umstände verändert, und die Lebensphilosophie ist heute ähnlich gründlich vergessen wie der ihr folgende Existentialismus. Die Tendenzen der aktuellen Philosophie stehen sowohl ihren Themen als auch ihren Methoden strikt entgegen. Eine Neuedition der Arbeiten Philipp Lerschs, in denen dieser kritisch und sehr sachverständig als ihr Zeitgenosse und Sympathisant die Lebensphilosophie vorstellt, kommt also wohl zur rechten Zeit.

Lersch, 1898 geboren, promovierte als Literarhistoriker und hatte später Lehrstühle für Psychologie in Breslau, Leipzig und München inne. Er vertrat keine eigenständige Philosophie, sondern seine bedeutendsten Leistungen liegen auf dem Gebiet der Ausdrucksforschung („Gesicht und Seele. Grundlinien einer mimischen Diagnostik“, 1932) und der Psychologie („Der Aufbau des Charakters“, 1938, in späteren Auflagen „Der Aufbau der Person“). Seine eigene Ausdrucksforschung erklärt die Sympathie für die Lebensphilosophie und insbesondere das Interesse an Ludwig Klages, dem bis heute wohl bedeutendsten Ausdruckstheoretiker. In den vier unter dem Titel „Erlebnishorizonte“ zusammengefassten Schriften zeigt sich Lersch als kompetenter zeitgenössischer Historiker der Lebensphilosophie, dem das Kunststück gelingt, fast unmittelbar nach der Veröffentlichung dieses Riesenwerks eine sachlich fundierte Kritik von „Der Geist als Widersacher der Seele“ vorzulegen.

Zu dem Zeitpunkt dieser jetzt wieder vorgelegten Schriften gab es als Gesamtdarstellung der Lebensphilosophie allein die Polemik Heinrich Rickerts („Philosophie des Lebens“, 1920), in der Klages oder Spengler überhaupt noch nicht vorkommen, so dass Lersch in jedem Fall, als er die Lebensphilosophie vorstellte, eigene Wege bestreiten musste.

Der 197 Seiten starke, von Thomas Rolf zusammengestellte und kenntnisreich eingeleitete Band fasst vier Schriften zusammen. Die umfangreichste erschien bereits 1932, der letzte Text ist Lerschs Leipziger Antrittsvorlesung aus dem Jahr 1941.

„Lebensphilosophie der Gegenwart“ von 1932 erschien in der Reihe „Philosophische Forschungsberichte“ im Verlag Junker & Dünnhaupt als deren 14. Band. In dieser Arbeit, der ausführlichsten der Sammlung, stellt Lersch mit Henri Bergson, Georg Simmel, Wilhelm Dilthey, Oswald Spengler und Ludwig Klages unter Hinweis auf den ihm zur Verfügung stehenden Raum lediglich fünf Denker vor. Der heute meist beachtete Autor aus dieser Reihe ist wohl Georg Simmel, bei dem der Fokus allerdings mehr auf seinen soziologischen Arbeiten und seiner „Philosophie des Geldes“ liegt. Für Lersch ist nicht „Das individuelle Gesetz“ die zentrale lebensphilosophische Arbeit Simmels, sondern das Rembrandt-Buch von 1916, das heute weniger Beachtung findet.

Besondere Bedeutung kommt dem letzten Kapitel über Klages zu, dessen „Geist als Widersacher der Seele“ Lersch bereits 1931, also noch vor Abschluss des Werkes, zu einer umfangreichen und sorgfältigen, ebenfalls in diesen Band aufgenommenen Rezension veranlasste. Es ist erstaunlich und sogar bewundernswert, dass Lersch das fünfbändige, in Kreisen der Universitätsphilosophie häufig unbeachtete oder auch ungerecht behandelte Werk so nah an dem Erscheinen der ersten Bände überhaupt in seinen Grundlinien nachzuzeichnen vermochte. Allerdings scheint ihm der fünfte Band mit der Geschichtsphilosophie („Das Weltbild des Pelasgertums“) noch nicht vorgelegen zu haben. Das Schwergewicht seiner Darstellung liegt ganz auf der Darstellung von Klages’ Theorie von Schauung und Anschauung.

Die Darstellungen der Klage’schen Philosophie in Rezension und Forschungsbericht überschneiden sich nur an ganz wenigen Stellen. Lersch trägt zwar dieselbe Kritik an Klages vor, wählt aber andere Formulierungen, so dass sich beide Darstellungen sehr gut nacheinander lesen lassen. Als entschiedener Gegner des Sensualismus eines John Locke und seiner Nachfolger betont Lersch als den zentralen Gedanken der Lebensphilosophie das Ineinander von Seele und Welt. Er sieht das Ich also nicht in einem „Ego-Tunnel“ gefangen, sondern setzt ganz im Gegenteil eine fundamentale Transzendenz der Seele voraus: sie ist immer schon bei der Welt, ein Aspekt, den auch der von Lersch zitierte Nicolai Hartmann gleich eingangs seiner 1921 erschienenen „Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis“ betonte. Hartmann, beileibe kein Lebensphilosoph, stand wie Ernst Cassirer oder Max Scheler dieser Richtung und insbesondere Ludwig Klages gleichwohl wesentlich näher als die meisten der heutigen Universitätsphilosophen. Bewusstseinstheoretiker dagegen, die naturalistisch argumentieren und ihre Inspiration von der Hirnforschung erfahren, stehen dem Erleben als dem zentralen Begriff des Klage’schen Werkes und überhaupt der Lebensphilosophie vollkommen verständnislos gegenüber.

Lersch begnügt sich nirgendwo mit einem bloßen Referat der philosophischen Positionen, sondern nimmt jederzeit entschieden Partei und kritisiert etwa Oswald Spengler scharf. Auch Klages kommt nicht ungeschoren davon, doch ist die Stellungsnahme von Lersch hier sehr differenziert. Er arbeitet die Nähe der Klage’schen Philosophie zur Mystik heraus, betont den erstaunlichen Gedankenreichtum des Werkes und macht auf einen Widerspruch an entscheidender Stelle aufmerksam. Klages wende, so Lersch, „auf die Erklärung des Lebens und Erlebens Kategorien“ an, „die nach seinen Voraussetzungen Kategorien des Geistes und nicht des Lebens sind. So bietet bei Klages zuweilen der Intellekt das Schauspiel dessen, der über seinen eigenen Schatten zu springen versucht.“ In der Rezension, veröffentlicht in den „Blättern für deutsche Philosophie“, hatte es noch in dem akademischen Jargon jener Jahre geheißen: „Die Auffassung jedoch, der Bewußtseinsakt, durch den die rein vitalen Widerfahrnisse in das Licht des Bewußtseins gehoben werden, erfolge schlechthin zeitlos, enthält ohne Frage eine logische Schwierigkeit. Wenn Klages […] vom Auffassungsakte als einem ‚Ereignis‘ spricht, so hat er den Begriff der Zeit schon kategorial angewendet.“

Zeigt sich Lersch in den ersten der hier versammelten Schriften noch ganz unter dem Eindruck Nicolai Hartmanns und Max Schelers, so steht seine Argumentation in der letzten Arbeit mehr im Zeichen von Karl Jaspers, mit dessen Zitat er schließt, und von Martin Heidegger, dessen „Sein und Zeit“ er als anthropologische Schrift liest. Scheler und Hartmann hält er jetzt vor, Seele und Geist zu schroff voneinander zu trennen und damit die „Ganzheit des menschlichen Seins wieder [zu] zerschlagen“. Diese Akzentverschiebung wirft ein Schlaglicht auf den Wandel, den die deutsche Philosophie in jenen Jahren nahm.

Der sehr sorgfältig edierte Band enthält nicht allein Referate fremder Werke und deren Kritik, sondern auch eigene Gedanken von Lersch, der ein eigenständiger Kopf und damit mehr als bloß ein Philosophiehistoriker gewesen ist.

Philipp Lersch: Erlebnishorizonte. Schriften zur Lebensphilosophie.

Titelbild

Philipp Lersch: Erlebnishorizonte. Schriften zur Lebensphilosophie.
Herausgegeben von Thomas Rolf.
Albunea Verlag e.K., München 2011.
197 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783937656144

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