Kunos Schwärmen für Heiland, Hannchen und Hitler.

Andreas F. Kelletat erzählt in seinem dokumentarisch-biografischen Bericht „Von Ihm zu Ihm“ als Roman die Bekenntnisse eines ostpreußischen Baptistensohns

Von Norbert MecklenburgRSS-Newsfeed neuer Artikel von Norbert Mecklenburg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Von Ihm zu ihm“ ist ein ebenso interessanter wie anrührender Spätling in der Reihe der ‚Väter-Bücher‘, also jener literarischen Abrechnungen mit den Tätern und Mitläufern der Nazizeit aus der Sicht ihrer Nachkriegskinder. Das waren einst Elisabeth Plessens „Mitteilung an den Adel“ und Bernward Vespers „Die Reise“, Ruth Rehmanns „Der Mann auf der Kanzel“ und Christoph Meckels „Über meinen Vater“. Heute gibt es eine neue, post-postmoderne Welle von ‚Generationenromanen‘, in denen Vergangenheit entsorgt und die Nazi-Großväter gegenüber den Apo-Vätern schamlos gehätschelt werden. Was macht nun dieses Vater-Buch eines Autors des Jahrgangs 1954 mit seinen fast 400 Seiten nicht nur interessant, sondern auch anrührend? Antwort: Seine individuelle Trauerarbeit als unverkürzte Abrechnung des Sohnes mit dem Vater ist in eine sorgfältige, ja liebevolle Recherche eingebettet, und diese wird von Verstehensbereitschaft, ja Empathie begleitet, die sich auch auf den Leser zu übertragen vermag.

Interessant ist dieser dokumentarisch-biografische Bericht über die Jahre von 1934 bis 1939, ein halbes Jahrzehnt Königsberger und ostpreußischer Vorkriegs-Jugend, vor allem als mentalitätsgeschichtliche Mikrostudie. Sie gilt dem Weg des jungen Kuno Sottkowski aus der Christen- in die Volksgemeinschaft. Gezeigt wird der Umbau eines religiös in einen völkisch Erweckten: Der Junge träumt sich, baptistisch erzogen, als Missionar nach Afrika; der junge Mann giert, zum glühenden Hitler-Verehrer geworden, nach Soldatentum. Genau das besagt der Titel: Kuno wendet sich „von Ihm zu ihm“, von seinem Gott und Heiland zu seinem Führer als neuem Messias. Daneben ergeht sich sein Jünglingsglühen in Produktion von geistlicher und weltlicher Lyrik, am liebsten, manchmal unfreiwillig komisch, über Sturm, Wellen und Seemannstod, in zunehmendem Hang zu „Saufereien“ – für die fromme Gemeinde eine bedenkliche Sünde – und in altmodisch keuscher Werbung um die unerreichbare Predigertochter Hannelore Maschkat. Erst ein paar Wochen vor Kriegsbeginn finden Kunchen und Hannchen dann wenigstens für eine Nacht zueinander, womöglich weiterhin keusch, wenn auch ganz dicht am Abgrund „der Wolllust und des Bösen“.

An diesen biografischen Bericht mit den Leitthemen Heiland, Hannchen und Hitler lagern sich zwanglos Milieu- und Mentalitätsstudien an. Sie bilden Kapitelteile oder sogar eigene Kapitel und Kapitelfolgen. Sie stellen Kontexte bereit. Und immer wieder verbinden sie historische Exaktheit mit entlarvender und zugleich rührender Komik. Sie handeln von Schule und Lehrern, die Kuno nur bis zur ‚mittleren Reife‘ aushält, als nationalen Ideologieproduzenten, vor allem im Geschichtsunterricht. Sie handeln von Jugendorganisationen, die Kuno ‚erfassen‘: die Baptisten mit ihren Freizeiten, der CVJM und dessen von Kuno und seinem Freund Manfred angeschwärmter Funktionär Gustav Adolf Gedat, Baldur von Schirachs Hitlerjugend, versteht sich, sowie der für Kunchen verdammt harte ‚Reichsarbeitsdienst‘ auf dem Lande („Schipp Schipp – Hurra!“). Sie handeln, ausführlich bis anstrengend, von Lage, Denkmustern und Lebensformen der Baptisten in Königsberg, Ostpreußen und im Nazi-Reich. (Nebenbei: Wie Ostpreußen damals die meisten Baptistengemeinden, so hatte Königsberg von allen deutschen Großstädten prozentual die meisten Baptisten – übrigens eine durchaus achtenswerte protestantische freikirchliche Gruppe. In Deutschland eher provinziell, hat sie in Amerika nicht nur Billy Graham, sondern auch Martin Luther King und Jesse Jackson sowie viele Präsidenten von Lincoln bis Clinton hervorgebracht.). Die berühmte ostpreußische Landschaft – Samland, Kurische Nehrung, Masuren, Ermland – wird nur sparsam eingeblendet und dann immer mit ihren ‚vaterländischen‘ Konnotationen: altpreußische Göttereichen, Soldatenfriedhöfe, „polnische Wirtschaft“.

Die Form, in der Kunos Geschichte präsentiert wird, ist die eines dokumentarisch-biografischen Berichts. Denn es sind, wofür viele Indizien sprechen, reale Dokumente, Aufzeichnungen seines eigenen Vaters, die Kelletat mit dokumentarischer Absicht benutzt und bearbeitet hat. Die Bearbeitung und Präsentation folgt somit der Intention, diese Dokumente so unmanipuliert wie möglich für sich selbst sprechen zu lassen. Dennoch nennt sich das Ganze auf der Titelseite mit Recht Roman: Es ist ein ziemlich dickes Prosabuch, das sich einige, wenn auch sehr kontrollierte ‚dichterische Freiheit‘ bei der ‚Inszenierung‘ des Materials erlaubt. So wird z. B. Treitschkes berühmtes Buch „Das deutsche Ordensland Preußen“, mit aktuellen Anreicherungen, versteht sich, als Kunos Geschichtsunterricht präsentiert. Ähnlich dürfte der Autor auch andere gedruckte Quellen ‚oralisiert‘ haben, darunter Baptisten-Blättchen wie „Wahrheitszeuge“ oder „Jungbrunnen“. Nach solchen klingt etwa das geradezu satirisch-komisch inszenierte Streitgespräch zwischen Kunos Vater und dessen Bruder Arthur: Sie streiten über die Fragen, in welchem geistlichen Sinne die Zeichen der Zeit zu deuten und ob Hitler der Antichrist sei oder der gottgesandte Retter vor den Juden, dem „verworfenen Semitenvolk“. Auch Prediger Maschkats hinterhältige Hauspredigt über den falschen Bräutigam könnte solche Quellen haben.Einmal birgt ein verstecktes Zitatspiel sogar ein echtes Wunder: Kuno lauscht den „narkotischen“ Predigten eines gewissen Krummacher, deren Druckversion schon der alte Goethe gelesen und ironisch kritisiert hatte.

Zur Erzählform und -situation: Ich-Erzähler ist der Sohn, Sotter genannt. Er hat von seinem relativ früh verstorbenen Vater eine schwarze Holzkiste voller Tagebücher geerbt, die über zwei Jahrzehnte gehen. Diesen Aufzeichnungen Kunos hat er sich erst spät zugewendet, ein Vierteljahrhundert nach dessen Tod. Nun studiert er sie und, als leidenschaftlicher und beruflicher „Wörtermensch“, der er ist, erzählt er sie nach. Dieses Erzählen folgt strikt der Maxime, über seinen Vater nicht zu „urteilen ohne zu verstehen“. Das Ergebnis ist das Buch „Von Ihm zu ihm“. Es ist durchgehend ‚zweistimmig‘ komponiert: Die Stimme Sotters präsentiert, referiert, begleitet und kommentiert die Stimme Kunos. Diese bildet sogar die Hauptstimme. Das biografische Objekt ist als Ko-Subjekt im Text präsent. Das eröffnet dem Leser einen Freiraum zu eigenem, vom Vermittler Sotter unabhängigen Verstehen und Urteilen.

Durch Zusatzmaterial und -stimmen kommt eine beachtliche Vielstimmigkeit samt entsprechenden humoristischen Effekten, wie sie Bachtin beschrieben hat, in die Komposition: Da sind eingebettete Nebenstimmen wie Kunos älterer Bruder Albert, ein „Stefan-George-Jüngling“, und Nebenerzähler wie Tante Mieke, die ein Stück ostpreußischer Sozialgeschichte als ihre Jugendzeit ebenso markant wie rührend vergegenwärtigt. Da sind längere Dokumentarberichte, unter anderem über Hitlerreden, sowie viele eingestreute kurze Zitate als symptomatische Zeitzeugnisse. Da sind Ansätze von gezielten ‚Gegengeschichten‘. Dazu gehört zum Beispiel die Geschichte der Juden Königsbergs, über die Kuno kein Wort gesagt und geschrieben hat. Dazu gehört die Geschichte Katrins, der jüdischen Heldin eines Antikriegsromans von 1930, die den Leser Kuno dennoch fasziniert hat. Und dazu gehört auch die Geschichte des Hitler-Attentäters Georg Elser. (Im Text heißt er fälschlich Elster.) Kuno bezeichnet ihn 1939 ebenso als gemeinen Vaterlandsverräter wie später, in den 1970er-Jahren, den Willy Brandt mit seinen Ostverträgen. (Jetzt gerade ist in der Berliner Wilhelmstraße auf zähes Betreiben Rolf Hochhuths ein Denkmal für Elser errichtet worden; Peter Paul Zahl, der über ihn ein Stück geschrieben hat, das Peymann 1981 in Bochum inszenierte, ist Anfang dieses Jahres gestorben.)

Was die Erzählsprache betrifft: Im Rahmen der Vielstimmigkeit lässt sich eine leise Stimme vernehmen, die des Autor-Erzählers: diskret, behutsam, historisch exakt, sanft ironisch. Ganz selten einmal schlägt ein Anachronismus durch: Wörter wie „postantik“ oder „Aktanten“ gehören wohl kaum zur Königsberger Schulsprache von 1935/36, eher zur Gommersbacher Hochschulsprache von heute. Was den erzählten Inhalt betrifft, so wäre vielleicht in einer Hinsicht ein Defizit zu beklagen: zu viel Sekten-, zu wenig Seelengeschichte. Genauer: Zu wenig ausgelotet erscheint mir Kunos auffälliges ‚bipolares Syndrom‘, sein Umschlagen von himmelhoch jauchzend in zu Tode betrübt, sein Zerrissensein zwischen rigider, ritualisierter Christlichkeit und taten-, weltfreudiger und -hungriger Jugendlichkeit, das drogenhafte Dichten, die auffällig frühe Zuflucht zum Alkohol. Auch: Gab es da, abgesehen von der typischen Leseliste mit Sudermann und Miegel, Löns und Flex, Hans Grimm und Dwinger, Ernst Wiechert („Hirtennovelle“) und August Winnig („Gerdauen ist schöner“), keinerlei Bildungsangebote außerhalb von Pietismus und Patriotismus? Königsberg als geistige Lebensform, Bürgerlichkeit als machtgeschützte Innerlichkeit – hatte das alles 1934 schon abgedankt? Kuno-perspektivisch ist das gewiss korrekt, aber hätte da die Sotter-Perspektive den Blick nicht ein wenig erweitern können? (Es müsste natürlich nicht gleich, zeitgerecht, das Königsberg von Max Fürst oder, anachronistisch, das Ostpreußen von Bobrowski und Manfred Peter Hein beschworen werden, dem das Buch mitgewidmet ist.)

„Von Ihm zu ihm“ ist ein beachtlicher dokumentarischer Roman. Als kulturgeschichtliches Ostpreußenbuch ist er alles andere als eine nostalgisch raunende Beschwörung der ,kalten Heimat‘. Mit seiner Dichte und Komplexität ist er weitaus gehaltvoller als etwa das Vater-Buch „Eine nie vergessene Geschichte“ von Jan Koneffke, dessen flache Fadheit mit Hilfe von ein paar Versatzstücken ein Irgendwo als Pommern ausgibt. Andreas F. Kelletat hat sich mit kleineren Prosabüchern („Kevin lernt Dolmetschen“, „Molscher Pfirsich“) für dieses Vater-Buch fit gemacht und dabei eine ganz eigene Erzählkunst dokumentarischer Gewissenhaftigkeit und sanfter Ironie entfaltet, die unbestechliche Kritik mit liebevoller Annäherung an Allzumenschliches verbindet. Es gibt Grund, gespannt zu sein auf die weitere Geschichte Kunos, seine „Heldenjahre“ als Nazi-Soldat und seine Nachkriegsjahre als Familienvater in Hamburg und im Rheinland.

Titelbild

Andreas F. Kelletat: Von Ihm zu ihm. Eine Jugend in Königsberg.
Queich-Verlag e.K., Berlin 2011.
390 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783939207078

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