Das Gespenst des Surrealismus

Der Tagungsband „Surrealismus in der deutschsprachigen Literatur“ sucht nach surrealistischen Spuren in der deutschsprachigen Literatur

Von Isabel FischerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Isabel Fischer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Gespenst ist etwas, das gleichzeitig an- und abwesend ist. Es lässt sich nie direkt fassen, sondern nur durch die Spuren, die es hinterlässt, erahnen. Ähnlich verhält es sich mit dem Surrealismus in der deutschsprachigen Literatur. Im Grunde ist man sich einig, dass es dort nie etwas dem Surrealismus Vergleichbares gegeben habe. Dennoch herrschen Zweifel darüber, dass eine so bedeutende künstlerische Bewegung an der deutschsprachigen Literatur spurenlos vorbeigegangen sein soll.

Der von Friederike Reents herausgegebene Tagungsband versucht diese Annahme kritisch zu hinterfragen. Dem Verhältnis der deutschsprachigen Literatur zum Surrealismus gehen die Beiträge auf drei verschiedenen Ebenen nach.

(1) Ein Teil der Beiträge analysiert die direkte Rezeption des Surrealismus, etwa in den Werken Gottfried Benns, Heiner Müllers oder Ror Wolfs. (2) Ein anderer Teil sucht nach möglichen deutschen Quellen für den Surrealismus und diskutiert dabei insbesondere das Erbe der Romantik und Friedrich Nietzsches. (3) Ein weiterer Teil fragt, inwiefern sich in der deutschsprachigen Literatur analoge Entwicklungen finden lassen. In den Blick geraten dabei unter anderem Iwan Golls Konzept des „Überrealismus“ sowie Elisabeth Langgässers „Supranaturalismus“.

So verschieden die in den einzelnen Beiträgen behandelten Texte in historischer, stilistischer und politischer Hinsicht sind, so verschieden sind auch die Antworten. Dennoch treffen sie sich gewissermaßen in einem „Jein“, das den Surrealismus als anwesend und abwesend zugleich begreift. Er erscheint so tatsächlich als Gespenst, das durch die deutsche Literatur geistert, ohne wirklich greifbar zu sein.

Der Band ist das Ergebnis der internationalen Tagung „Au-delà de la peinture. Surrealismus in der deutschsprachigen Literatur?“, die als Kooperation zwischen dem germanistischem Seminar der Universität Heidelberg und dem Deutschen Literaturarchiv in Marbach am 4. und 5. Juli 2008 stattfand. Das Fragezeichen des Tagungstitels fehlt beim Titel der Publikation, was den Eindruck erzeugt, die Frage wäre nun beantwortet. Eine endgültige Antwort – das machen die Autoren der Beiträge selbst klar – gibt das Buch aber nicht. Es eröffnet vielmehr eine Debatte, die bislang, obwohl sie es wert wäre, noch nicht geführt wurde und liefert somit wichtige Anknüpfungspunkte für eine weitere Diskussion.

Doch nicht jeder Aufsatz des Bandes hat das Potential, weiterverfolgt zu werden. So gibt der Beitrag des Surrealismusspezialisten Werner Spieß zwar viele Details surrealistischer Techniken in Frankreich wieder, behandelt aber das eigentliche Thema nur am Rande und leistet somit eher eine Zusammenfassung seiner bekannten Publikationen. Ähnlich verhält es sich mit Christian Schärfs Beitrag zum Erotischen des Surrealismus, der zwar spannende Thesen zu Andé Bretons Roman „Nadja“ enthält, die eigentliche Fragestellung der Tagung aber verfehlt.

Überzeugend sind vor allem diejenigen Beiträge, die anhand von konkreter Textarbeit das Verhältnis der deutschen Literatur zum Surrealismus untersuchen. So arbeitet Friederike Reents in ihrer detaillierten Analyse Benn’scher Texte pointiert Analogien und Bezüge zu Bretons Theorie der Écriture automatique heraus. Und Gregor Streim hinterfragt überzeugend das komplizierte (bislang nicht beachtete) Verhältnis von romantischen und surrealistischen Ideen in der Literatur des Dritten Reiches und der Nachkriegszeit.

Anders verhält es sich mit den Beiträgen, die sich mit der allgemeinen Frage nach Epochengrenzen sowie nationalen Besonderheiten und Transfers auseinandersetzen. Die Ausführungen hierzu sind an vielen Stellen – mangels Textanalysen – zu oberflächlich geraten. Ärgerlich ist darüber hinaus, dass die Autoren hierbei oft in eine mystische Sprache verfallen und dem Surrealismus die Aura des Numinosen verleihen.

So ist die Rede von surrealistischen Stimmungen und Energien, und an die Stelle des surrealistischen Gespenstes tritt der Geist Martin Heideggers. Daraus resultiert ein zu pathetischer Zugang zum Thema: Etwa, wenn Hans Ulrich Gumbrecht den „Wesenskern des Surrealismus“ durch das Weiterleben der Philosophie des späten Heidegger vor dem „Erkalten“ beschützen will oder Christian Schärf das Surrealistische in der gegenwärtigen Philosophie als Gegenentwurf zur „Bleiwüste des Positivismus“ stilisiert.

Mitgrund für die Verwendung solchen Vokabulars ist der beständige Rekurs auf Walter Benjamins „Sürrealismus“-Aufsatz von 1929. In diesem ist die Rede von einem „Energiegefälle“ zwischen dem französischen Surrealismus und der zeitgenössischen deutschen Literatur. So wichtig Benjamin Ausführungen zu diesem Thema auch sind, wäre es für die gegenwärtigen Erforschung des Themas angebrachter, eine zeitgemäße, nüchterne und präzisere Sprache zu finden und eine Vermischung von wissenschaftlicher und künstlerischer Ebene zu vermeiden.

Auch wenn man sich an einigen Stellen wünschen würde, dass der Komplex „Surrealismus und deutschsprachige Literatur“ sowohl hinsichtlich der historischen Einordnung als auch stilistisch differenzierter behandelt würde als es in dem Tagungsband geschieht, leistet er der Wissenschaft dennoch einen großen Dienst. Er zeigt einmal mehr, dass es sich lohnt, in der Literaturwissenschaft die gängigen Fragestellungen zu erweitern und seinen Blick auf bislang unbeachtete Gebiete zu lenken. Zu dem Verhältnis von Surrealismus und deutschsprachiger Literatur ist damit noch nicht das letzte Wort gesprochen – und das ist auch gut so!

Titelbild

Friederike Reents (Hg.): Surrealismus in der deutschsprachigen Literatur.
De Gruyter, Berlin 2009.
301 Seiten, 99,95 EUR.
ISBN-13: 9783110213669

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